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Bestattungsnächte
Die Nacht, in der ich diesmal versuchen werde, sie zu begraben, ist rau wie die anderen. Es ist kalt und nass, und der eisige Wind fährt durch meine beiden Kleidungsschichten, der aus Stoff, und der anderen aus einer Überhose aus Wille, einer zweiten Jacke aus Einsicht und einer Mütze aus alkoholischer Benebelung. Ich hatte gedacht, sie würden ausreichen, doch ich müsste es besser wissen, denn das tun sie nie.
Ich gehe verbissen, den Kopf gesenkt. Neben mir verströmt sie noch zusätzliche Kälte.
„Weißt du noch…“, beginnt sie, und es klingt drohend.
„Stopp!“, unterbreche ich sie. Meistens lässt sie sich nicht den Mund verbieten, doch für den Moment habe ich sie unter Kontrolle. Weil ich mit aller Kraft versuche, sie zu ignorieren.
Wir sind da. Nicht auf einem Friedhof, solche wie sie gehören nicht dorthin, sondern da, wo wir all die Jahre zusammen verlebt haben. In einer entlegenen Ecke des Ortes, wo ich aufgewachsen bin und wo wir ganz alleine sind.
Ich habe nur einen Spaten. Das Graben ist mühsam, die Erde wiegt schwer von Nässe. Es gibt Leute, die mir wahrscheinlich besseres Gerät geben könnten, vielleicht einen Bagger, doch ich will nicht zu ihnen gehen. Das hier ist meine Angelegenheit.
Sie steht schräg hinter mir, was mir unangenehm ist, und sieht mir ausdruckslos zu.
„Erinnerst du dich…“, fängt sie wieder mit schneidender Stimme an.
„Sei still!“, rufe ich, arbeite schneller, und sie verstummt.
Das Grab ist tief. Ich lasse den Spaten fallen und packe sie an den Armen, wobei ich ihr nicht ins Gesicht schaue. Ich spüre, wie sie Luft holt, den Mund aufmacht, und da stoße ich sie hinein. Sofort fange ich an, Erde auf sie zu schaufeln, sie zu bedecken. Doch sie ist zu schnell für mich. Schon stoßen durch die dünne Erdschicht ihre Klauen, sie erhebt sich, steigt wieder empor und umarmt mich, dass es mir die Luft aus den Lungen und die Tränen aus den Augen presst.
„Hinab mit dir!“, rufe ich, noch kraftvoll, „Deine Zeit ist vorbei!“ Ich stoße sie wieder in das Loch und fange erneut wie besessen an zu schaufeln. Doch sie nimmt keine Notiz von der auf sie prasselnden Erde, dem Matsch, und erhebt sich, steigt wieder aus dem Loch und legt eine Hand auf meinen Arm. Kalt. Ich schaudere. „Lass das!“, will ich sagen, doch ein Schluchzen steckt in meiner Kehle, und sie kann ja nichts dafür, denn im Grunde ist sie weder gut noch böse. Sie ist einfach sie selbst.
Ich stoße sie in dieser scheußlichen Nacht noch öfters wieder hinein, mal mit purer Gewalt, indem ich ihr mit voller Kraft den Spaten über den Kopf zimmere, mal mit schmeichelnden Worten; sie sei doch längst tot, warum wolle sie das nicht begreifen und sich einfach hinlegen, in ewiger Ruhe? Und jedes Mal kostet es mich mehr Anstrengung. Doch mit scheinbar unendlicher Geduld steigt sie unbeschadet immer wieder aus dem Loch. Sie klagt nicht, und sie sagt nichts.
Ich kann nicht mehr. Sie steht vor mir und sieht mich mit ihren tiefen Augen an. Sie ist fast so alt wie ich, hat sich aber nicht sehr verändert. Nur ihre Ecken und Kanten treten deutlicher hervor. Stellen, die früher schön waren, sind unspektakulär geworden. Sie ist entzaubert. Ja, das trifft es am besten.
Trotz der Strapazen ist ihre Miene ist ausdruckslos. Sie ist stark, kaum einer kommt gegen sie an. Man sagte mir, ich solle sie einfach ruhen lassen. Nichts lieber als das, aber warum kann sie das nicht in diesem Grab tun? Warum muss sie stattdessen nachts neben mir im Bett liegen und ihre Kälte ausstrahlen?
Tränen laufen mir über die Wangen und ich lasse den Spaten fallen. Ich kapituliere. Wieder.
Die Untote hakt sich bei mir ein, und gemeinsam verlassen wir diesen Ort. Meine zweite Kleidungsschicht ist dahin.
Wie oft habe ich schon versucht, sie zu begraben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nie für immer klappt. Manchmal für eine Zeitlang, doch irgendwann steht sie jedes Mal plötzlich wieder hinter mir, Erde unter ihren Nägeln, und das Lächeln auf ihrem Gesicht scheint zu sagen:
„Na, da bin ich wieder. Hast du mich vermisst? Keine Angst, jetzt bleibe ich erstmal wieder eine Weile…“
Da fängt sie neben mir plötzlich wieder an:
„Weißt du noch…“, doch diesmal ist ihre Stimme anders. Sie klingt zart und ein bisschen verträumt. Gleichzeitig bemerke ich, dass sich die Kälte um sie herum in Wärme verwandelt. Ja, so kann sie auch sein. Sie ist es selten, sodass ich es manchmal vergesse, doch sie kann es. Und begierig frage ich, sie näher an mich heranziehend:
„Ja? Ja? Was weiß ich noch?“
„Damals…“, und ein Hauch von verloren geglaubter Unschuld und Sommer umschwebt mich auf einmal.
Ob ich will oder nicht, sie ist ein Teil von mir, hat mich zu dem gemacht, was ich bin, und sie wird immer ein Teil von mir sein.