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Berge und Täler - eine Landschaft
Gina, sechs Jahre alt. Ein zierliches Mädchen, mit kurzen, glatten Haaren, die immer seitlich etwas abstanden, kam in die Schule. - Viele Kinder in einem einzigen Raum. Das Klassenzimmer war nicht geheizt. Gina fror jedoch nicht im geringsten, denn die Anstrengung der Arbeit trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Mindestens zwanzig Gleichgesinnte bevölkerten mit ihr das Zimmer. An der Tafel stand die Lehrerin, eine blonde, eine hübsche, jedoch dennoch sehr strenge Frau. Einen Taktstock hielt sie in der Hand, als wolle sie etwas dirigieren, was sie im Grunde genommen auch tat. Eine große Anzahl Lernwilliger saß hinter braunen, schon abgenutzten Bänken mit eingebautem, etwas schrägem Tisch. Ganz oben waren Vertiefungen angebracht, in die man seine Schreibutensilien legen konnte. Gina studierte eifrig die Gemälde auf dem Pult, an dem sie saß.
Eine Schiefertafel musste Gina gleich am ersten Tag mitbringen, dazu einen Griffel und einen Schwamm mit Dose. Ebenfalls einen Frotteelappen zum Trocknen. Sie gab sich viel Mühe, diese fremden Zeichen an der Tafel zu entziffern, die die Lehrerin schwungvoll vorzeichnete. - Eine Zeichenkunst, das wird es wohl sein, ging es ihr durch den Kopf. Ein A, ein B und dann noch ein C kunstvoll gestalten, erklärte die Lehrerin. Schön platziert, in Reih und Glied, vollendet bis zum letzten Millimeter der roten Linie auf der Tafel. Das erste A entsprach einem Hausdach, das jedoch sehr windschief in der Landschaft hing, das zweite gestaltete sich noch dramatischer - es wechselte die Richtung und stand kampfbereit dem ersten entgegen. Auch die quergestellte Linie konnte dem Gefecht kein Ende setzen - einem Krieg auf der Tafel!
Die Handflächen klebten vor Schweiß, die Finger rutschten auf dem glatten Stiel Zentimeter für Zentimeter, schneller und immer schneller - ähnlich einer Schlittenfahrt, rasant talwärts. Schrille Töne erklangen. Die Nase berührte die Schreibfläche, die Arme breiteten sich aus. Abheben würde sie gerne - weg aus diesem Martyrium, das sie durchzustehen hatte.
Neben ihr saß ein Mädchen. Sie hatte lange braune Zöpfe, die an den Enden mit braunen Klemmen zusammengehalten wurden. Wenn Gina einmal kurz zu ihr hinübersah, grinste sie jedes Mal und zeigte dabei lückenhafte Zähne in der oberen Reihe. „Wie heißt Du denn?“, fragte das Mädchen einmal unvermittelt, während sie die erste Zeile vollendet hatte. Gina sah sie ängstlich an, denn ihr gefiel das Mädchen nicht. Es war fremd. Instinktiv entwickelte sie eine Ablehnung gegen sie und wie zum Beweis dafür, rückte sie ein wenig mehr nach links. Das Mädchen schaute verwundert und rückte ihr nach. Gina fühlte sich bedrängt, sagte aber nichts, sondern vertiefte sich weiter in ihre Wellenlinien, die zu Bergen mutierten, in ihrem Auf und Ab keine Vorstellung von dem in ihr aufkeimen ließ, welches Resultat es zum Schluss bringen sollte. Zwar hörte sie die Lehrerin vorne an der Tafel sprechen - laut und deutlich. „Jetzt, Kinder, schreibt an A und noch ein A und noch eins. Wenn ihr die Zeile vollgeschrieben habt, dann sagt es mir und ich schaue mir an, wie es geworden ist.“
Man hörte schniefen, ein paar Jungen auf der anderen Seite fingen an zu husten. Die Mädchen waren still. Ginas Nachbarin rückte erneut ein Stück näher an sie heran. Sie schien es zu reizen, dass sie nichts sagte, derweil Gina diese eine Zeile bearbeitete. Die erste auf ihrer Tafel. Eine rote Linie prägte sich ihr ein, die sie mehr beachtete, als die Schwünge und Auf-und-Ab-Striche ihrer Zeichnungen, die wohl Buchstaben sein sollten, wie die Lehrerin behauptete. Nein, für sie, Gina, glichen sie eher Kampffiguren, die sich schwer bewaffnet nicht nur auf der Schreibfläche quer stellten; auch in ihrem Kopf standen sie Spalier, dicht an dicht, aufgereiht nebeneinander.
