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Bernhard malt
Sobald das Tageslicht durch sein Atelier flutete, begann Bernhard zu malen. Mittags nahm er nur einen kleinen Imbiss zu sich und kehrte schnell wieder an seine Staffelei zurück. Meistens gestaltete er Landschaften mit undurchdringlichen Wäldern in allen denkbaren Grüntönen, unterbrochen von bizarr anmutenden Schluchten, in denen Wasserfälle sprühten. Kolibris und Papageien schillerten in allen Farben durch das wuchernde Grün. In dieses überbordende Leben setzte er auch ein kleines Dorf, einige Hütten und Felder, denen der Betrachter ansah, dass sie mühsam dem Dschungel abgerungen worden waren. Zwischen den kleinen blattgedeckten Hütten wuselten Scharen braun- oder rothäutiger Familien. Und an einer eher versteckten Stelle, im klaren Wasser eines kleinen Waldsees badend oder an einer knorrigen Liane schaukelnd, malte er eines der Mädchen seiner Tagträume, schlank und unbekleidet, langhaarig bis über die Hüften hinaus, mit knackigem Po und kleinen Brüsten, die unter der Flut tiefschwarzer oder feuerroter Haare hervorblitzten.
Bernhard malte sehr naturgetreu. Um alle Einzelheiten auf seine Bilder bannen zu können, waren ihre Ausmaße selbst für weiträumige Villen zu großformatig. Er verschwendete aber kaum einen Gedanken an die Zukunft seiner Bilder. Sobald er ein Bild fertiggestellt hatte, wandte er sich dem Entwurf für das kommende Bild zu. Das vorherige Bild hatte er sich von der Seele gemalt. So entschwand es auch aus seinem Gedächtnis und stand unbeachtet in einer Ecke des Ateliers.
Bernhard bewohnte mit seiner alten Tante, die ihn versorgte, einen aufgegebenen Bauernhof mitten in der Heide. Sein Atelier hatte er im Kuhstall eingerichtet, nachdem bei einen Brand die Scheune vernichtet worden war und die Gelder der Feuerkasse ein großzügiges Glasdach auf dem Stall ermöglicht hatten. Nach mehreren Besuchen war auch die Polizei aus der Kreisstadt zu der Überzeugung gekommen, dass Bernhard kein Hasch anbauen wollte, sondern einfach nur ein spinnerter Künstler war.
Als einziges Kind seiner Eltern konnte er ihr erfreuliches Erbe nach seinem Belieben verbrauchen. Und weil er seine Phantasien und Wünsche im Malen auslebte, nahm er die flache, ja geradezu eintönige und zu manchen Zeiten gar einfarbige Heidelandschaft um seinen Hof herum kaum wahr, sondern saß den ganzen Tag im Atelier und produzierte Bilder. Die Ecke mit den abgearbeiteten Bildern quoll aber nicht über, denn immer zum Winterende kam ein alter Schulfreund, der sich im Tiefbau eine gutgehende Firma aufgebaut hatte, vorbei, um die neuesten Werke Bernhards aufzukaufen. Sie wurden mit einer dichten Schicht durchsichtigem wetterfesten Lack besprüht und dann an den Absperrungen, mit denen der Schulfreund die Orte seines Tätigkeitsbereichs verbaute, aufgehängt. Die farbenfrohen und detailreichen Bilder konnten den Ärger mancher am Weiterkommen gehinderten Bürger tatsächlich besänftigen.
Nun könnte diese kleine Geschichte eigentlich zu Ende sein. Bernhards Lebensrhythmus floss, um nicht zu sagen plätscherte, gleichmäßig dahin. Vielleicht fühlte er sich in der Heide so wohl, weil sie ihm keine Anregungen bot. So konnte er sich unbeeinflusst von der Umgebung seine Phantasiewelten schaffen. Er las zwar aufmerksam die Zeitung, aber eigentlich nur aus Gewohnheit. Berichte vom Sterben der Regenwälder betrafen seinen Dschungel nicht. Selbst Horrormeldungen berührten ihn kaum. Vielmehr bestärkten sie ihn, sein ruhiges Leben als Einsiedler weiterzuführen.
