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- 03.07.2004
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Berthilde und der Doppel
"Herr Graf," schrie sie aus vollem Hals, während sie den sanft geschwungenen Weg zum Schloß hinauf hetzte. "Herr Graf," schrie sie wieder zwischen zwei keuchenden Atemzügen. Die beiden Wachen am Eingang überlegten, ob sie sich vor die offene Tür stellen sollten. Das Mädchen, das da auf sie zukam, war eindeutig Berthilde, die Tochter des Schmiedes. Sie war schon im heiratsfähigen Alter, aber immer noch so schlaksig wie ein Junge. Auch wenn es seit kurzem erste äußere Anzeichen gab, dass sie wohl doch kein Junge war, zeigte sie keinerlei Interesse an romantischen Abenteuern.
Sie wurde häufig für Botengänge eingesetzt, denn sie konnte schnell und lange laufen, sie war zuverlässig und verschwiegen und hielt nichts von ausgedehnten Nickerchen, wie der alte Büttel, der meistens im Gasthof zu finden war. Sie war auch sehr klug, was bei Mädchen gar nicht erwartet wurde, ja, sie war sogar schlau genug, ihre Intelligenz zu verheimlichen.
Die Wachen brauchten keine Entscheidung mehr zu treffen, denn Berthilde war inzwischen durch die Tür gehuscht und schlitterte auf dem blank gebohnerten Marmorfußboden aus vollem Lauf gegen die Tür zum Audienzsaal. Die hielt selbst den Ansturm ihres Fliegengewichtes nicht aus und stürzte mit ihr, einer ansehnlichen Menge Putz und einem lauten Krachen in den Saal.
Verdutzt sahen sie einander an, als der Qualm sich gelegt hatte: Berthilde, die sich fragte, wieso sie auf einem unbequemen Brett vor dem Grafen lag und Graf Ludogar, dem es nach fünfzehn Jahren friedvoller und tatkräftiger Herrschaft über sein kleines Land zum ersten Mal schlichtweg die Sprache verschlagen hatte.
Dann rappelte Berthilde sich auf, putzte sich verlegen ein wenig Kalkstaub von ihrer Jacke und verneigte sich: "Herr Graf, es ist etwas Unglaubliches geschehen."
"Das sehe ich, dieses Schloß scheint mir gar nicht so stabil, wie ich bisher dachte," entgegnete Ludogar und sah zweifelnd auf einen schwankenden Spiegel, der neben der Tür hing und noch unschlüssig schien, ob er auch zu Boden fallen sollte.
"Ihr müsst sofort zum Friedhof kommen."
"Auf den Friedhof?" Ludogar strich sich zweifelnd über seinen Bauch. Er war kein Freund von ausgedehnten Bewegungen und der Weg zum Friedhof musste zum Teil auf eigenen Füßen zurückgelegt werden, jedenfalls von den Lebenden. Und das Wort Friedhof erinnerte ihn zu sehr an Fragen, denen er sich in seinem vierunddreißigsten Lebensjahr noch nicht stellen wollte. 'Dieser Tag scheint sich gar nicht so heiter zu entwickeln' dachte er wehmütig an sein opulentes Frühstück zurück, als seine Welt noch in Ordnung gewesen war.
Aber der Staatsmann in Ludogar, der kurzfristig abgetaucht war, kam wieder hoch. Ludogar unterdrückte seine Zweifel und wies seine beiden Minister, die neben dem Thron standen, an: "Ihr geht sofort mit Berthilde zum Friedhof und erstattet mir umgehend Bericht." Mit einem leisen Seufzer lehnte er sich zurück und winkte dem Hofkoch. Eine kleine Zwischenmahlzeit war dringend angebracht.
"Aber der Doppel hat gesagt, ihr sollt gleich ohne Begleitung zu ihm kommen, " entgegnete Berthilde.
Nach einem fragenden Blick auf den Grafen ergriff der Innenminister das Wort: "Seine Hochwohlgeboren geruhen hier im Audienzsaal zu empfangen. Möge also der Doppel hier erscheinen und seine Aufwartung machen."
