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besessen
Das Gras stand Luis bis zum Bauch. Die Wiese vor ihr schien unendliche Weiten zu haben. Sie konnte einfach nichts anderes als Wiese sehen. Die Mittagssonne lächelte sie an und die Vögel flogen am Horizont dem Regenbogen, hinter dem riesigen Baum, der nicht mehr weit von ihr entfernt von der Wiese in den Himmel ragte, entgegen. Einklang war das Wort, das ihr sofort in den Sinn kam. Dieser Baum. Von diesem Baum hatte sie schon viel gehört. Sie lief, mit einem Lächeln auf den Lippen, zu ihm. Die Arme ausgestreckt, sodass das Gras, rechts und links neben ihr, durch ihre Finger glitt. Nichts schien sie aufhalten zu können. Als Luis den Baumn nun fast erreicht hatte, sah sie schon die ersten Gestalten, die versuchten, den gewaltigen Stamm zu erklimmen. Würde man es schaffen, bis hoch in die Krone des Baumes zu klettern, würde einem das wahre Glück geschenkt. So erzählte man es sich immerhin. Der Baum erinnerte Luis an eine Art Mammutbaum, nur dass seine Krone nicht spitz sondern eher geweitet war, wie bei einem Affenbrotbaum.
Über diesen Namen hatte sie wie verrückt gelacht, als sie ihn das erste Mal zu hören bekam und es für einen Scherz gehalten, aber diese Bäume gab es wirklich.
Es waren traurige Gestalten,die Luis da vor sich sah. Sie sahen eher aus wie Schatten, leicht transparent und mit ausdruckslosem Gesicht. Aber sie konnte spüren, dass sie traurig waren. Die Gestalten, in ihrem Unterbewusstsein hatte Luis sie sofort Schattenmenschen genannt, schleppten sich in eine Richtung laufend um den Baum. Hie und da versuchte jemand an der leicht Elefantenheutigen Kruste des Baumes hochzukletter, aber meistens blieben sie erflolglos. Sie sah einen, der es schaffte Halt zu finden, in dem er seinen Rechten Schattenfuß in ein kleines Loch der Kruste steckte, aber nach oben hin gab es nichts, an dem er sich hätte festhalten können. Nach zwei Griffen ins Leere gab er auf und ging weiter. Sie ging auf einen von ihnen zu, der grade dabei war, sich eine Stelle zu suchen, an der er schnell hoch kam. Er wollte der Erste sein, der dort oben in der grünen Krone dieses Baumes ssaß und auf alle hinab sehen konnte. Sie fragte ihn, wieso er dort hinauf wollte und er antwortete ihr: „Aus dem gleichen Grund, wie all die anderen, die sich hier versammelt haben, um der Erste, Beste zu sein und auf alle hinab sehen zu können!“.
Sie kannte zwar die Geschichte von dem Glück und dass man dafür auf die Spitze des Baumes musste, aber sie glaubte nicht daran. Sie konnte nicht verstehen, wieso er so verbissen war. Man konnte doch auch so glücklich sein, ohne dort rauf geklettert zu sein. Warum liefen sie alle samt um den Baum herum und suchten nach Stellen, an denen sie hinauf kommen? Wieso will jeder von ihnen zuerst dort oben sein und auf alle hinab sehne?Spielte es wirklich eine so große Rolle erster zu sein? Als sie ihn das fragte sagte er: „Du blinde Göre, geh mir aus dem Weg!“. Er stieß sie Beiseite, ging ein paar Schritte, hielt dann inne und drehte sich zu ihr um. Seine Augen starrten Luis an, durchbohrten sie förmlich. Sie konnte nicht wegsehen, so sehr sie sich auch bemühte. Plötzlich verschwand alles andere um sie herum und seine Augen waren das Einzige was sie sah. Sie sogen sie in ihren Bann und zeigten ihr wer er war und warum er so besessen von dem Baum war. Sie sah alles, wie dieses Mädchen aus der Serie 4400, die sie manchmal heimlich schaute, wenn ihre Mutter schon schlafen war.
In seinem Leben hatte er immer alles dafür getan, eine anschauliche Karriere hinzulegen und das als primäres Ziel empfunden. Eine gute Anstellung, eine hohe Position, ein hohes Honorar und großen Einfluss auf andere Menschen, sollten ihm helfen, sein Leben lebenswert zu machen. Er arbeitete Tag und Nacht und hatte einige Dinge getan, auf die er nicht stolz war, aber es musste so sein. Luis war erschrocken von dem was sie sehen musste und würde erst lange Zeit später verstehen was sie da eigentlich genau gesehen hatte.
Seine Frau hatte er auf der Arbeit kennengelernt und sie waren nun seit 15 Jahren verheiratet. Dass sie nicht so viel Zeit miteinander verbrachten, machte ihnen beiden nicht besonders viel aus. „Die Arbeit geht vor!“, sagten sie immer, wenn man sie auf ihr Verhältnis ansprach. Kinder kamen für sie nicht in Frage, denn Kinder machten alles schwieriger. Sie kosteten zu viel Zeit und die hatten sie beide nicht.