Aber dann sah er bei einem seiner regelmäßigen vierteljährlichen Einkäufe im Künstlerfachgeschäft der Kreisstadt ein Vorlagenheft, auf dessen Titelseite eine asiatische Schönheit aufgezeichnet war. Sie benötigte offensichtlich keine Kleidung, da die strategisch bedeutenden Stellen von einer Flut tiefschwarzer fast bis zu den Knien reichender Haare bedeckt waren. Bernhard blieb beinahe die Luft weg. Kaufen würde er das Heft gewiss nicht, aber das Bild hatte sich ihm tief eingebrannt und er verließ umgehend den Laden, ohne seinen Einkauf mitzunehmen. Der in die Jahre gekommene Ladeninhaber konnte ihn kaum einholen, denn Bernhard hatte auf dem Weg zu seinem Landrover ein ordentliches Tempo vorgelegt.
Zu Hause angekommen, malte Bernhard die Schöne sofort in sein Bild, das kurz vor der Fertigstellung stand. Seine Mädchen malte er immer von der Seite, so dass ihre wichtigen Attribute auch unter den langen Haaren deutlich zu erahnen waren. Aber die kleine Japanerin - sie schien ihm aus diesem ihm kaum bekannten Land zu stammen - malte er von vorne, wie sie ihm aus dem Heft heraus ins Auge gesprungen war. Sie stieg gerade aus dem grünblauen klaren Wasser eines kleinen Waldsees. Ein Sonnenstrahl drang durch eine Lücke im dichten Blätterdach und leuchtete die Szene aus. Wassertropfen perlten an den wenigen Hautpartien, die unter der Haarfülle noch zu erkennen waren, glitzernd herab.
Eigenartigerweise zeigte das Mädchen, als Bernhard es fertig gestaltet hatte, einen verschreckten, ja beinahe panischen Gesichtsausdruck. Ihr nach links gerichteter Blick schien Bernhard so realistisch, dass er unwillkürlich auch in diese Richtung schaute. Er hatte dort einen Urwaldriesen gemalt, von dem zahlreiche Lianen herabhingen. Nun aber sah auch Bernhard, dass eine der Lianen das Muster des Schlangenlederkleides seiner Mutter zeigte. Bernhard verwendete diese Vorlage sehr gerne für die Schlangen, die sich durch seine Urwälder schlängelten. Denn durch dieses auffallende, geradezu exotische Farbstellung fielen sie sofort ins Auge. Und eine als Liane getarnte und doch sofort erkennbare Schlange malte er, seit er einmal das Dschungelbuch als Zeichentrickfilm gesehen hatte, gerne in seine Urwälder.
Aber was sollte er nun mit dem Mädchen machen. Er konnte sie doch nicht so verschreckt stehen lassen. Sollte er die Schlange wegretuschieren? Was er einmal gemalt hatte, entfernte er ungern, denn ihm schien die Harmonie des Bildes dann gestört. Inzwischen war es nach der langen Fahrt in die Stadt schon Abend geworden und Bernhard beschloss, dieses Problem zu überschlafen.
Am nächsten Morgen erinnerte er sich deutlich, vom Dschungel geträumt zu haben. Seine Bilder waren noch nie in seinen eher traumlosen Nächten aufgetaucht. Auch von schönen Mädchen träumte er nachts selten, was er ein wenig bedauerte. Aber eine Traumszene dieser Nacht stand ihm deutlich vor Augen. Das Mädchen stieg aus dem See, die tropfnassen Haare schwangen bei ihren wiegenden Schritten hin und her und enthüllten für kurze Momente einen wunderschönen Busen. Dann sah sie die Schlange, die dicht vor ihr vom Baum herabglitt und öffnete den Mund zu einem lauten Schrei, der aber in den Geräuschen des Urwalds, die Bernhard erst jetzt wahrnahm, kaum zu hören war. Bernhard sprang aus seinem Versteck, von dem aus er die Schöne beäugt hatte, griff mit beiden Händen hinter den Kopf der Boa und zog an ihr wie an einem Glockenseil. Und schon kamen ihm einige Meter Schlange entgegen. Bernhard erwartete ein dumpfes Klatschen, aber das Knäuel schlug mit einem heftigen Klirren auf dem Waldboden auf. Bernhard erwachte und stieg vorsichtig über die Scherben der Wasserkaraffe, die er vom Nachttischchen gefegt hatte.
