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Besuch der Eltern

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23.10.2004
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Besuch der Eltern

Christina B. stolperte höchst nervös, ohne erkennbar sinnvolle Richtungen, durch ihr enges Zimmer. Der Kopf wurde viel zu drängend durchflutet von verzweifelten Gedankenflecken, als dass sie wenigstens einen vernünftigen hätte hinausfischen können. So blieb sie unterdrückt von angstvoller Hilflosigkeit, dergestalt, dass sie die urmenschlichste Fähigkeit verloren hatte, eine Entscheidung für oder gegen bestimmte Taten zu treffen. Soeben war ihr, in einem kurzen Telefonat mit ihrer Mutter, der Besuch ihrer Eltern angekündigt worden.
Vor gut vier Monaten war Christina von einem kleinen, bayerischen, erzkatholisch -verschlafenen Dörfchen nach Münster in Westfalen gezogen, um dort das Studium der Humanmedizin aufzunehmen.
Bereits in den ersten Tagen, nach blickenden Vergleichen mit weiteren Frauen, erkannte sie die Notwendigkeit von erheblichen Veränderungen ihres äußeren Erscheinungsbildes, um in dieser, von weiblicher Schönheit durchzogenen Stadt überhaupt wahrgenommen zu werden. Daher legte sie die Brille zugunsten von Kontaktlinsen ab, ließ sich ihre Bubenfrisur, zuvor von dunkelblond auf schwarz gefärbt, der neuesten Mode anpassen, und auch die Kleidung, früher bestehend aus einfachen Hosen und Pullovern, wurde extravaganter.
Mit erregter Zufriedenheit, diese allerdings verwässert von automatischen Gedanken, betrachtete sich Christina schließlich im Spiegel, ihr Körper war inzwischen um eine der viel getragenen Tätowierungen auf dem unteren Rücken ergänzt worden.
Christinas anfängliche Unsicherheit in ihrem neuen Auftreten, und das sorgenvolle Zweifeln über Bewertungen dessen durch die Mitstudenten zerflossen im Nichts, als sie gleich zu Vorlesungsbeginn einzelne Bekanntschaften machte, und ihre ersten Männerblicke zugeworfen bekam. Sie wähnte sich in einer sozial-positiven Zukunft, bis eines Nachmittags, man hatte sich im Cafe getroffen, jemand die unheilvolle Frage stellte: „Was machen deine Eltern eigentlich beruflich?“
Christinas Vater arbeitete seit über dreißig Jahren in einer Textilfabrik, musste schwere körperliche Arbeit leisten, und hatte sich sogar bei einem Unfall zwei Finger abgetrennt. Die wirtschaftliche Krise bedrohte seit einiger Zeit seinen Arbeitsplatz, und nur durch drastische Lohnkürzungen hatte man seine Anstellung sichern können. Christinas Mutter war Hausfrau durch und durch, doch weil das Geld in der fünfköpfigen Familie bei weitem nicht für eine hohe Lebensqualität ausreichte, arbeitete sie nebenbei als Schneiderin.
Christina jedoch, unter großem Zwang nach den Äußerungen ihrer Bekannten, wonach deren Eltern allesamt Akademiker waren, antwortete, nach verdächtigem Zögern: „Auch meine Eltern haben studiert. Mein Vater schrieb eine Doktorarbeit in Chemie und arbeitet nun bei einem Pharmakonzern. Meine Mutter, mit einem abgeschlossenen Germanistikstudium, ist eher auf dem geisteswissenschaftlichen Gebiet bewandert.“
Quälende Krämpfe durchschnitten nach diesen Worten Christinas Magen, und es war für sie unergründlich, ob sie von dem scheußlichen Milchkaffee, den sie trotz Enzymmangels trank, oder von der zerdrückenden Schuld, die nach der Verleugnung ihrer Eltern ihr Herz befiel, verursacht wurden.
Doch diese Beschwerden waren bald abgeklungen, sie versanken im rastlosen Lebensrausch der Christina B.. Viele Feierlichkeiten zehrten allerdings an ihrer sonst so wackeren Gesundheit, auf die sie kaum noch Acht gab. Alkohol, leichte Drogen, und im Alter von zwanzig Jahren der erste blümchenhafte Sex, worauf in immer kürzeren Intervallen, suchtartig, die weiteren heißfeuchten Nächte folgen sollten, dies bestimmte ihre neue, mit voller Absicht erwählte Lebensart.
