Was ist neu

Bestattungsnächte

Seniors
Beitritt
21.08.2005
Beiträge
637
Zuletzt bearbeitet:

Bestattungsnächte

Die Nacht, in der ich diesmal versuchen werde, sie zu begraben, ist rau wie die anderen. Es ist kalt und nass, und der eisige Wind fährt durch meine beiden Kleidungsschichten, der aus Stoff, und der anderen aus einer Überhose aus Wille, einer zweiten Jacke aus Einsicht und einer Mütze aus alkoholischer Benebelung. Ich hatte gedacht, sie würden ausreichen, doch ich müsste es besser wissen, denn das tun sie nie.
Ich gehe verbissen, den Kopf gesenkt. Neben mir verströmt sie noch zusätzliche Kälte.
„Weißt du noch…“, beginnt sie, und es klingt drohend.
„Stopp!“, unterbreche ich sie. Meistens lässt sie sich nicht den Mund verbieten, doch für den Moment habe ich sie unter Kontrolle. Weil ich mit aller Kraft versuche, sie zu ignorieren.
Wir sind da. Nicht auf einem Friedhof, solche wie sie gehören nicht dorthin, sondern da, wo wir all die Jahre zusammen verlebt haben. In einer entlegenen Ecke des Ortes, wo ich aufgewachsen bin und wo wir ganz alleine sind.
Ich habe nur einen Spaten. Das Graben ist mühsam, die Erde wiegt schwer von Nässe. Es gibt Leute, die mir wahrscheinlich besseres Gerät geben könnten, vielleicht einen Bagger, doch ich will nicht zu ihnen gehen. Das hier ist meine Angelegenheit.
Sie steht schräg hinter mir, was mir unangenehm ist, und sieht mir ausdruckslos zu.
„Erinnerst du dich…“, fängt sie wieder mit schneidender Stimme an.
„Sei still!“, rufe ich, arbeite schneller, und sie verstummt.
Das Grab ist tief. Ich lasse den Spaten fallen und packe sie an den Armen, wobei ich ihr nicht ins Gesicht schaue. Ich spüre, wie sie Luft holt, den Mund aufmacht, und da stoße ich sie hinein. Sofort fange ich an, Erde auf sie zu schaufeln, sie zu bedecken. Doch sie ist zu schnell für mich. Schon stoßen durch die dünne Erdschicht ihre Klauen, sie erhebt sich, steigt wieder empor und umarmt mich, dass es mir die Luft aus den Lungen und die Tränen aus den Augen presst.
„Hinab mit dir!“, rufe ich, noch kraftvoll, „Deine Zeit ist vorbei!“ Ich stoße sie wieder in das Loch und fange erneut wie besessen an zu schaufeln. Doch sie nimmt keine Notiz von der auf sie prasselnden Erde, dem Matsch, und erhebt sich, steigt wieder aus dem Loch und legt eine Hand auf meinen Arm. Kalt. Ich schaudere. „Lass das!“, will ich sagen, doch ein Schluchzen steckt in meiner Kehle, und sie kann ja nichts dafür, denn im Grunde ist sie weder gut noch böse. Sie ist einfach sie selbst.
Ich stoße sie in dieser scheußlichen Nacht noch öfters wieder hinein, mal mit purer Gewalt, indem ich ihr mit voller Kraft den Spaten über den Kopf zimmere, mal mit schmeichelnden Worten; sie sei doch längst tot, warum wolle sie das nicht begreifen und sich einfach hinlegen, in ewiger Ruhe? Und jedes Mal kostet es mich mehr Anstrengung. Doch mit scheinbar unendlicher Geduld steigt sie unbeschadet immer wieder aus dem Loch. Sie klagt nicht, und sie sagt nichts.
Ich kann nicht mehr. Sie steht vor mir und sieht mich mit ihren tiefen Augen an. Sie ist fast so alt wie ich, hat sich aber nicht sehr verändert. Nur ihre Ecken und Kanten treten deutlicher hervor. Stellen, die früher schön waren, sind unspektakulär geworden. Sie ist entzaubert. Ja, das trifft es am besten.
Trotz der Strapazen ist ihre Miene ist ausdruckslos. Sie ist stark, kaum einer kommt gegen sie an. Man sagte mir, ich solle sie einfach ruhen lassen. Nichts lieber als das, aber warum kann sie das nicht in diesem Grab tun? Warum muss sie stattdessen nachts neben mir im Bett liegen und ihre Kälte ausstrahlen?
Tränen laufen mir über die Wangen und ich lasse den Spaten fallen. Ich kapituliere. Wieder.
Die Untote hakt sich bei mir ein, und gemeinsam verlassen wir diesen Ort. Meine zweite Kleidungsschicht ist dahin.
Wie oft habe ich schon versucht, sie zu begraben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nie für immer klappt. Manchmal für eine Zeitlang, doch irgendwann steht sie jedes Mal plötzlich wieder hinter mir, Erde unter ihren Nägeln, und das Lächeln auf ihrem Gesicht scheint zu sagen:
„Na, da bin ich wieder. Hast du mich vermisst? Keine Angst, jetzt bleibe ich erstmal wieder eine Weile…“
Da fängt sie neben mir plötzlich wieder an:
„Weißt du noch…“, doch diesmal ist ihre Stimme anders. Sie klingt zart und ein bisschen verträumt. Gleichzeitig bemerke ich, dass sich die Kälte um sie herum in Wärme verwandelt. Ja, so kann sie auch sein. Sie ist es selten, sodass ich es manchmal vergesse, doch sie kann es. Und begierig frage ich, sie näher an mich heranziehend:
„Ja? Ja? Was weiß ich noch?“
„Damals…“, und ein Hauch von verloren geglaubter Unschuld und Sommer umschwebt mich auf einmal.

