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Besuch am Nachmittag
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Es war schnell dunkel geworden, obwohl es erst früher Nachmittag war. Dämmriges Licht fiel durch das Fenster in der kleinen Laube. Er hätte die Lampe anschalten können, immerhin hatte er seiner Zeit ein dickes Erdkabel hierher verlegt. Aber er fand das Halbdunkel für den Anlass angemessen und begnügte sich mit dem hellblauen Schimmer der kleinen Neonröhre.
Der Holzstuhl kratzte vernehmlich über die groben Dielenbretter. Als er sich setzte, horchte er einen Augenblick dem Rauschen des Zugs, der auf dem alten Bahndamm Richtung Norden fuhr.
„Ostwind, Prinzessin“, sagte er und schaute sie nachdenklich an. Der Ostwind brachte heute ein Gewitter mit, das sich vorhin mit sanftem Grummeln angekündigt hatte. „Es tut mir Leid, dass ich an deinem Geburtstag so spät komme“ sprach er sie erneut an. „Ich hatte noch ein wenig im Garten zu tun, Du weißt ja wie das ist. Da kommt eines zum anderen, und man kann nicht immer aufhören, wann man will. Entschuldige bitte, ich werde das nächste Mal pünktlicher da sein. Nun … Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Prinzessin.“
Er legte die mitgebrachte rote Rose vor sie hin und senkte einen Moment den Blick, ohne zu wissen, was er sagen sollte oder ob er sie berühren durfte.
„Ich hoffe, dass du nichts dagegen hast, dass wir hier sind. Ich dachte halt, Du hattest diese kleine Laube immer gemocht. Und wir haben es uns ja auch oft hier gemütlich gemacht. Wo ist nur die Zeit geblieben. Es ist schon eine Weile her, dass ich dich sehen durfte. Du hast dich kaum verändert. Immer noch meine bildhübsche Prinzessin …“ Verlegen schaute er zu ihr hinüber.
„Erlaubst du, dass ich rauche? Ich weiß, dass du mich immer gewarnt hast. Ich rauche ja auch nicht regelmäßig …
Du hast Recht. Ich werde mir Mühe geben, damit wieder aufzuhören. Vielleicht habe ich nur aus Langeweile wieder angefangen. Vielleicht aber auch, weil ich Angst hatte, dir nach so langer Zeit wieder in die Augen zu sehen. Ich bin halt kein starker Mensch …
Mein Gott, wie schön du bist. Ich habe dein goldenes Haar immer gemocht. Ich mochte, wie es sich anfühlte auf meiner Haut. Ich mochte den Geruch.
Warum hast du es damals gefärbt? Dieser rötliche Bronzeton wurde dir nicht gerecht. Hast du es für ihn getan? Hat er dir das angeraten?
Ich habe damals auch bewundert, wie du in so kurzer Zeit deine kleinen Röllchen wegbekommen hast. Mein Gott, 12 Kilo in nur dreieinhalb Monaten. Du sahst verführerisch und jung aus. Deine Figur war so, wie sie zu unserer Hochzeit damals war.“ Er lachte verschmitzt und blinzelte ihr zu. Dann runzelte er die Stirn und rieb sich die Augen.
„Ich hätte es früher merken müssen, dass da ein anderer Mann war. Ich habe mir lange Vorwürfe gemacht, dass ich vielleicht …
… dass wir vielleicht …
Nein, bitte, lass mich ausreden …
Ich wollte, ich könnte noch einmal …
Entschuldige, ich wollte nicht damit anfangen. Ich …
Bitte versteh doch, es war ein Schock für mich, als du da mit den Reisetaschen an der Tür standest. Ich konnte es nicht glauben, dass du fort wolltest. Warum hast du nicht vorher mit mir darüber gesprochen?
Ich habe deinen Freundinnen am Telefon gesagt, dass du nicht mehr zurück kämst, einen anderen Mann liebtest und irgendwo da draußen mit ihm ein neues Leben anfangen wolltest. Manchmal kam es mir vor, als wenn sie mir nicht glaubten … Die ganze Situation war so … unwirklich.