Mühsam fand Bernhard an diesem schönen Frühlingsmorgen zu seiner gewohnten Routine. Er saß ungewohnt lange am Frühstückstisch und seine Tante schaute schon besorgt, aber dann raffte er sich doch auf und setzte sich an die Staffelei. Er malte einen an Tarzan erinnernden Kraftprotz in sein Bild, der hinzusprang, um der Schlange den Garaus zu bereiten. Eine wirkliche Verbesserung schien ihm diese Ergänzung aber nicht zu sein und Bernhard malte an diesem Tag mangels Ideen nicht weiter. Er unternahm gegen alle seine Gewohnheiten einen ausgedehnten Spaziergang durch die nach langem Winterschlaf erwachende Heide mit ihrem flachen eintönigen Horizont und den wenigen Wacholdern, die ihm wie Ausrufungszeichen vorkamen. Nur konnte er die dazu gehörenden Sätze nicht erkennen.
In der Nacht träumte er den gleichen Traum. Tarzan schien sich verdrückt zu haben und so blieb Bernhard nichts anders übrig. Er legte wieder selber Hand an. Dabei schaute er auf seine dünnen bleichen Arme und wunderte sich, dass er die Schlange so mühelos vom Baum ziehen konnte. Sie klirrte diesmal allerdings nicht, aber sie klatschte auch nicht auf, sondern schien dem Geräusch nach zu platzen. Nach dem Erwachen sah Bernhard, dass der wohl mürbe gewordene Bettbezug in ganzer Länge zerrissen war.
Bernhard trödelte im Bad herum, saß noch länger als am vorigen Tag vor einer abkühlenden Tasse Kaffee am Frühstückstisch und sinnierte dann weiter vor dem Bild. Er konnte seine Gedanken drehen und wenden, ihm wurde immer deutlicher: Wenn er mit seiner kleinen japanischen Schönheit ein Abenteuer erleben wollte, musste er sich selber in das Bild malen und zwar so, wie er wirklich war, mit seinen hängenden Schultern, seiner Hühnerbrust und seinem kleinen Wohlstandsbäuchlein. Bleich, untrainiert, aber immerhin gut rasiert.
Sorgfältig übermalte er Tarzan, um sich selbst zu malen. Dazu musste er eine Weile mit zwei hohen Spiegeln experimentieren, bis er seine eigene Rückseite sehen konnte. Abmalen nach der Natur war ihm ungewohnt, deshalb gab es auch kein einziges Heidebild im Bauernhof. Aber noch mehr Überwindung kostete es ihn, sich zu entkleiden. Er war eher prüde erzogen und Nacktheit, jedenfalls seine männliche Nacktheit, erschien ihm sehr unpassend. Er war noch nie unbekleidet durch seine Wohnung gegangen. Schon beim Frühstück war er immer korrekt gekleidet und zum Malen zog er einen fleckenlosen Kittel über den Tagesanzug. Aber in seinen Überlegungen war ihm deutlich geworden, dass sein Bild nur dann stimmig würde, wenn er der kleinen Japanerin einen Kimono anmalte oder ihr so begegnete, wie sie sich ihm zeigte.
Als Bernhard das Bild endlich fertiggestellt hatte, war die Sonne bereits untergegangen und in dem Licht der Neonröhren wirkten die Farben so falsch, dass er gar nicht mehr hinschauen mochte. Nach einem leichten Abendessen ging er zu Bett, ohne vorher die Tageszeitung gelesen zu haben.
Am nächsten Morgen war nur noch das zerwühlte Bett Zeuge einer unruhigen Nacht. Bernhard war verschwunden und blieb unauffindbar. Sein letztes Bild wurde im Museum der Kreisstadt ausgestellt. Und manche Besucher, die seine Bilder von den Bauzäunen kannten, bedauerten es, dass sich auf diesem letzten Bild nicht eine unbekleidete Schönheit befand.