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Besaitet
Ich lebte damals mit meiner Familie in einer Mietwohnung in Kaliningrad, oder Königsberg wie es heute immer noch genannt wird. Ich war wohl etwa acht Jahre alt und verbrachte die meiste Zeit des Tages im Hof der großen U-förmigen Plattenbaus, in dem ich wohnte. Es gab dort viele Kinder. Sie waren in meinem Alter und die älteren hielten sich sowieso von uns fern. So spielten wir meist ungestört auf dem Spielplatz auf dem Hof.
Es gab dort etwas, das wir Sandkasten nannten. Obwohl das eher einfacher sandiger Boden war. Für mich aber war es genau dasselbe. Am liebsten mochte ich diesen Sandkasten. Ich schnappte mir alles womit sich graben lies und grub Löcher so tief ich konnte. Ich fand in der Zeit in der ich dort spielte mehrere Stromleitungen, eine Abwasserleitung und stieß für meinen Geschmack viel zu oft auf Wasser.
Trotzdem grub ich an diesem Tag wie immer ein Loch in den Boden. Ich war gut in Form. Inzwischen verschwand fast mein ganzer Körper in dem Loch. Ich war über und über mit Sand bedeckt. Ich spürte ihn auf und unter meiner Kleidung. Unter meinen Nägeln und in meinen Haaren.
Es war Sommer. Ein richtiger Sommer.
Kein ab-und-zu-Sonne und ab-und-zu-Regen Sommer.
Sondern brütende Hitze, über Tage und Wochen hinweg. Mit einer blendend hellen Sonne und einer Hitze, die den Teer auf den Straßen schmelzen ließ.
Mir machte sie nicht viel aus. In meinem Loch war es schattig und feucht. Ab und zu, wenn ich wieder eine Ladung Sand hoch schaufelte, blickte ich mich um. Ich war nicht allein. Zwei Kinder aus einem anderen Plattenbau waren auf meinem Spielplatz, sie waren lustig und ich hatte schon öfters mit ihnen gespielt, also ließ ich sie großzügig gewähren. Die Geschwister waren so groß, wie ich und gleichgroße Freunde musste man sich warm halten.
Man konnte ja nie wissen.
Alter und Status misst ein Achtjähriger an der Körpergröße und nicht am Geburtsdatum. Nach einiger Zeit des Schaufelns und Kratzens traf ich wieder auf Grundwasser und beobachtete frustriert, wie der Sand an den Wänden meines Lochs immer mehr abfiel und absickerte. Ich entschloss mich eine Pause zu machen und hob meinen Kopf aus dem Loch.
Um zu verschnaufen vertrieb ich mir die Zeit damit, den beiden zuzuschauen, wie sie spielten. Ich musste in der grellen Sonne die Augen zusammenkneifen und bald spürte ich wieder die Hitze dieses Tages. Ich machte es mir bequemer in meinem Loch und begann mit einem Stock in dem Sand zu zeichnen. Ich war schon seit Tagen von der Idee besessen mir mein eigenes Wappen auszudenken. Ich kritzelte herum und schaute gelegentlich den beiden zu, wie sie auf ihre eigene Art mit der Hitze fertig wurden.
Und die Schaukel war ihr eindeutiger Favorit. Man musste nur so wild schaukeln, dass der Wind einem um die Ohren sauste. Dann spürte man von der trockenen Hitze nichts mehr. Aber dazu gehörte eindeutig ein Hang zur Akrobatik.
Etwas das mir in einem solchen Maß, wie den Geschwistern eindeutig, abging.
Ich mochte lieber dunkle enge Räume, mit Schatten, die die Phantasie beflügelten. Den Geruch von nasser Erde. In der Luft fühlte ich mich wie auf dem Wasser - hilflos.
Diese beiden nicht. Vor allem die etwas größere Schwester war eine Attraktion auf meinem Spielplatz. Dabei muss man erwähnen, dass die Schaukel auf unserem Spielplatz nicht einfach nur eine Schaukel war. Es war die ultimative Schaukel schlechthin. Nicht irgendein lausiges Fabrikat aus einem Plastiksitz und zwei Seilen, die sich verheddern und auf den Händen brennen. Es war aus kaltem, gusseisernen Stahl. Ein Monstrum, das aussah, als hätte es bereits mehrere Kriege überlebt. Der Sitz aus massiven Stahlplatten erinnerte an einen Viersitzer-Kutschbock.