Nein, Prinzessin …
Das ist nun schon fast eineinhalb Jahre her, Prinzessin. Und doch kommt es mir vor, als wenn es gestern war. Dein kalter Blick brennt in meinem Herzen und ich träume noch immer davon, wie du dich wortlos umdrehtest und gehen wolltest.“
Ein kurzer Moment peinlichen Schweigens verging. Er nahm das Streichholzbriefchen vom Tisch und zündete die kleine Kerze an.
„Habe ich Dir erzählt, dass ich ihn getroffen habe? Er kam ein paar Tage später und wollte mit mir reden.
Ich habe ihn nicht ins Haus gelassen. Ich fand es irgendwie … unpassend, verstehst du? Ich war doch der Meinung, dass er dafür verantwortlich war. Das bin ich heute auch noch, glaube mir. Ich habe …
… bitte, lass mich ausreden …
… ich hatte mich mit ihm …
… ich hatte mich mit ihm unten am kleinen Bach am Parkplatz verabredet. Ein neutraler Ort, verstehst du?
Er hatte angefangen zu streiten. Was wollte er denn von mir? Er hat mich fortlaufend angeschrieen, hat mir gedroht. Ich wusste nachher gar nicht mehr, was er mir an den Kopf geworfen hat. Bitte glaube mir, dass ich versucht habe, ruhig zu bleiben, aber er war außer sich und ich bekam Angst.
Himmel, er war ein richtiges ARSCHLOCH. WAS, UM HIMMELS WILLEN, HAST DU AN SO EINEM WICHSER GEFUNDEN!
JA, VERDAMMT! ICH HABE IHN DA GELASSEN.
NEIN, ICH HABE KEINE AHNUNG …
SOLL ER DA DOCH VERROTTEN, ZUM TEUFEL!“
Eine halbe Ewigkeit lang saugte die Stille die Emotionen aus dem kleinen Raum.
Ein gleißender Blitz, dann zerriss ein Donnerschlag das entstandene Vakuum und brachte die kleine Laube zum Erbeben.
„Düvel nei … das war dichte bei!“
Er stand auf und versuchte erfolglos durch das kleine Butzenfenster einen Blick auf den Garten zu erhaschen. Der einsetzende Regen, der wie Trommelfeuer auf das Schindeldach prallte, ließ keine Sicht zum nahen Haus zu.
Als er sich wieder setzte, musste er die Stimme erheben, um sich gegen den infernalen Lärm durchzusetzen. „Erinnerst du dich, Prinzessin? So etwas haben wir damals schon einmal erlebt.“ Er drehte leicht den Kopf und schaut sie an. Er wollte gerade die Hand heben und sie berühren, doch besann er sich und legte sie wieder flach auf den Tisch. „Es war so ein Tag wie heute. War es nicht sogar auch dein Geburtstag, Prinzessin? Ich weiß das gar nicht mehr genau … Egal, es war ein wunderschöner Tag. Erinnerst du dich, wie wir von der Radtour durch die Flusswiesen kamen? Ja? Genau, es war vorher furchtbar warm … Der Weg nach Hause war noch recht weit, als wir die schwarze Wolkenfront kommen sahen. Wir waren auf so einen Wolkenbruch nicht vorbereitet … Das Wasser stand fingerhoch in den Schuhen, als wir uns in der Diele auszogen. Erinnerst du dich, Prinzessin? Was für eine Schweinerei …“
Lachend schüttelte er den Kopf und befingerte noch einmal die Schachtel Zigaretten in seiner Brusttasche. Schuldbewusst ließ er ab und strich sich über das schüttere Haar mit den grauen Strähnen.
„Uns war das egal. Damals. Es war so unglaublich schön, als du meinen nassen Körper gestreichelt hast. Und du warst, so nackt und nass wie du warst, so verführerisch und erregend …
Wie? Ja, ich glaube dir, dass das nicht zu übersehen war … Aber es scheint ja auch dich erregt zu haben. Immerhin hattest du mich vorher ja noch nie … Nein, es ist mit nicht peinlich, dass wir darüber reden. Dir?
Wir haben uns so oft danach geliebt. Aber an dem Tag war es etwas Besonderes. Viele Dinge, die wir da zum ersten Mal taten … und dann nie wieder. Ich hatte oft gehofft, wir würden wieder so einen Tag haben, so zügellos, so harmonisch, so tabulos, so voller Lachen, so … miteinander. Verstehst du?
