Bericht aus einer sieben Meter langen Einraumwohnung
Klau-stro-pho-bie- ach, wissen Sie, ich habe solche schwer verständlichen Fremdwörter noch nie geliebt, ich bemühe mich erst gar nicht, dahinter zukommen.
Mein Wirt verwendet bei passender Gelegenheit ein ähnliches Wort, er lässt verlauten, dass er sich jetzt in Klausur begibt, also: begeben möchte, würde.... ich muss dazu sagen, dass er Student ist. Da lebt man meistens im Konjunktiv (schon wieder ein Fremdwort, aber ich kenne es!) oder man hat nicht richtig gelebt.
Er will also in Klausur gehen und etwas arbeiten, soviel steckt dahinter, er ruft aber fünf Minuten später seine guten Freunde an, auf ein Bier. Und aus der Arbeit wird nichts.
Normalerweise.
Aber ein Bier, das kommt mir auch recht. Dass man nur nicht zu dick davon wird! Innenquetschungen!
Dann gibt es noch eine andere Art von Klausur, die hat man bestanden - oder nicht.
Eher nicht. Wenn er so weiter herumfaulenzt.
Das wird nichts.
Das erzeugt dann für kurze Zeit ein wenig Panik und mir geht es dabei auch nicht gut. Das bringt alles durcheinander, säuert heftig, gast vielleicht.
Setzt mir oben ziemlich zu. Meine allerwichtigste, meine Hauptbeschäftigung wird unterbrochen, bloß weil er so eine Art innerlichen Angstschweiß verbreitet.
Ich finde es wirklich besser, wenn er seine Klausuren besteht.
Dann muss er auch nicht so oft auf die Toilette, was regelmäßig mit einer gewissen Gefahr verbunden ist, allerdings auch mit großen Vorteilen. Zuviel Druck und nicht aufgepasst, da kann leicht etwas passieren.
Er studiert übrigens Jura.
Nein, nicht diese Gesteinsschicht in der Nähe der Kreidezeit. Das mit den Sauriern und so. Wäre auch ein hartes Studium, hahaha! (Sie brauchen nicht zu lachen, übrigens! Machen Sie doch, was Sie wollen!)
Mir ist auch nicht aufgefallen, dass mein Student hämmern würde oder dass er Steine sammelt.
Vielleicht kann ich das auch schlecht erkennen, weil ich eigentlich nichts sehe. Aber Steine sind schwer, ich weiß es genau, denn der Wirt meiner Eltern, weit über sechzig, hatte drei ganz ausgewachsene Blasensteine, so groß und hart wie Zierkiesel für einen Kaktustopf. Für einen großen, einen Schwiegermutterkaktustopf. Aber rauer, gerölliger.
Und meinen Eltern hat es überhaupt nichts ausgemacht, aber das ist nichts besonderes.
Der alte Wirt kam kaum noch zu Potte, also auf den Topf und sie verpassten ihm einen Katheder, wenn Sie das interessiert, das ist schon wieder so ein Fremdwort und es ist ganz mir unklar.
Denn der Student sagte einmal, früher, in alten Zeiten, als es noch keine Computer gab, hätte der Lehrkörper vor dem Katheder gestanden, also vor einem Haufen Blasensteinen und das können ja nur Urologen (widerliches Fremdwort, aber immer noch besser als Fachmann für Blasensachen) gewesen sein, wer interessiert sich sonst schon dafür!
Dem alten Wirt hat der Katheder jedenfalls Erleichterung gebracht, aber nicht lange, denn die Steine gingen zwar nicht so richtig weg davon, aber irgendwie verkrümelten sie sich oder er starb oder ich weiß es nicht genau.... egal.
Wissen Sie, mein Gehirn ist nicht so groß, dass ich diesen ganzen Mist behalten könnte, den ich so mitkriege. Wozu auch, es passiert ja doch jeden Tag etwas anderes.
Aber oft passiert auch nur das gleiche wie sonst üblich.
Zurück zur Jura.