"Sehr schön gesagt," lobte der Graf seinen Minister, der vor Stolz leicht errötete.
"Sonst werden wir ihn eben gefangennehmen und vorführen," polterte jetzt der Kriegs- und Außenminister los, wie üblich, ohne vorher um Redeerlaubnis gebeten zu haben.
"Wenn es sein muss, werden wir dies wohl tun müssen," schwächte der Innenminister diplomatisch ab.
Ludogar aber war irritiert. Er schaute nur auf Berthilde. Sie stand nicht mehr in der üblichen devoten Haltung vor ihm, sondern hatte den Kopf erhoben und schaute gebannt auf irgendeine Stelle über dem Thron.
"Wohin guckt die Göre eigentlich," fragte sich Ludogar, der ihre intensiv blauen Augen noch nie bemerkt hatte, leicht verunsichert, drehte sich um, soweit das auf dem bequemen Thronsessel ging und sah auf die Rückwand des Audienzsaales. Aber da hing wie eh und je nur die Landesflagge mit ihren gelben und roten Streifen und dem schwarzen Doppeladler. Auf ihr Wappentier war die Grafschaft besonders stolz.
'Sollte etwa ... Das glaube ich nicht.' Ludogars Gedanken überschlugen sich beinahe und diese ungewohnte Aktivität bereitete ihm Unbehagen. Wo blieb eigentlich die Zwischenmahlzeit?
Vorsichtig drehte sich Ludogar wieder um und fragte Berthilde zögernd: "Wer ist denn der Doppel?"
"Na, der da natürlich," zeigte Berthilde auf die Landesflagge. Dabei öffnete sich ihre Jacke und Ludogar konnte deutlich erkennen, dass sie kein Laufbursche war. Die menschliche Anatomie hatte ihn bisher in der Praxis wenig interessiert, aber nun merkte er ungewohnte Regungen. Hilflos schaute er, wo der Hofkoch mit der Zwischenmahlzeit abblieb.
Der Innenminister, der ein heiteres Gemüt hatte und lieber Anekdoten erzählte, als Gesetze zu erlassen, konnte ein leises Kichern nicht verhindern. "Das ist doch nur eine Sage," fügte er entschuldigend hinzu.
"Ich werde die Schloßwache alarmieren. Raubvögel haben hier nichts zu suchen," beschloss der Außenkriegsminister und marschierte in Richtung des Loches, das einmal die Eingangstür gewesen war.
"Halt, stehenbleiben," befahl Ludogar und sein Minister blieb in Habachtstellung mit dem Rücken zum Thron stehen.
"Kommen Sie doch wieder her, lieber Kriegsaußenminister," seufzte Ludogar. "Ich muss Ihnen etwas vertrauliches mitteilen."
Sofort eilte der Minister zum Thron zurück und beide Minister beugten ihre Köpfe herunter um die geheimen Worte des Grafen gut zu hören. Schließlich bildeten sie das Geheimkabinett.
Berthilde setzte sich auf die Stufe des Thronpodestes, um auch alles mitzubekommen, aber so unauffällig, dass sie niemand bemerkte.
"Mein Vater hat mir mehrmals im Vertrauen erzählt, daß der Doppeladler immer erscheint, wenn die Grafschaft in Gefahr ist. Aber woher sollte sie uns drohen? Wir haben Friedensverträge mit allen Nachbarn abgeschlossen, die Ernte ist hervorragend, meine Untertanen sind zufrieden," Ludogar sah seine Minister fragend an.
Nach einer längeren Pause räusperte sich der Innenminister und wagte sich an das heiße Eisen, an dem er sich schon manches Mal verbrannt hatte. "Nun ja, es gibt da ja ein kleines Problem, also vielleicht wäre es doch an der Zeit, ähh, also, um es mal so zu sagen, vielleicht sollten euer Hochwohlgeboren doch einmal in Betracht ziehen, also sich darüber Gedanken machen, also," die Worte des Innenministers verklangen zu einem unhörbaren Flüstern.
"Was meint ihr denn, mein Lieber, ich verstehe euch gar nicht," beendete Ludogar das Schweigen und der Kriegsminister nickte zustimmend. In diesem Moment kam der Oberhofkoch mit zwei Küchenjungen und zwei adretten Serviererinnen, um die kleine Zwischenmahlzeit aufzutischen. Und da fiel es Ludogar wie Schuppen von den Augen.
"wollt ihr wieder damit anfangen, dass ich weniger essen und lieber heiraten und Söhne zeugen soll?" Ludogar wurde zornig. Dieses Thema mochte er gar nicht, da verging ihm jedes Mal der Appetit. Da ging er schon lieber auf den Friedhof und das tat er auch. Ohne ein weiteres Wort stürmte er aus dem Audienzsaal und rannte seine Wachen, die neugierig vor dem Loch standen, beinahe um.
Sprachlos und bewegungsunfähig schauten Wachen und Minister hinter ihm her, während Berthilde aus einer Seitentür ins Freie schlüpfte.
Zwei Stunden später kam Ludogar wieder in das Schloß zurück, sein Jackett hatte er ausgezogen, sein Rüschenhemd war mit Schweißflecken bedeckt, die Perücke verrutscht und die Schuhe völlig verstaubt. Aber Ludogar hielt sich gar nicht lange im Audienzsaal auf. "Ich bin heute nicht mehr zu sprechen. Räumt bloß dies Essen weg, mir ist der Appetit vergangen," ächzte er und zog sich in seine Privatgemächer zurück.
Die Minister sahen sich entsetzt an. "Was ist geschehen," fragte der Innenminister und dann drehten sich beide um und verließen das Schloß. Der Innenminister wies noch die Wachen an, Hoftischler und Maurer herbeizuholen, um das Loch zu verschließen, und dann eilten die beiden zum Friedhof. Aber dort fanden sie keinen Adler oder sonst irgendetwas ungewöhnliches. Nur Berthilde saß auf einer Bank am Grab ihrer Mutter und schien zu schlafen.
Was nun auf dem Friedhof geschehen war, erfuhren die beiden Minister nie. Aber es musste etwas sehr einschneidendes gewesen sein. Ludogar interessierte sich plötzlich für Themen, die er immer weit von sich gewiesen hatte. Er unternahm Ausflüge und sogar Spaziergänge, wobei er sich meistens von seinem an Stelle des Laufburschen frisch eingestellten persönlichen Laufmädchen begleiten ließ. Oft sah man die beiden, wie sie Fachbücher lasen oder Diskussionen um die rechte Staatskunst führten. Die Minister fragten sich, ob ihnen da vielleicht eine Konkurrenz entstünde, aber dann lächelte Berthilde sie so liebreizend an, dass sie diese Gedanken sofort wieder verwarfen und sich lieber Gedanken machten, welche Prinzessin sie dem Grafen empfehlen sollten.
Es wurde schließlich Herbst, der Winter kam ins Land, die Diskussionen zwischen Berthilde und Ludogar wurden intensiver und Berthilde begann plötzlich Kleider zu tragen. Auf dem Weihnachtsball erschien sie in einem wahren Traumkleid, das sehr offenherzig kundtat, dass sie nun wirklich eine erwachsene Frau geworden war. Aber so burschikos, wie sie mit dem Grafen umsprang, sahen die Minister in ihr keine ernsthafte Gefahr für ihre Heiratspläne, die zunehmend auf eine sanfte liebreizende Prinzessin zusteuerten, die leicht lispelte und deshalb wenig sprach.
Im Mai kam die Prinzessin zu Besuch und wurde gleich als Brautjungfer eingesetzt, als Ludogar rank und schlank wie ein Jüngling vor dem Altar stand und seinem Laufmädchen Berthilde angetraut wurde. Die Hochzeitspläne hatten die beiden Minister überrascht, ja sogar bestürzt, aber als die frischgetraute Braut sie umarmte und auf die Wangen küsste, weinten auch sie vor Rührung.
Die Prinzessin wurde erste Hofdame und heiratete nach einem Monat den Kriegsminister, der nicht im Traum gedacht hatte, einmal zu unterliegen, sich aber in seiner neuen Stellung sehr wohl fühlte. Und somit waren alle glücklich und zufrieden.