Ein Nuscheln ging durch den Raum. Gina fühlte sich im Mittelpunkt des Geschehens. Alle starrten sie an. Als sie den Kopf hob, stand die Lehrerin vor ihr, den Taktstock in der Hand. Erschrocken, dass sie vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte, ließ Gina den Griffel fallen, der klappernd auf den Boden fiel. Die Lehrerin schaute auf Ginas Schreibkunst - weiß prangten bizarre Figuren, wirr durcheinandergewirbelt - Berge und Täler landschaftlich gestaltet, jedoch verunstaltet - auf schwarzem Untergrund. Weiß auf schwarz, rot unterstrichen, durch die Linie. Für Gina wirkte es wie eine Unterstreichung ihrer Fehlleistung.
Die blonden Locken der Lehrerin, die Fräulein Summ hieß, wippten auf und ab, als sie den Taktstock mit einem lauten Knall direkt neben Gina auf ihr Pult niedersaußen ließ. Ihre Banknachbarin grinste hämisch, und zeigte dabei ihre lückenhaften Vorderzähne, was Gina frösteln ließ. Wie ein Ungeheuer wirkte es auf sie, das sie bestimmt trotz der fehlenden Beißeigenschaft in Abgründe hinabreißen würde, dachte sie. Der niedergesauste schmale Stock Fräulein Summ‘s zerbrach in viele Einzelteile. Die Splitter verteilten sich auf ihrem Pult, dem Boden und einige auf dem braunen Schopf des Mädchens, das vor ihr saß.
„Gina“, sagte die Lehrerin mit gerunzelter Stirn“, währenddessen sich ihre Augen zu Schlitzen zusammenzogen, „träume nicht, sondern schreibe diese drei Buchstaben ab. Du kannst das, ich weiß es!“
Gina schaute zu ihr hinauf, die Augen erschrocken aufgerissen; einige Tränen lösten sich und rannen unbeabsichtigt ihre Wangen abwärts. Hinab wie diese Täler, die sie versuchte, in Bildern darzustellen, ähnlich einer Landschaft, schön beschienen von der Sonne - warm und leuchtend. Idyllisch umrahmt von Blattwerk - Büschen und Bäumen. Lebendig gestaltet auf der Tafel. Die einzelnen Tropfen entwickelten sich zu einem rauschenden Bach. Alle Blicke richteten sich auf sie - sie, Gina, die nicht auszudrücken vermochte, wie diese Buchstaben in ihrem Kopf zu einem Krieg ohne Zeiten wurden. Ein Krieg, der für sie die Niederlage bedeutete.
Bänke fielen um, es klapperte und schepperte. Ihre Klassenkameraden umringten sie. Fräulein Summ, war derart aufgebracht, dass sie dies nicht registrierte. Gina verstand die Reaktion der Lehrerin nicht. Auch das seltsame Gebaren der anderen Schüler. Sie konnte sich nicht einfügen ins System, einordnen in eine Gesellschaft - nicht sein wie alle anderen. Umringt von gaffenden Kindern, einer taktstockschwingenden Lehrerin, die zu Beginn sehr freundlich wirkte, sich nun zu einem Monster entwickelte hatte, sie bedrohte und mit bösen Blicken traktierte, saß sie da.