Die Ähnlichkeit mit den Steinen besteht darin, dass der ganze Jurakram genauso unerschütterlich sein soll wie die Erdschichten unter unseren Füßen - pardon, Ihren Füßen, ich habe nämlich keine.
Füße?
Pah, man wird höchstens von einer Biene oder Schlange gestochen, wenn man darauf tritt. Oder man latscht im Kriegsgebiet auf eine Mine und aus dem Fuß wird ein Flugkörper, samt zugehörigem Bein und Besitzer.
Und es ist niemand daran schuld, außer dem Minentreter eben, denn der hätte ja woanders spazieren gehen können.
Wer keine Gliedmaßen hat, vermisst sie nicht, wenn sie weg sind. Kann sie nicht verlieren. Das Leben ist weniger schmerzlich.
Ich verliere übrigens andauernd Glieder. Es macht mir nichts. SehenSie... trotzdem, so eine Mine... lieber nicht!
Es zieht mich auch nicht nach Höherem. Ich sehe zu, dass ich meine Kinder in die Welt setze und das ist die Hauptsache.
DAS IST DER SINN DES LEBENS.
Wenn sie dann in der Weltgeschichte umherschwirren und vielleicht ein kleines bisschen kriminell werden, wird sie der Student, der bis dahin ein erfolgreicher Rechtsanwalt geworden ist (falls er alle seine lästigen Klausuren besteht, natürlich!), auf jeden Fall rauspauken.
Deswegen studiert er ja so lange. Damit er auch alles gut lernt.
Ich würde ihm ja gerne helfen. Aber ich kann nicht lesen.
Ja, wie kriege ich ihn bloß zum Studieren, meiner Kinder wegen.
Eigentlich kann ich weiß Gott überhaupt nichts. Und meine Kinder werden auch nichts können. Lernen können sie schon gar nichts. Na, das ist wohl normal heute.
Aber wenn wir schon nichts können, so tun wir eben auch nichts.
Das muss man positiv (das einzige Fremdwort, dessen Bedeutung ich sicher weiß) sehen, denn viel Unglück gab es durch die Taten von unwissenden Idioten.
So einen gab es im Land des Studenten, also gut, in meinem Land, vor über sechzig Jahren. Man weiß, wie es endete.
Nichts tun wäre viel, viel besser gewesen.
Wenn dieser Hitler einige von uns beherbergt hätte, also, ich will ja meinen Mund (den ich übrigens nicht habe) nicht zu voll nehmen, alles wäre anders verlaufen. Wenn er zum Beispiel dort, wo auch der Führer zu Fuß hingeht, aus nahe liegenden Gründen sehr, sehr viel Zeit verbracht hätte, nein, nein, hätte verbringen müssen, mit unserer Einwirkung, versteht sich, es hätte ihn sicherlich geschwächt.
Und wir wären wegen Sabotage und Zersetzung vor diesen Volksgerichtshof gekommen, obwohl wir nicht eigentlich zum Volk gehört hätten.
Das ging vielen so. Die zum Volk gehörten.
Was rede ich da wieder für einen großen Unsinn, natürlich gehörten wir auch zum Volk. Langsam sollte ich mal anfangen, mir selber besser zuzuhören, bevor ich etwas sage.
Aber das geht auch nicht so einfach. Schweigen ist schwerer als Reden.
Ich appelliere (endgültig das letzte Fremdwort und ich kenne es auch nicht so genau) an Sie, tun Sie öfter mal nichts! Kucken Sie einfach bloß zu, es passiert schon immer etwas, es wird schon nicht langweilig.
Noch einen Tipp möchte ich Ihnen geben: wenn Sie auf dem besagten Orte sind und sich sehr erleichtert fühlen, also hinterher, dann werfen Sie doch einmal, bevor Sie die Taste für den Abtransport drücken, einen Blick hinter, also unter sich! Nur Mut!
Es könnte sein, dass da einiges herumzappelt, von dem man eigentlich annehmen sollte, dass es tot und verdaut ist.
So ist das nicht.
Das lebt und zwar mächtig.
Millionenfach.
Das sind meine Kinder.
Denn wir sind sehr fruchtbar.
Weil, nur wenige kommen durch. Sehr wenige.
