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Berlin, Alexanderplatz
„ ‚Das Land, von dem diese Geschichte erzählt, gibt es nicht.’
‚Was?!’
Ich sah verwirrt von meiner Lektüre auf und bemerkte, dass mir ein Mann gegenübersaß, der mich über meine Kaffeetasse hinweg ansah und auf mein Buch deutete. Ich hatte weder die Tür des Cafés quietschen gehört noch bemerkt, wie er sich an meinem Tisch niedergelassen hatte.
‚Dieses Land existiert nicht’, wiederholte er.‚Ich weiß es.’
Er hatte kurzes graubraunes Haar, trug unauffällige Kleidung – die Stadtuniform, wie man sie an vielen sieht. Jeans mit abgewetzten Knien, Schnürschuhe, ein Sweatshirt in irgendeiner undefinierbaren ausgewaschenen Farbe, ein Parka aus derbem grauen Stoff. Vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, aber das war nicht gut zu erkennen. Stoppelbart; tiefe Falten im Gesicht wie gravierte Runen.
‚Der Roman spielt hier’, erwiderte ich verwundert. ‚Hier, in Berlin. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass diese Stadt nicht existiert – wir sitzen mittendrin.’
Seine Augen waren dunkel; so dunkel, dass man die Pupillen kaum erkennen konnte, und irgendetwas stimmte mit ihnen nicht. Ich fragte mich, ob er verrückt war – in Berlin, und besonders an heruntergekommenen Orten wie diesem Café, traf man leicht auf Menschen, die irgendwie durch das Sieb der Gesellschaft hindurchgefallen waren – Träumer, Gebrochene, Bahnhofsberber, Ausreißer, Psychopathen, Junkies ... alle möglichen Außenseiter, die im Bauch der riesigen Stadt ein seltsames Leben führten, ihre bloße Existenz fast allen an der Oberfläche und vielen im Inneren unbekannt.
‚Es existiert nichts’, beharrte der Mann. ‚Nicht das Land. Nicht die Stadt. Nicht dieses Café.’
Er schien wirklich verrückt zu sein. Seine Stimme, kaum mehr als ein heiseres Wispern, kratzte mein Rückenmark entlang und ich fühlte mich, als würde das Innere meines Schädels mit grobem Sand ausgescheuert.
Er lehnte sich auf den Tisch, wodurch er mir unangenehm nah kam, und sah mich fest an. Irgendetwas an seinen Augen stimmte definitiv nicht. Sie wirkten wie die Fenster eines ausgebombten Hauses.
Wider Willen war ich fasziniert.‚Wie meinen Sie das?’
‚Nichts ist real.’ Er flüsterte es fast. ‚Nichts ist so, wie Sie es sehen. Diese Welt – und alle darin, auch Sie und ich – ist ein nicht existenter Film, ein Schleier über dem Nichts, der gar nicht da ist. Aber niemand von uns kann das wahrnehmen.’
Ein Schizophrener vielleicht; in der Wahnvorstellung gefangen, ein Auserwählter zu sein, der die Menschheit warnen muss ... Ich lächelte vor mich hin. Über Psychologiestudenten hieß es immer, sie fingen nach einer gewissen Zeit an, in allem Möglichen Symptome zu sehen. Keiner wusste, wie sehr das doch zutraf.
‚ ... mit den Spiegeln.’
‚Was?’ In meine Gedanken verstrickt hatte ich nicht wahrgenommen, dass der Mann weitergesprochen hatte.
‚Ich sagte, alles beginnt mit den Spiegeln’, wiederholte er leicht gereizt.
‚Was beginnt mit den Spiegeln?’ Mein Interesse war geweckt.
‚Alles, das hab ich doch gesagt. Aber eigentlich nicht mit den Spiegeln, sondern in ihnen.’
‚Wie meinen Sie das?’
‚Die Spiegel sind der Durchgang. In Spiegeln ist der Schleier, der wir sind, am dünnsten. Man kann auf die andere Seite sehen - wenn man weiß, wie. Und es gibt ein Hindernis.’
Jetzt wusste ich, was mit seinen Augen nicht stimmte. Sie reflektierten nicht den kleinsten Lichtstrahl; kein Glanz, kein Funkeln, Es lag nicht an einem körperlichen Defekt oder vielleicht an Schlafmangel oder Traurigkeit - es waren gewöhnliche Augen. Nur waren sie völlig matt. Nicht trocken – matt. Sie absorbierten das Licht einfach. Und ich konnte nicht aufhören, hineinzustarren.
Der von Bartstoppeln fast verdeckte Mund verkantete sich zu einem Grinsen. ‚Ich hatte recht damit, Sie anzusprechen. Sie haben es von selbst bemerkt.’
‚Was ist geschehen?’ Die Worte kratzten in meiner Kehle und versuchten verzweifelt, auf halbem Weg kehrtzumachen und zurückzukriechen.