Gina wollte doch nur ein wenig träumen. Warum durfte sie es nicht in der Schule? Das war ihr unverständlich. Sie träumte von Freiheit, von innerer Freiheit. Eine Freiheit, die keinen Zwängen unterworfen war. Sie war allein mit diesen Träumen, niemand verstand es. Zwar erzählte sie es einmal ihrem Vater - eine Mutter hatte sie nicht mehr, sie war schon gestorben; Gina konnte sich an sie nicht mehr erinnern; aber ihr Vater - ein großer, kräftiger Mann mit einem runden Gesicht und wenig dunklen Haaren auf dem Kopf - lachte nur darüber. Den einzigen Kommentar, den er zu ihren Träumen abgab, war der, dass sie raus solle zum Spielen. Spielen mit den anderen, die sich lärmend gebärdeten, was Gina nicht mochte. Viel lieber saß sie allein da, schaute vor sich hin und träumte von einer hellen bunten Welt, in der es nur Tiere gab. Katzen liefen darin herum, Hasen hoppelten vorbei. Gina lief ihnen nach, sprach mit ihnen und sie kamen auf sie zu. Dann spielten sie Fangen. - Diese Träume fand ihr Vater dumm; konnte sich damit nicht anfreunden. Sie solle nicht so viel träumen und herumspinnen, wie er es nannte.
Als sie in die Schule gehen sollte, brach für Gina eine Welt zusammen. Diese vielen lärmenden Kinder waren für sie eine Bedrohung. Feindseligkeit ging von ihnen aus, so empfand es Gina, die oft versuchte, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Ein freundliches Lächeln ihrerseits wurde sofort mit einem hämischen Grinsen der anderen erwidert oder aber sie schlugen einfach in ihr Gesicht. Nach einem Warum brauchte Gina nicht zu fragen, denn dieses wurde, noch bevor sie es aussprach, abrupt beendet. Eine weitere Ohrfeige war die Antwort. Sie verstand diese Reaktionen nicht und zog sich daher immer mehr in diese Traumwelt der bunten Farben und fröhlich spielenden Hasen und Katzen zurück. Eine Welt, in die sie irgendwann versank für immer.
Auch Fräulein Summ konnte sich die Verinnerlichung von Gina nicht erklären. Ihr Vater grinste nur. Eine innere Traurigkeit sah niemand. Ihre Mitschüler wollten durch dieses Schlagen und aggressive Verhalten das Öffnen ihres Selbst auslösen, aber das Resulat war das genaue Gegenteil. Eine Welt, die sie nicht verstand. Eine Welt, die sie nicht verstehen wollte - beiderseits.
So zog sich dieses erste Schuljahr in die Länge. Im Sommer, als draußen die Sonne schien - ähnlich ihrer Traumwelt -, gab es ein weißes Blatt, darauf stand, so wurde ihr vorgelesen, dass diese Berge und Täler leider nicht zu Landschaften geformt werden konnten. Zumindest Gina wurde nicht von dieser Helligkeit erleuchtet. „Ein Neubeginn im zweiten Anlauf bringt vielleicht eine Besserung“, meinte noch die Lehrerin, während der Vater die Schultern hängen ließ und mit ihr nach Hause trottete, als er sie von der Schule abholte.
Gina - in ihrer Welt gefangen - schaffte auch den zweiten Versuch nicht. Einsam sitzt sie heute da. Hasen und Katzen sind ihre Freunde, mit ihnen erzählt sie leidenschaftlich. Von ihnen wird sie verstanden. Freudig malt sie ihnen Berge und Täler auf ein weißes Blatt Papier, nicht wissend, dass sie nun das Schreiben beherrscht. Ein Schreiben auf ihre eigene Art. Ein Schreiben, das nur sie versteht und die Tiere, denen sie es zeigt.