Ob ich will oder nicht, sie ist ein Teil von mir, hat mich zu dem gemacht, was ich bin, und sie wird immer ein Teil von mir sein.

 

Hallo Maeuser,

alte Idee neu aufgewärmt.

Es gibt Leute, die mir wahrscheinlich besseres ... geben könnten
Weißt du noch…
nicht jeden alten Käse sollte man frisch aufbacken.
Erinnerst du dich… Ja? ... Was weiß ich noch?
Läuft in ähnlicher Ausführung gerade jetzt mal wieder im Fernsehen.

Philosophie konnte ich leider nicht erkennen. Passt wohl eher in die
Abteilung Science Fiction .


Gruß, Keinstein

 

Hallo Maeuser!

"Damals, weißt du noch?" Irgendwie gelingt es mir nie, auf diese Frage ohne einem aufgesetzten Lächeln und leichtem Unbehagen zu reagieren, weil sich sofort die Erinnerungen aus der Abteilung "schlechtes Gewissen" in den Vordergrund drängen. Den Hauch von Unschuld und Sommer, wie du es so schön umschrieben hast, noch einmal heraufzubeschwören, braucht dagegen Anstrengung, aber es lohnt sich immer wieder.
Die unangenehme Hälfte begraben, so gerne man das auch möchte, hieße auch die andere Hälfte zu verlieren. Wer will das schon. Man würde plötzlich die Orientierung im Gefüge seines eigenen Lebens verlieren. Da lebt man dann doch lieber mit seinen Erinnerungen in einer Art Zwangsehe. Hassliebe könnte man auch sagen.


Gruß

Asterix

 
Zuletzt bearbeitet:

Moikka Maeuser,

im Grunde ein hübscher kleiner Text, ich weiß nur nicht, ob du Dir mit der Wahl der Rubrik einen Gefallen getan hast. Man findet ja philosophische Texte in anderen Rubriken, und freut sich dort umso mehr - hier aber sollte es schon einiges an Tiefgang haben, und um Erkenntnisse gehen, die über ein Individuum hinausreichen; eigentlich würde ich nichtmal die Hälfte der stories hier dazurechnen. Und auch bei Dir - trotz schöner Idee - geht es zwar um etwas, das sicher viele Menschen mit deinem Protagonisten teilen, aber ist es nicht eher eine tragische Alltäglichkeit denn tatsächlich philosophische Einsicht?

Lange Rede: So enttäuscht mich das Stück eher.