‚Das ist das Hindernis, von dem ich gesprochen habe. Es ist, als hätte etwas nicht gewollt, dass wir das Nichts finden. Und das, junge Frau, ist wirklich sinnvoll. Denn wenn man erkennt, dass man nicht existiert, wenn man die völlige Abwesenheit von allem entdeckt, wissen Sie, was dann passiert?’ Ein bitteres Lachen schüttelte den mageren Körper. ‚Man wird verrückt, junge Frau. Das Nichts ... es jagt mich. Es lässt mich nicht mehr los, egal, was ich tue. Es frisst sich durch meinen Körper wie Säure, es frisst mich von innen auf, es höhlt mich aus ... ’
In seinen toten Augen flackerte etwas, und er schien für den Bruchteil einer Sekunde woanders zu sein.
‚Entschuldigung ...’ Ich tippte ihn zögerlich an.
Er sah mich an wie von unendlich weit her, sprach schleppend weiter. ‚Das Hindernis ... ’, er beugte sich vor und trank meinen Kaffee mit einem Schluck aus, ‚das Hindernis ... Haben Sie schon einmal einen weit entfernten Gegenstand in einem Spiegel betrachtet? In einem alten, trüben? Es verzerrt die Umrisse, manchmal werden die Farben anders, das Licht wird gebrochen, der Gegenstand erscheint verfremdet.
Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie würden dieses verzerrte Bild ebenfalls in einem alten angelaufenen Spiegel sehen. Es ist kaum noch das Original im Spiegelspiegelbild wiederzuerkennen, die Lichtbrechung ist so stark, dass alles noch einmal andere Farben und wirre, seltsame neue Linien bekommt, und wenn dieser Spiegel dazu noch gekrümmt ist ... ’ –er sah mich durchdringend an und riss ein Auge mit zwei Fingern auf – ‚gekrümmt wie eine menschliche Hornhaut – verstehen Sie?’
Das aufgerissene linke Auge, der verzerrte Mund, der starre Blick – ich schauderte und rutschte, so weit ich konnte, nach hinten.
Er sprach weiter, ließ die Hand wieder sinken, seine Stimme klang hohl, entfernt. ‚Dieser zweite Spiegel ... diese zweite Verzerrung ... das, das ist im menschlichen Auge. Sie haben es gesehen, Sie wissen, dass sich normalerweise Licht im Auge spiegelt, wenn Sie lange genug hinsehen, erkennen Sie bei anderen Leuten auch, dass man richtige Spiegelbilder erkennen kann ... das alles ist das Hindernis, der zweite Spiegel.’
Ich sah ihm wieder in die Augen; matt und, wie ich erst jetzt bemerkte, rot und entzündet. Tränendrüseninfektion wahrscheinlich.
‚Warum ... was ist mit Ihren Augen?’
Ich war gespannt auf seine Erklärung – so gut er seine Geschichte erzählt hatte und so real sie für ihn sein mochte – wie erklärte er diese Erkrankung?
‚Spiegel bestehen aus Glas und Metall. Aber sie sind mehr als das, sobald sie etwas reflektieren, sobald sich irgendetwas in irgendeiner Oberfläche spiegelt, wird es zum Portal, das sein eigenes Hindernis ist. Eine Tür, die ihren eigenen Riegel bildet sozusagen.’
‚Das habe ich verstanden, aber was hat das mit Ihrer Augeninfektion zu tun?!’ Ich war gereizt und zwang mich, ruhiger zu werden und tief zu atmen. Wenn man etwas aus einem Patienten herausbekommen wollte, musste man ruhig bleiben. Nicht werten, nicht urteilen, nicht drängen – sonst gingen sie in die Defensive und erzählten gar nichts mehr, sondern begannen einen Kampf mit ihrem Gegenüber. In diesem Fall mit mir. Und das war genau das, was ich nicht wollte.
‚Entschuldigen Sie bitte. Wie meinen Sie das genau?’
‚Erst mal ist das keine gewöhnliche Infektion, aber hören Sie zu. Wenn man in einen Spiegel schaut und weiß, wonach man sucht, dann muss man warten. Und versuchen, durch das Spiegelbild hindurchzusehen, egal, wie weh es tut. Dann wird man etwas finden, und dann – dann brennt dadurch auf irgendeine Weise die Schicht im Auge weg, die spiegelt. Und man sieht klarer, man sieht das Nichts. Immer noch nicht ganz, aber glauben Sie mir – dieses bisschen reicht ...’
Er stöhnte und griff sich an den Kopf. ‚Ich hab es betrunken rausgefunden. Hatte eine Sonnenbrille auf der Straße gefunden, sie aufgesetzt und mich in einer Schaufensterscheibe betrachtet. Ich war völlig dicht – so dicht, dass ich beschloss, rauszufinden, ob der Mann in der Scheibe was anderes tun würde als ich, wenn ich ihn lange genug anstarrte. Ich wusste, wonach ich suchte. Nach dem Unterschied.’