Zeit. Sie hatten keine Zeit. Sie mussten sich beeilen, um immer die Besten zu sein.
Sie hörten von einem Baum, der auf einer riesigen Wiese stehen sollte, die so riesig und wunderschön war, dass man alles andere hinter sich ließ. Der Baum des Glücks. Sie machten sich auf den Weg, um diesen Baum zu sehen. Sie wollten ihn erklimmen und ganz oben in seiner gigantischen Krone stehen. Sie wollten immer ganz oben auf dem Baum stehen und von oben auf alle anderen hinab sehen. Aber was wäre jeder von ihnen bereit zu tun, wenn nur noch sie zwei dort standen? Dort vor dem großen Baum, mit einer so gewaltigen und schönen Krone, dass sie einen alles andere vergessen ließ?
Ewig auf der Suche nach Glück. Glück durch Erfolg. Glück durch Erfolg?
Man war sicherlich glücklich, wenn man Erfolg hatte, aber würde das ausreichen um
glücklich zu sein? Um wahrhaftig glücklich zu sein? Sie waren beide davon überzeugt und würden erst aufhören, wenn sie oben in der Krone standen.
Jetzt stand der Mann vor dem Mädchen, dass so dumme Fragen stellte und nicht verstand, warum sie sich alle hier versammelt hatten. Diese Göre! Aus welchem Grund war sie denn hier, wenn nicht aus dem, auf den Baum zu klettern, um von seiner Krone aus, auf alle herab sehen zu können? Warum, wenn nicht um das Glück zu finden, auf dessen Suche sie alle hier waren? Nach einigen Sekunden der Starre, widmete er sich wieder der Suche nach einer geeigneten Stelle um hoch zu kommen.
Luis wusste im ersten Moment nicht mehr wo sie war, aber nach und nach kam die Erinnerrung wieder. Sie stand wie angewurzelt da und dachte über das was sie gesehen hatte nach. Zumindest versuchte sie es, aber es gelang ihr nicht. Als sie sah, dass der Schattenmann sich von ihr abgewand hatte und wieder seiner Suche gewidmiet hatte entschloss sie sich es ihm gleich zu tun.
Als sie sich den Baum genauer anschaute, viel ihr eine Stelle auf, an der sie eine schwarze Linie entdesckte, die sich den ganzen Baum hoch zu ziehen schien. Als sie genauer hin schaute, erkannte sie, dass es kleine Ameisen waren, die alles Mögliche auf den Baum schafften. Es waren keine kleinen Holzstücke, die sie da auf ihren Rücken trugen, sondern es sah eher so aus, als würde jede Ameise, ihre eigenen Sachen mit sich schleppen. Jede einzelne hatte einen Beutel aus Stoff auf dem Rücken geschnürt, den sie den Baum rauf beförderte. Eine Ameise bemerkte, dass sie das kleine Mädchen anstarrte und blieb stehen. Die andern Ameisen hinter ihr sahen nicht, dass ihr Kollege stehen geblieben war und rannten in ihn rein. Luis musste lachen. Es sah echt bescheuert aus, wie diese kleinen Tiere, einer nach dem anderen, auf den Vordermann stießen und Luis verdutzt anschauten. Es bildete sich ein Stau, gemurmel breitete sich aus und verstummte, als sie merkten, warum sie alle standen. Sie schauten das Mädchen verwirrt und zugleich erwartungsvoll an. „Was tragt ihr da herauf, Herr Ameise?“, fragte Luis.
Die Ameise antwortete nicht, drehte sich wieder um und ging weiter den Baum nach oben. Die anderen folgten ihm.
Sie schaute nach oben, weil sie wissen wollte, wo die ganzen Ameisen hingingen und sah, dass sie in ein kleines Loch schlüpften, das sich kurz vor der Krone befand. Als alle Ameisen in den Tiefen des Loches verschwunden waren, schloss sich eine kleine Türe und versperrte das Loch. Innerhalb eines Augenzwinkerns verschwand die Tür und wurde ein Teil des Baumes. Sie fragte sich, was jetzt mit den Ameisen passiert ist und warum sie, was auch immer das für eine Last auf ihrem Rücken war, diese Last mit sich in den Baum schleppten.
Den Schattengestalten schienen die Ameisen gar nicht aufgefallen zu sein. Sie waren immer noch auf der Suche nach einer Stelle, an der sie hoch konnten.
Die Frage warum das Mädchen überhaupt hier war, wenn nicht auch um die Krone zu erklimmen, ließ dem Mann keine Ruhe. Als er wieder bei ihr angelangt war, fragte er sie. „Ich bin hier, um den Baum zu sehen.“,sagte Luis.