Auf ihm fanden manchmal sechs von uns Platz. Die Stahlstangen verbanden den Sitz mit der horizontalen Drehstange.
Aber das war noch nicht einmal das Beste daran. Denn statt, wie bei einer Seilschaukel, mit der Drehstange fest verschraubt zu sein, war es mit eisernen Ringen daran befestigt. Was einem Kind mit genug Mut und Schwung erlaubte einen Salto mit dieser Schaukel hinzulegen.
In diesem Sommer hatte ich die Geschwister gesehen, wie sie minutenlang ein Salto nach dem anderen geschafft hatten, ohne jegliche Unterbrechung und von einem Publikum aus staunenden Kindern.
Ich erinnere mich, wie ich ein Kreuz in den Sand malte. Das Zeichen gefiel mir. Ich verband die Enden des Querbalkens mit dem unteren Ende des senkrechten Balkens.
Jetzt erinnerte das Zeichen an eine Fledermaus. Dann malte ich einen Kreis, der die obere Hälfte des senkrechten Balkens einschloss. Jetzt hatte meine Fledermaus einen Kopf. Ich hatte ein Wappen.
Die Stimme der Schwester riss mich aus meinen selbstzufriedenen Träumereinen. Sie rief ihrem Bruder zu er könne ja gleich, aber sie wollte noch ein paar Runden drehen. Er stand vor der Schaukel und betrachtete grinsend seine Schwester.
Ich kann mich an den Aufprall nicht mehr erinnern. Meine Erinnerung geht übergangslos in das Bild von ihm über, wie er am Boden liegt, ein oder zwei Meter von dem Platz entfernt, an dem er gestanden hatte. Seine Schwester schrie. Versuchte zu bremsen. Schaffte es erst nach einer weiteren Umdrehung.
Ich verstand nicht was los war aber ich spürte das etwas nicht stimmte. Ich kroch aus meinem Loch und lief zu ihm herüber, seine Schwester war bereits bei ihm. Sie weinte und schrie. Ich stand bloß dabei und sagte nichts. Ich sah ihm in Gesicht. Es war völlig ausdruckslos. Als würde er schlafen. Nur etwas an seinem Gesicht war seltsam. Ein Teil davon, war nicht dort wo er sein sollte. Verschoben.
Ich blickte zu der Schaukel, die immer noch hin und her schwang.
Er war zu nah herangegangen.
Der Wind auf dem Dach meines Plattenbaus war immer noch trocken, aber wenigstens nicht so trocken, wie sonst. Ein Freund von mir hatte einen Weg herauf gefunden und wir stolzierten darauf herum. Blickten auf die Stadt unter uns und auf meinen Spielplatz.
Ich fand einen scharfkantigen Stein. Er sah aus wie ein Messer. Machte ein paar Schläge und stellte mir vor, wie ich zwei Monstermutanten damit aufschlitzte.
Mein Freund war irgendwo weit weg und untersuchte das Dach nach irgendwas Interessantem. Ich setzte mich an den Rand des Dachs, wo ein kleiner Vorsprung das einzige zwischen mir und dem Asphalt unten an der Straße war. Ich setzte mich auf meinen Hosenboden und begann den Mörtel zwischen den Steinen mit meinem neuen Messer herauszukratzen. Vielleicht konnte ich den Stein dann herausbrechen und ihn herunter werfen. Es würde sicher klasse sein, zu sehen wie er unten auf der Erde zerdeppert. Seit ein paar Tagen war es auf dem Spielplatz nicht mehr so lustig. Die zwei Schaukelgeschwister kamen nicht mehr zu spielen. Ich kratzte und kratzte, bis etwas Komisches mich ablenkte.
Von meinem Vorsprung aus konnte ich den Spielplatz unter mir gut erkennen und auch die kleineren Plattenbauten, die sich zur offenen Seite des U-förmigen Baus erstreckten.
Aus dem zweiten Haus von links kam etwas aus dem Hauseingang. Es war schwarz und klein. Es war ein Kasten. Irgendwo gab es eine Schleife. Ein Sarg. Wie beim Nachbar von meiner Großmutter. Nur viel, viel kleiner. Ich beobachtete, wie er in ein Auto gebracht wurde. Mein Herz klopfte. Wie aufregend. Irgendjemand war gestorben.
Ich hörte die schnellen Schritte meines Freundes und sah zu ihm herüber. Er winkte mir zu.
„Komm schon, lass uns an der Schaukel spielen.“
Oh ja. Das war auf jeden Fall spannender, als dieses langweilige Dach.