Das ist an und für sich ziemlich traurig, weiß Gott.
Sie kennen das, wenn Sie gebildet sind, und das sind Sie, sonst würden Sie diese meine Ergüsse hier nicht lesen, sicher aus der Vergangenheit, aus alten Zeiten. Da bekam die Mutter jedes Jahr ein Kind oder zwei oder anderthalb und es starb auch ungefähr jedes Jahr ein Kind. So dass schließlich von dem ganzen Haufen am Ende bloss zwei oder drei übrigblieben.
Jetzt muss ich mich aber kurz einmal über mich selbst wundern, was ich so alles weiß, obwohl ich niemals auf einer Schule war. Ich hoffe, dass Sie das anerkennen. Ich bin auch in keiner Sekte, die den Schulbesuch der Kinder verhindert wegen gesellschaftlicher Verseuchung oder ähnlichem Hirnriss.
Wenn ich bloß wüsste, wie ich meinen faulen Studenten zum Staatsexamen bringen könnte! Er muss das unbedingt bestehen!
Er ist so schlaff, so antriebsarm, woher kommt das nur?
Irgendwie muss er krank sein, er isst den ganzen Tag ohne zuzunehmen, na ja, also mir geht es ja prima.
Ich zerbreche mir den Kopf, ja, einen Kopf habe ich!
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Zwei Wochen später.
Schreckliche Dinge sind passiert.
Mit letzter Kraft kann ich noch dieses mitteilen: Irgendjemand, vermutlich seine tüttelige Freundin, hat meinen Studenten zum Internisten geschickt (äußerst hässliches Fremdwort, dieses!) und der hat mich entdeckt.
Kompliment, Herr Doktor!
Und diese beiden nichtsnutzigen Gestalten, die fatale Freundin (sie soll häßlich sein, ehrgeizig und nie zuhören) und dieser vermaledeite alte Quacksalber Doktor Eisenbart mit seinen widerlichenChemikalien, sie haben meinem Studenten und Wirt eingeredet, dass seine Arbeitsschwäche, also, seine verdammte Faulheit, auf meine Anwesenheit zurückzuführen sei, ich sei alleine an allem schuld!
Nicht zu glauben. Wo ich mir doch Tag und Nacht Gedanken über seine Karriere mache und wie ein Vater, nein wie zwei Väter besorgt um ihn bin.
Sie haben beschlossen, man müsse mich austreiben. Als sei ich ein Dämon. Wie im Mittelalter. Und das von studierten Leuten!
Glücklicherweise konnte der Student, als er in der Praxis des teuflischen Exorzisten war, in einer plötzlichen Anwandlung von heftiger Diarrhö noch einige zehntausend meiner Kinder absetzen und ich gebe mich der schwachen Hoffnung hin, sie könnten sich vielleicht in der Praxis dieses teuflischen Doktors etwas ausbreiten, denn neue Wirte, zumal Kinder mit Verdauungsbeschwerden, kommen ja dort genug vorbei.
Und vielleicht wird von einer nachlässigen Putzfrau nicht jeden Tag die Brille gereinigt oder der Knopf von der Spülung oder der Türgriff der Toilette.
Denn auf diesen Orten sitzen jetzt viele, viele meiner Kinder und warten auf ihre neuen Wirte und solange es dort feucht ist und das ist es immer, wenn gewischt wird oder auch nicht, denn Patienten, zumal kleine, haben fast immer kleine klebrige schwitzige Finger, weil sie Angst haben vor dem Untersuchungsergebnis oder dem Doktor oder überhaupt, solange können meine Kinder auf die lieben kleinen Kranken warten, viele Monate, wenn es sein muss.
Und falls sie wirklich kriminell werden sollten, meine Kinder, so ist ja jetzt nach Meinung der beiden Experten durch mein Dahinscheiden sichergestellt, dass der Student eifrig lernen wird und Anwalt wird und meine Kinder eines Tages rauspauken wird, falls sie etwas angestellt haben sollten.
Insofern wird mein wirklich tragisches Opfer nicht ganz umsonst gewesen sein.