‚Und dann?’
‚Dann auf einmal -’ Er brach ab, stand auf, rannte hinaus auf die Straße, immer weiter weg.
‚Hey, warten Sie! Was ist denn los?’ Ich lief ihm hinterher, hörte aus weiter Ferne die Cafébesitzerin etwas über verfluchte Zechpreller keifen und darüber, dass die Ordentlichen die Schlimmsten seien, weil man es ihnen nicht ansähe – der graue Parka verlor sich viel zu schnell in der Menge, mit einer Geschwindigkeit, die für einen Menschen fast unmöglich zu halten war. Und er lief mitten durch die Masse, doch niemand schien ihn zu bemerken. Die Menschen selbst schienen nicht vorhanden zu sein, denn keiner machte ihm Platz und trotzdem stand ihm niemand im Weg, und obwohl er durch dichtes Gedränge lief, hielten sie ihn nicht auf ...
Erschöpft und verwirrt steuerte ich eine Bushaltestelle an und ließ mich auf einen der Metallsitze fallen. Ich versuchte diese seltsame Begegnung zu verdauen. Schließlich hatte ich früher schon Verrückte verschiedenster Art auf den Straßen, in Discos, in Bars und Cafés getroffen, mir ein Hobby daraus gemacht, sie aufzuspüren, ihnen ihre Geschichte zu entlocken, sie zu analysieren, ohne dass sie es merkten, und schließlich im Kopf Diagnosen zu stellen ...
Schweiß lief mir übers Gesicht; mechanisch klappte ich meinen Taschenspiegel auf, um mein Make-up zu überprüfen.
Mein eigenes Gesicht starrte zurück, bleich und verschwitzt und verängstigt, mit zerlaufener Wimperntusche.
Ich betrachtete meine Augen, scannte sie, versuchte in ihnen irgendein Anzeichen einer beginnenden Geistesstörung zu finden, damit ich wenigstens wusste, was mit mir los war.
Zaghaft lächelte ich mir zu; versuchte, mich aufzumuntern.
Mein Spiegelbild lächelte nicht zurück.
Es sah mir ernst in die Augen.
Und dann verschwand es, so plötzlich, als hätte man es ausgeknipst.
Starr vor Angst zwang ich mich den Kopf zu heben und hoffte, die Kaufhausfassade auf der anderen Straßenseite zu sehen.
Sie war weg.
Die Straße war weg.
Die Menschen verschwunden.
Ich befand mich in einem in alle möglichen Richtungen unendlich ausgedehnten Raum von einer Farbe, die man nicht anders als abwesend nennen konnte. Meine Umgebung, die Straße, die Häuser, waren als dünnes durchsichtiges Bild vor dieser ungeheuren Nichtexistenz zu erkennen.
Ich sah hinunter auf meine Hand, die den Spiegel hielt.
Der Spiegel war noch an derselben Stelle.
Die Hand war verschwunden.
Ich begriff nicht.
Dann schrie ich auf.
Der Spiegel fiel.
Und das letzte, was ich sah, bevor dieses wahnsinnige Brennen begann, war sein Fall. Wie er aufschlug – auf dem nicht existenten Boden aufschlug – und das Spiegelglas beim Aufprall wie Wasser aus der Fassung spritzte.“
Die junge Frau unter der Weltuhr zerrte schwach an dem schmutzigen Verband, der ihre Augen bedeckte – eine zu oft vergeblich versuchte Geste; halb Wut, halb Resignation.
„Ich sehe immer noch dieses Nichts. Hinter der Binde, hinter meinen Lidern, durch meine verbrannten Augen hindurch; es ist immer da. Es treibt mich um, es macht mich verrückt. Meine Augen brennen, mein Geist brennt, das Nichts hat mich verstümmelt. Flüssiges Metall in meinem Blut. Und das alles - es hört nicht auf. Es hört nie auf. Es hört nie auf. Es hört nie auf. Es hört nie auf ...“
Sie flüsterte heiser vor sich hin, längst nicht mehr an mich gerichtet. Eine sinnlose Träne sickerte unter dem Verband hervor, bahnte sich langsam ihren Weg über das schmerzverzerrte Gesicht. Sie lehnte sich gegen den Pfeiler der Weltuhr und begann zu schluchzen; tiefe verzweifelte Seufzer, die sie wie einen Grashalm im Sturm durchschüttelten, aber keine Tränen mehr.
Ich drückte ihr eine Münze in die Hand und ging leise davon. Ihr war offensichtlich nicht zu helfen. Aus dem Augenwinkel nahm ich noch beiläufig wahr, wie ein älterer Penner langsam auf sie zuging, kurz mit ihr sprach, ihr dann eine Hand auf die Schulter legte und sie wegführte.