Dabei finde ich die konkrete Leserichtung mit der tatsächlichen Untoten spannender, als die Übertragung auf ein Nichtloskommen von einer Verflossenen, Abhängigkeit etc. - das ist mir zu platt, sonst. Einer Untoten Gefühle zuzuschreiben ist nun wieder interessant, weil - mit wenigen Ausnahmen - unausgelotetes Terrain. Da könntest Du noch was rausholen, denke ich.

Auch sprachlich finde ich, daß es zu viel Alltäglichkeiten, auch Umgangssprache drin hat, was ich in einem philosophischen Text nicht erwarte.

Die Nacht, in der ich diesmal versuchen werde, sie zu begraben
Ich komm partout nicht drauf, aber diesmal hört sich verquer an. Das beißt sich mit der anderen Zeitangabe "Die Nacht". Blöd, weil grad am Einstieg, vllt fällt Dir ja was anderes ein.

Meistens lässt sie sich nicht den Mund verbieten, doch für den Moment habe ich sie unter Kontrolle. Weil ich mit aller Kraft versuche, sie zu ignorieren.
Der erste Teil behauptet, er habe sie unter Kontrolle, der zweite besagt eher, er hätte sich unter Kontrolle (weil er schafft, sie zu ignorieren), beißt sich bissl.

über den Kopf zimmere
Oh nee :D, das hört sich nach bösem Slapstick an, nämlich nach der Evil Dead-Szene (überdies mit identischer Konnotation), an die ich die ganze Zeit schon denken mußte.

Nur ihre Ecken und Kanten treten deutlicher hervor.
Ein Mensch hat nur im übertragenen (und anderen) Sinne "Ecken & Kanten", das kann man nicht wörtlich nehmen - scharfkantige Gesichtszüge oder so ginge, fast identisch.

Kälte verstrahlen
Ein Toter strahlt Kälte aus, das andere hat mit Radioaktivität zu tun.

Trotz der Strapazen ist ihre Miene ist ausdruckslos
Finde ich unlogisch - kann sich eine Untote anstrengen, verausgaben?

Sie steht vor mir und sieht mich mit ihren tiefen Augen an
Tief- ? Tiefgründig, tiefliegend, eingesunken? Da fehlt was.

Es ist kalt und nass, und der eisige Wind fährt durch meine beiden Kleidungsschichten, der aus Stoff, und der anderen aus einer Überhose aus Wille, einer zweiten Jacke aus Einsicht und einer Mütze aus alkoholischer Benebelung. Ich hatte gedacht, sie würden ausreichen, doch ich müsste es besser wissen, denn das tun sie nie.
Das ist eine schöne, ungewöhnliche Beobachtung, aber mE zu lang, damit wirkungslos - wenn du das mit der Hälfte der Worte sagen würdest, käme es klarer & kraftvoller.

Wir sind da. Nicht auf einem Friedhof, solche wie sie gehören nicht dorthin, sondern da, wo wir all die Jahre zusammen verlebt haben, in einer entlegenen Ecke des Ortes, wo ich aufgewachsen bin und wo wir ganz alleine sind.
Ebenso hier: Das ist unnötig verschachtelt & verkompliziert.


zweite Kleidungs- schicht ist dahin.
Tipper

umschwebt mich
Gibt es das Wort? Umgibt vllt?

Sag mal, wird sodass nach der neuen R-Reform etwa zusammen geschrieben? Das sieht ja fies aus, ich sehe es aber hier nicht zum ersten Mal ...

Was ich schön gelöst finde:

Die Untote hakt sich bei mir ein, und gemeinsam verlassen wir diesen Ort.
Keine Angst, jetzt bleibe ich erstmal wieder eine Weile…
Das ist schön knapp, und sagt dennoch genug.

Herzlichst,
Katla

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Leute!

@ Keinstein: Danke fürs Lesen.


@ Asterix: Ja! Genau das habe ich gemeint. Danke, dass du mich verstehst. ;) Dank dir fürs Lesen und Kommentieren!


@ Katla: Hi! :) Du hast recht; der Text ist nicht übertrieben philosophisch, aber ein bisschen schon, und das war mir für Alltag schon zuviel. Ein weiterer Punkt ist, dass "sie", die Frau, ja eine Personifizierung der Vergangenheit ist, die zu begraben versucht wird. Das ist mir für Alltag zu abgespaced, zu esoterisch. Also Alltag <-> Philosophisches; die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. ;)
Vielen Dank für deine Anmerkungen zu einzelnen Stellen. Beim Überfliegen fand ich einige recht subjektiv, aber ich werd sie mir gleich nochmal einzeln vornehmen und drüber nachdenken.