Das Studium betrachtete Christina als überaus lästige Pflichterfüllung, der sie jedoch enorm selten nachkam. War sie im Abitur noch, unter neidvollen Beifall, als Jahrgangsbeste ausgezeichnet worden, hinkte sie nun am unteren Leistungsrand durch das Semester. Die von ihren Eltern so oft beschworenen, unabdingbaren Tugenden, Ehrgeiz, Sorgsamkeit und Fleiß fehlten völlig. Dabei war Christina, als weitaus Klügste von drei Schwestern, doch stets die verplante Hoffung der Familie auf ein gut situiertes Dasein gewesen.
Auch ihre musischen Begabungen, besonders von der Mutter als Zeit stehlendes Hindernis für eine erfolgreiche Karriere gesehen, und daher über Jahre hinweg in kleinsten Entfaltungen belassen, ließ sie verkümmern. Mit Ekel und tiefstem Abscheu verfluchte sie ihre, in der schmutzigsten Ecke des Zimmers gelagerte Violine. Allein der materielle Wert des Instrumentes, sowie die Tatsache, dass ihre Eltern, um dessen Anschaffung finanziell in den Bereich des Möglichen zu heben, einschneidende Entbehrungen auf sich genommen hatten, hinderten Christina daran, ihre Violine in vollster Wut aus dem Fenster zu werfen. Neuerdings galt ihr Hörerinteresse der Rockmusik, und es irritiere sie keineswegs, dass ihr sanftmütiges Herz bei solch kunstlosen Klängen unbewegt blieb, wo sie doch früher bei den erhabensten, klassischen Werken häufig in Tränen der Rührung ausgebrochen war.
Höchste Seelenfreude und tiefste Depression kehrten in dieser Zeit, in einem vom Schicksal geleiteten Wechselspiel, recht regelmäßig wieder. Letzteres wurde meistens durch erkundigende Anrufe von Christinas Eltern ausgelöst. Stetig versicherte sie ihnen, mit gewohnter Arbeitsweise im Studium schnell voranzukommen. Selbsthass zerfraß sie in diesen Momenten, wie ein Virus schlich das schlechte Gewissen an ihrem Körper hoch, und war erst nach einiger Zeit, nach vielen, glücklichen Augenblicken, gänzlich ausgerottet. So verflog ihr erstes Semester an der Westfälischen Wilhelms Universität, ohne eine Begegnung mit ihren nichts ahnenden Eltern.
Christina hatte inzwischen ihr durchwirrtes Haupt notdürftig in eine intelligenzähnliche Ordnung gebracht. Von dem daraus resultierenden Gefühl der Panik bestimmt, versuchte sie nun naiv, ihr früheres Aussehen wieder zu erlangen. Nach elendiger Suche entdeckte sie die Brille, auch ihre tief verstaute Kleidung holte sie hervor, und verdeckte somit ihre sonst sehr freizügig präsentierte Tätowierung. Die bis zur Zersplitterung nachgefärbten Haare wollte sie mit einem Missgriff eines minder begabten Coiffeurs rechtfertigen.
Wie einen verloren geglaubten Freund nahm sie schließlich ihre Violine an sich und wollte mit einem kleinen Mozartstück beginnen, dass ihr immer hervorragend gelungen war, und ihr für die Begrüßung der Eltern besonders geeignet schien. Doch jedes Mal, wenn sie den Bogen zum Spiel ansetzen wollte, zitterte die Hand, in angeschlagener Gesundheit, wild herum, und kein sanfter Ton entwich den Saiten. Unter Tränen versuchte sie es bis zur Erschöpfung, aber das Talent hatte sie verlassen, als logische Bestrafung für ihren zuchtlosen Lebenswandel.
Plötzlich wurden die falschen Noten vom Geräusch der Klingel wohltuend übertönt. Die Eltern waren eingetroffen, machten in Münster Halt auf dem Weg zum lang ersparten Nordseeurlaub. Christina legte das Instrument behutsam aufs Bett, sie wollte versuchen, eine Handverletzung als Ursache ihrer Unmusikalität vorzutäuschen. Nach schweren Schritten öffnete sie in demütiger Haltung ihren Eltern die Tür.
Herzlich umarmten sie ihre Tochter, die ihrerseits einige ängstliche Gesten machte, und so ein groteskes Gemisch von Gefühlen erzeugte. Die erwarteten Nachfragen hinsichtlich ihrer Haarfarbe beantwortete sie kurz und zufrieden stellend mit der zurecht gelegten Ausrede, so dass man sich früh in Erzählungen über das Studium, von Lügen völlig durchsetzt, sowie über familiäre Ereignisse verlor. Christina wünschte sich sehnlich den Zeitpunkt der Elternabreise herbei, ungeduldig schielte sie zur Wanduhr, jeder unumkehrbare Schritt des Zeigers entspannte ihr aufgekratztes Gemüt. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie ihren Lügenturm tatsächlich aufrecht zu erhalten vermochte.
Ohne obligatorische, klingelnde Ankündigung tobten aber auf einmal ihre Freunde in das nun ganz ausgefüllte Zimmer. Sie ließen sich in ihrer offensichtlichen Feierstimmung durch die Anwesenheit der Eltern Christinas keineswegs beeinträchtigen.
„Guten Abend, Herr Doktor B. , und Frau B. . Komm, Christina. Spontanparty!“ hieß es.
Die Eltern waren irritiert ob der wilden Jugendgruppe, und der zu Unrecht erteilten, betitelten Anrede.
„Doktor B.? Was hat das zu bedeuten, Christina?“, fragte der Vater.
Christina senkte das Haupt zur Buße, ihr Hirn wurde von einem ungeheuren, schwarzen Druck zusehends zerquetscht, und ihr war bewusst, dass sie diesen bedrohlichen Prozess allein durch die reine Wahrheit aufhalten konnte.
„Meine lieben Eltern“, begann sie, „ich habe euch etwas zu beichten.“
Kopf nickend gab die Mutter ihr ein wohlwollendes Zeichen, als wolle sie ihre Tochter zur Offenheit weisen.
„Ich habe meinen Freunden erzählt, ihr beide seid Akademiker.“ Sie wandte sich, minderwertig fühlend, an ihre Freunde. „ Dabei ist mein Vater gewöhnlicher Arbeiter.“
„Du hast dich für uns geschämt?“, fragte der Vater rhetorisch.
„All ihre Eltern sind Akademiker. Ich hatte Angst, sie hätten nichts mit mir zu tun haben wollen, wenn ich zugegeben hätte, aus einer Arbeiterfamilie zu stammen.“
„Christina“, sagte einer der Freunde, „deine Existenz definiert sich doch nicht über den Beruf deiner Eltern. Oder überhaupt über deine Herkunft. Sondern allein über deine Persönlichkeit.“
„Kluge Gedanken.“, kommentierte die Mutter.
„Es ist noch nicht alles.“, fuhr Christina fort, „Was ich euch über das Studium gesagt habe, ist gelogen. Ich habe nichts erreicht. Aber ich werde alles nachholen, das verspreche ich. Ich war jede Woche aus, habe mich betrunken, auch die Haare habe ich selbst gefärbt, und mich sogar tätowieren lassen.“
Zitternd, den Zorn des Vaters erwartend, schaute sie zu Boden.
Aber der Vater sprach: „Beruhige dich, Christina. Natürlich sind wir enttäuscht über diese Verleugnungen. Aber ich kann deine Ängste verstehen. Du wolltest deine Freunde eben nicht verlieren. Doch bedenke: Wenn sie dich wegen uns verlassen hätten, wären sie dann wirklich deine Freunde gewesen?“
„Nein. Wie wahr, Vater.“
„Ehrlich gesagt haben wir damit gerechnet, dass du wenig Zeit für das Studium aufwenden wirst, in der neuen Stadt, mit neuen Menschen. Du musstest dich erst einmal einleben. Das ist doch normal. Ich bin sogar ein bisschen stolz auf dich. Du warst früher ein Mauerblümchen, und schau dich jetzt nur an, eine attraktive Frau ist aus dir geworden. Und doch bleibst du unsere Tochter. Uns kannst du immer die Wahrheit sagen. Stehe zu deinen Taten! Dies solltest du hieraus lernen. Und nun geht schön feiern. Begleitet ihr uns noch zur Tür?“
Nach diesen weisen Worten, wie sie nur ein Mann aus dem vollsten Leben, und kein gelehrter Turmbewohner sprechen kann, machten sich Christinas Eltern auf den Weg in den wohlverdienten Urlaub. Mutter und Vater umarmten ihre Tochter gleichzeitig, als durch nichts aufzulösende Verbindung. Christina blickte mit Wehmut dem Wagen hinterher, und wisperte leise: „Vergebt mir.“

 

Hallo Mike,

nicht, dass mir die Moral der Geschichte nicht gefiele, ich finde sie aber gerade zum Ende hin doch arg aufgetragen. Alles löst sich in Wohlgefallen auf, alle Konflikte werden vermieden. Weder die Studenten noch die Eltern sind empört über die Lüge. Es herrscht anheimelndes Verständnis.

Stilistisch kann ich dir auch nur wünschen, dass du irgendwann mal deinen eigenen Stil findest. Diese geschwollene Sprache im Zusammenhang mit einem Text, der über weite Strecken eher Charakterisierung denn Geschichte ist, liest sich sehr langweilig und ich war das eine ums andere Mal versucht, abzubrechen. Dabei gefiel mir der Ton grundsätzlich schon, du hast ihn nur maßlos übertrieben und so distanziert berichtet, dass nur sehr selten eine eigene Emotion in mir auftauchte, etwa, als Eva die Lüge über ihre Eltern erzählt.

Lieben Gruß, sim

 

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