Das muss bald sechzehn oder siebzehn Jahre her sein. Mein Gott, wie die Zeit vergeht … Aber dieser Tag war bestimmt der Höhepunkt unseres gemeinsamen Lebens, meinst du nicht auch?
Ach Prinzessin, warum musste es so zu Ende gehen? Ich bin seit dem so einsam, so traurig. Ich träume fast jede Nacht von dir, glaubst du mir das?“
Umständlich nestelte er an der silbernen Uhrkette, mit der die alte Taschenuhr an seinem Hosenbund befestigt war. Er nahm sie aus der Tasche, warf einen Blick darauf und drehte die kleine Krone ein paar Umdrehungen. „Tja, Prinzessin, es wird Zeit, dass ich wieder rüber komme. Um sechs kommen die Nachrichten, die würde ich mir gerne anschauen. Mal sehen, was in der Welt so geschieht. Ich sehe dich ja zu deinem nächsten Geburtstag wieder. Vielleicht schon früher, mal sehen …
Entschuldige bitte, aber ich will noch schnell ein wenig aufklaren.“ Er stand auf und legte mit geübten Handgriffen die schwarze Sperrholzplatte in die Vertiefung. Dann hakte er den kleinen Metallhaken aus und senkte den Holzdeckel. Nahtlos und nahezu unsichtbar fügte sich das Teil in den Boden ein. Nicht zum ersten Mal war er ein klein wenig Stolz auf sein handwerkliches Geschick.
Er griff den Reisigbesen und fegte etwas von dem kaum vorhandenen Staub in die Dielenritzen. Dann stellte er den alten Spaten, der ihm schon so oft nützlich war, und das schwere Beil in die Ecke. Zuletzt rückte er noch den klobigen Korb mit dem Kaminholz zurecht. Als er sich umdrehte, um die Kerze zu löschen, ließ er den Blick noch einmal durch den kleinen, aber sehr aufgeräumten Raum gleiten.
„Also, Prinzessin, dann wollen wir mal …“ Mechanisch griff seine Linke den speckigen Elbsegler vom Haken, während seine Rechte den sperrigen Holzriegel zur Seite drückte. Er schlüpfte in seine Holzpantinen und öffnete die Tür. Als er über die Schwelle stieg, umströmte ihn sofort die kühle, klare und gereinigte Luft, die es nach jedem Gewitter gab. Er schloss den obersten Knopf seiner Strickjacke. Forschend suchte er am Horizont hinter den Dächern der alten Siedlungshäuser nach dem hellen Fleck in den Wolken. Bald würde sich dort der Himmel auftun und die rote Abendsonne durchkommen.
Er schaute noch einmal befriedigt über das kleine Stück Land, das er so liebevoll bewirtschaftete. Letzten Regentropfen bildeten konzentrischen Kreise in den Pfützen auf dem schmalen Weg. Dann winkte er Nachbars Tiger zu, der sich unter den großen Blättern der Kürbisse und Zucchini vor dem Regen versteckt hatte. Tiger schaute ihn abschätzend an, ob er wohl bei seinem allabendlichen Besuch wieder eine Schale Milch und ein Stück Käse bekommen würde …
Bevor er die Tür ins Schloss zog und den rostigen Schlüssel zweimal drehte, tastete er hinter der Türzarge nach dem verborgenen Schalter. Fast zärtlich legte er den Hebel um, in der Gewissheit, dass die kleine hellblaue Neonlampe hinter der dicken Glasplatte verlöschen würde. Er horchte noch einmal intensiv, aber die beiden starken Kompressoren der im Erdreich versenkten Tiefkühltruhe waren nicht zu hören.
Vorsichtig setzte er seinen Fuß auf den durchweichten Rasen und machte ein paar Schritte. Ein Frösteln ließ ihn den Kopf zwischen die Schultern ziehen. Ein letzter Regentropfen traf sein Auge, sodass er blinzeln musste.
„Brr …“ sagte er. „Wat für’n Schietwetter. Ich glaube, ich mach mir heute mal einen kleinen Rum in den Tee. Zur Feier des Tages …“
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