„Was hast du denn davon ihn zu sehen?Um das Glück zu erhalten musst du dort rauf Mädchen, bis in die Krone, bis nach ganz oben!“
„Das glaube ich nicht.Ich bin schon glücklich genug, ihn gesehen zu haben.“
„Hast du auch die ganzen Ameisen gesehen, die hier den Baum rauf sind“?, fragte sie ihn.
„Was für Ameisen Mädchen?"
„Ich heiße Luis!Da waren ganz viele von ihnen und sie sind den Baum hoch und dann in einem kleinen Loch verschwunden. Als sie alle durch waren, ist es einfach verschwunden. Ich glaube es ist mit dem Baum verschmolzen. Weißt du warum?“
Er antwortete nicht, sondern lief auf die Wiese hinaus und als er nach zwei Minuten wieder kam, hatte er einen Stein in der Hand. Er schlug den Stein gegen den Baum.
Er schlug so heftig und so lange auf ihn ein, dass eine richtige Kerbe entstand.
„Hör damit auf! Was tust du da?“, schrie Luis.
„Ich weiß jetzt, wie ich dort hoch komme! Ich werde es genau wie die Ameisen machen!“
Er machte es nicht wie sie, aber Luis war zu verwirrt um das zu sehen und er zu besessen um es zu merken.
Die anderen Gestalten, die ohne es zu wollen das Gespräch mitgehört hatten, hörten jetzt auf um den Baum zu laufen, holten sich jeder einen Stein, der eine größer als der andere, und machten es ihrem Kumpanen nach.
Luis war schockiert, verstand nicht recht, was hier vor sich ging.
Sie verstanbd es schon aber konnte es einfach nciht nachvollzihen.
„Ihr werdet den Baum noch töten, wenn ihr so weiter macht!“, schrie sie, aber keiner kümmerte sich um sie. Sie waren zu besessen davon, den gigantischen Stamm des Baumes zu zerschlagen.Sie griff einen von ihnen an der Schulter und versuchte ihn von dem Baum wegzuzerren, aber er bewegte sich keinen Zentimeter. Er drehte nur seinen Kopf und starrte sie an. Sein Gesicht hatte sich nach innen gekehrt und seine Augen starrten aus ihren tiefen Höhlen in ihre. Bloßer Wahnsinn sprach aus ihnen. Auch die anderen hatten sich nun zu ihr gedreht und schauten sie an. Sie bekam Angst. Ohne etwas zu sagen drehten sie ihre Köpfe wieder Richtung Baum und begaben sich wieder an ihre Aufgabe.
Sie standen alle, an einer Stelle versammelt, vor dem Baum und schlugen auf den Stamm ein. Die Hälfte des Stammes war fast weg geschlagen. Luis schrie aus voller Lunge, aber die jetzt Schattenartigen Gestalten, zeigten keine Reaktion.
Die Sonne neigte sich und es sah aus, als würde sie mit den Weiten der endlos scheinenden Wiese, auf der sie sich befanden, verschmelzten. Die ersten Sterne zeigten sich am Himmel und das klein Mädchen schrie, zerrte an ihnen, stellte sich schützend vor dem Baum und musste einige Male an Seite springen, um nicht von einem der Steine getroffen zu werden. Alles ohne Erfolg. Sie waren so besessen von ihrem Ziel, dass sie jeglichen Verstand verloren hatten und nicht merkten, was sie taten.
Der Baum gab langsam nach und stürzte um. Das Geräuch das er dabei machte klang in Luis Ohren wie ein Heulen. Ein Heulen eines Sterbenden. Es lief ihr eisklat den Rücken runter und sie bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Luis musste weinen. Die Schatten stürzten sich auf den Baum. Sie krochen auf ihm herum. Sie hatten es geschafft. Nun waren sie alle auf der gigantischen Krone dieses Baumes, aber der Preis, den sie dafür bezahlt hatten, war zu hoch gewesen. Das Glück, nach dem sie sich, jeder für sich, so sehr gesehnt hatten, blieb ihnen weiterhin vorenthalten.
„Warum hast du uns nicht gewarnt?“, schrien sie Luis an. „Nun wird niemand von der Krone aus auf jemanden hinab sehen können! Das Glück war nur eine Lüge! Hier gibt es kein Glück! Dieser Ort ist verflucht!“
Ihre wehleidigen Schreie machten Luis Angst. Sie drehte sich um und lief davon. Sie lief ohne sich noch einmal zu den verlorenen Schatten umzudrehen. Wie blind waren sie gewesen. Ihre verzweifelten Schreie hörte sie noch lange nachdem sie losgelaufen war und ihre Schuldgefühle, wuchsen mit jedem Schritt, mit dem sie sich von dem Baum entfernte. Hatte sie etwa nicht genug gegeben? Hätte sie mehr machen können? Sie glaubte versagt zu haben und war sich sicher, niemals mehr glücklich sein zu können.