über den Kopf zimmere
Oh nee :D, das hört sich nach bösem Slapstick an, nämlich nach der Evil Dead-Szene (überdies mit identischer Konnotation), an die ich die ganze Zeit schon denken mußte.
Hehe, das stimmt, ist aber durchaus so gewollt (nicht als Anspielung auf Evil Dead, aber) sozusagen als Stilmittel, denn ich finde, die Szene unterstreicht nochmal das Surreale des Textes. Im ersten Moment hast du bestimmt auch gedacht: What the... oder sowas Ähnliches. Oder? ;)

Nur ihre Ecken und Kanten treten deutlicher hervor.
Ein Mensch hat nur im übertragenen (und anderen) Sinne "Ecken & Kanten", das kann man nicht wörtlich nehmen - scharfkantige Gesichtszüge oder so ginge, fast identisch.
Stimmt! Und genau das soll sich der Leser denken: Hä? Frau -> Ecken und Kanten?? -> Hinweis darauf, dass es nicht um die Frau geht, sondern um die Vergangenheit, die sie verkörpert. Denn die kann Ecken und Kanten haben.
Im ganzen Text wird die Frau direkt überhaupt nicht beschrieben. Keine Haar- oder Augenfarbe, Größe, Geruch, besondere Merkmale usw(ok, die "tiefen" Augen, aber auch das ist übertragen gemeint). Eben weil sie nur ein gesichtsloses Gefäß ist (für die Vergangenheit).

sodass schreibe ich eigentlich soweit ich mich zurückerinnern kann, zusammen. Ob das falsch/richtig war/ist weiß ich nicht so genau... ;)

Also, vielen Dank fürs Lesen und Reinknien, hat mir geholfen!

Viele Grüße,
Maeuser

 

Hallo Maeuser

Beim Wühlen in dieser Rubrik bin ich auf den rituell klingenden Namen deiner Geschichte gestossen, was meine Neugier weckte, welch philosophische Erkenntnis sich damit verbinden soll.

Flink und spannend, ja humorvoll geschrieben, der Begräbnisversuch an dieser magisch erscheinenden sie. Ich kam wirklich ins Grübeln, sah jedoch keine verbindende Grundlagen etwa zu Platons oder Aristoteles Untersuchungen des philosophischen Gehalts der Theurgie. Im Mittelalter gab es zwar einige Annäherungsversuche von Magie an Philosophie, dazu kann man wohl auch die klerikale Methode des Losens zählen, doch konnte keine den Bogen wirklich spannen. Am realsten scheint mir folglich eine Erinnerung oder Vergangenheit, die da zu Grabe getragen wird. Also eher ein psychologisches Phänomen, ohne philosophisch vertiefenden Bezug.

Da ich mir nicht sicher war, schaute ich mir noch die anschliessenden Kommentare an. Ja doch so ist es. Du nanntest es etwas Alltags - Philosophisches, also eine Plattitüde.

Ich habe es amüsiert gelesen, finde aber, im Fundus Sonstige oder Humor wäre es am richtigen Ort, da die Leser dort einen solchen Gehalt suchen. Ich hoffe, du ärgerst dich nun nicht übers ausgraben, aber die neugierigen Leser werden sie eben immer wieder erwecken. ;)

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

nein, ich ärgere mich doch nicht, im Gegenteil! ;)

Tut mir leid, dass deine philosophischen Erwartungen (die du zu recht hattest), nicht erfüllt wurden. Diese Rubrik ist wohl wirklich nicht ganz der richtige Ort für diese Geschichte. Katla hätte sie gerne in Horror, aber da passt sie auch nicht so richtig rein, finde ich.
Ich werde mal darum bitten, dass sie nach Sonstige verschoben wird.

Danke fürs Lesen und erwecken! ;) Freut mich, dass dir die Geschichte Spaß gemacht hat.

Viele Grüße,
Maeuser

 

Auf Wunsch des Autors von Philosophisches nach Sonstige verschoben.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom