Besuch eines Engels
Der Scotch floss seinen Mund hinunter, brannte wie aseptische Lösung in seiner Kehle. Mit einer Drehung seiner pelzigen Zunge verteilte er die Gerbstoffe im Rachen. Es war eine herbe Empfindung, ein Geschmack voller Melancholie. Mit mehr Kraft als nötig knallte er das Glas auf die Tischplatte. Das einsame Eisstück tanzte durch den Schwung herum, ehe es in der braunen Pfütze zum Erliegen kam.
Der Vollmond illuminierte seine Suite, bleichte die Farben der Objekte anstatt sie hervorzuheben. Das Licht war dezent, unaufdringlich. Es war genau die Art von Licht, die er sich in einer solchen Nacht als Besucher wünschte. Die zahlreichen Spiegel im Raum zeigten seine Silhouette, nicht sein Gesicht. Wie angenehm, wie aufmerksam der Mond doch war.
Er wollte sich selbst nicht betrachten, er konnte es nicht mehr ertragen in seine eigenen Augen zu schauen. Verachtung würde er erkennen, der Mangel jeglichen Selbstrespekts. Schuld, die ihn von innen zerfraß, so wie der Scotch, der in seinem leeren Magen rumorte, nur tausendfach schlimmer. Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte die Fenster geöffnet und eine sanfte Brise wehte ins Zimmer, machte die Schwüle erträglicher. Wieso aber wurden die Vorhänge nach draußen gezogen, wenn der Luftzug sich in den Raum bewegte?
Mit den Reflexen eines Soldaten zog er seine Pistole aus dem Holster, betätigte den Mündungsblock und richtete den Lauf auf das offene Fenster. Eine Person stand an der Schwelle zum Balkon. Es war eine junge Frau, kaum dem Mädchenalter entwachsen. Sie trug ein langes, fließendes Abendkleid, das sich vorteilhaft um die Kurven ihres Körpers legte. Ihre Füße steckten in hochhackigen Riemchenschuhen. Mit gekonntem Schwung drapierte sie den Vorhang um ihre fast nackten Schultern, strich dabei eine lange, glatte Haarsträhne aus ihrer Sicht. Ihre feinen Lippen waren zu so etwas wie einem Lächeln verzogen, aber für ihn sah es fremd aus, unerklärbar und unerwartet. Sein Zeigefinger verkrampfte sich. Überlebenstrieb und Neugier wogen in einem inneren Kampf hin und her. Abdrücken oder nicht?
„Wer bist du?“
Die geheimnisvolle Schönheit legte ihren Kopf leicht schief, so dass er einen guten Blick auf das Profil ihres schlanken Halses erhaschte. Sie berührte mit dem kleinen Finger ihren Mund, als müsste sie ernsthaft über diese Frage nachdenken.
„Ich bin diejenige, die ihren Auftrag erhalten hat.“
Nach diesen Worten war er einen Moment lang sprachlos. Wenn er nicht wüsste, dass achtunddreißig Leibwächter innerhalb dieses Hotels patrouillierten, er hätte ihre Behauptung als einen dummen Scherz abgetan. Mit einem Schaudern dachte er daran, dass einige seiner Bewacher eine Ausbildung in der Spezialeinheit genossen hatten. Ehemalige Mitglieder der Navy Seals, seiner Einheit.
Er spitzte seine Ohren, horchte nach der Andeutung eines Alarms. Nichts. Sein Raum war still wie ein Grab. Nur die unbefugte Person am Balkon störte die perfekte Ruhe.
„Wieviele meiner Wächter hast du getötet?“
„Niemanden natürlich, General Morrigan. Ich töte nur, was im Vertrag steht und von Wächtern ist darin nicht die Rede.“ Er schluckte. Wenn diese Frau die Wahrheit sprach, dann waren ihre Fähigkeiten im Infiltrieren geradezu übernatürlich.
„Die mysteriöse Attentäterin, Codename: Kyrias“, murmelte er. „du bist kaum älter als ein Mädchen, wer hätte das gedacht?“
Sie schwieg ihn an, ihr Gesichtsausdruck ein Ebenbild der Ruhe und Gelassenheit. Nicht die geringste Drohung ging von ihr aus. Sein Kampfinstinkt, geschärft durch langjährige Kriegseinsätze, sprang nicht an. Er entspannte sich und senkte seine Waffe, betrachtete seine Besucherin zum ersten Mal ohne seine Pistole im Blickfeld: Ihre Figur, teilweise verdeckt von dem weichen Stoff des Vorhangs, der sanfte Wind, der ihre offenen Haare zauste, das blass-silberne Licht des Mondes; es war eine Komposition, ein Gemälde, eine unnahbare Ästhetik, und sie berührte sein schweres Herz.
„Warum bist du hier und riskierst es verhaftet oder erschossen zu werden? Mein Attentat ist für morgen früh neun Uhr dreißig angesetzt.“
„Ich weiß. Aber ich wollte Sie fragen, nach dem Grund meines Jobs.“ Sie zögerte kurz, warf ihm dabei einen koketten Blick zu, der schüchtern und provokant zugleich wirkte. „Ist das vielleicht komisch von mir?“
Morrigan lachte bei dieser Frage auf. Sie klang so unschuldig, so unverdorben, so gar nicht nach der grünen Hölle, die ihn die letzten Nächte in seinen Alpträumen heimgesucht hatte. Flammen loderten vor seinen Augen auf. Napalm, das Höllenfeuer auf Erden, das sie den Einheimischen brachten. Der würgende Geruch von verbranntem Fleisch und Haar. Er kniff die Augen zu, zwang die Erinnerungen in die Tiefen seines Bewusstsein zurück.
„Ich denke, deine Neugier ist nicht weniger komisch als die Aufgabe, die ich dir gab. Welcher hochdekorierte US-General gibt seine eigene, öffentliche Ermordung in Auftrag?“
Er füllte sich ein weiteres Glas Scotch ein. Dann breitete er beide Arme in einer einladenden Geste aus. „Jetzt wo du es bis hierhin geschafft hast, halte dich nicht zurück! Frag mich was du willst.“
Sie dachte einen Moment nach. Dann schaute sie ihn voller Ernst an. „Haben Sie Spaß, General?“
„Spaß?“, sprach er das Wort, als probierte er es in seinem Mund aus. Das war eine seltsame Frage, eine Frage die er erstmal verdauen musste. Er dachte nach, seufzte dann tief. „Ich habe die Bedeutung davon schon lange vergessen. Weißt du, es ist erschöpfend, ein Leben zu führen, das so sehr der eigenen Natur widerspricht.“
„Was ist Ihre Natur?“
Er zuckte die Achseln. „Vielleicht eine florierende Farm. Ein ruhiges, friedliches Leben zusammen mit einem hübschen Ding.“ Dann lachte er auf. „Das waren meine albernen Träumereien als junger Mann, aber da war dieser Ruf, dem Vaterland zu dienen und ich entzog mich ihm nicht. Onkel Sam wollte uns, unsere Generation, unseren unverfälschten Patriotismus und als Onkel Sam befahl, standen wir bereit, Gewehre im Anschlag.“
Er hob sein Glas und prostete ihr zu. Dann stürzte er den Scotch hinunter. Auch diesmal brannte es beim Trinken, doch es schmeckte besser, weniger nach Selbstmitleid.
„Jetzt bin ich alt, schwach und vielleicht ein bisschen weiser geworden. Es ist schwierig mit meinen Kollegen darüber zu reden. Zur Hölle, während des Krieges hätte ich jeden meiner Jungs mein Leben in einem Kugelhagel anvertraut. Ich hätte jeden von ihnen meine Schulter oder meine Arme geliehen, um ihr verdammtes Leben in der Schlacht zu retten.“ Er beugte seinen Rücken, schüttelte den Kopf. „Aber über das Richtig und Falsch von Vietnam zu reden, jenen Wahnsinns zu reden, geht in meiner Position einfach nicht. Es ging dreißig Jahre lang nicht. Zu viel Politik, zu viele Intrigen, zu viele Fallstricke.“
„Was möchten sie mit ihrem Tod bewirken?“
„Es ist ein Aufschrei.“ Er wies auf seine Uniform, die nahe der Tür hing. „So viele Orden, sogar zwei Purple Hearts. Aber was sind sie wert? Mein Ego kann ich damit nicht mehr pflastern und so sind sie nichts weiter als Werkzeuge. Sie blähen mich zu mehr auf als einem Menschen. Ich werde zum Symbol gemacht. Ein Symbol für die Richtigkeit jenes Krieges. Und genau dieses künstliche Symbol wird morgen zerstört werden.“ Er zeigte mit einem Finger auf sie und drehte ihn dann zu sich selbst. Er tippte genau auf die Mitte seiner Stirn.
„Und sie denken, die Welt da draußen wird nach ihrem Attentat die Schlüsse ziehen, die sie für richtig halten?“
„Vielleicht.“
„Möchten Sie sich nicht einfach der Verantwortung entziehen?“
„Wenn ich das wollte, könntest du mir da einen Vorwurf machen? Die Verantwortung eines Überlebenden ist hart zu schultern. Ich fühle mich müde, so unendlich müde.“ Er vergrub seinen Kopf in seinen Händen. „Mein Herz, meine Seele ist damals gestorben. Inmitten der verkohlten Kinderleichen, dem gnadenlosen Kugelhagel im Dschungel, dem Terror in den Augen der Mütter, die ich erschoss, weil sie ihre Waffen gegen mich richteten. Ich bin nun ein Fremder in meinem Heimatland, in dieser Nation des Konsums, der Heuchelei, der Verdrängung.“
Ihr Blick war voller Verständnis. „Ich bin nicht hier, um Ihre Handlungen zu werten. Aber ist das wirklich der einzige Grund für Ihren Todeswunsch?“
Morrigan lachte. „Du bist schlau, Mädchen.“ Er hielt inne, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Konnte er es ihr sagen, ohne dass sie ihn für verrückt erklärte? Dann lachte er auf. Was nahm er ihre Meinung so wichtig? Schließlich war er ihr Klient.
„Kennst du das Gefühl, im Leben manipuliert worden zu sein? Das Gefühl, als ob jede deiner Aktionen durch Fäden gelenkt wird?“
Ihre Miene zeigte nicht mal eine Spur von Skepsis. „Und wer lenkt diese Fäden?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe immer und immer wieder versucht, ihnen auf die Schliche zu kommen. Sie sind wie ein Phantom. Sogar in meiner Position bin ich nicht in der Lage sie zu finden. Ich kann weder sagen ob sie im Weißen Haus sitzen noch inwiefern sie mit der Waffenlobby oder den großen Wahlkampfspendern verknüpft sind.“
„Seit wann werden Sie schon gelenkt?“
„Seit meiner Beförderung zum General. Vielleicht schon vorher, in Vietnam. Ich habe Dinge überlebt, die kein Mensch überleben durfte. Wer weiß?“
Die Tür zu seiner Suite öffnete sich. Einer seiner Leibwächter trat ein. Helligkeit überflutete seinen Blick, als das Licht anschaltet wurde. „General, ist alles klar? Ich habe sie reden gehört.“
Er blickte sich um. Sie war verschwunden. „Alles im grünen Bereich, Dick.“ Er hob sein Schnapsglas. „Ich habe etwas getrunken und über alte Zeiten nachgedacht. Manchmal murmele ich dann vor mich her.“
Der Leibwächter kniff die Augen zusammen, blickte sich vorsichtig um. Dann zuckte er mit den Schultern. „Rufen sie mich, wenn was Verdächtiges passiert, General. Soll ich das Licht wieder ausmachen?“
„Ich bitte darum.“
Dunkelheit empfing ihn erneut. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Sie sind einsam, nicht wahr?“
Er zuckte zusammen. Die junge Frau stand nun mitten im Raum. Sie hatte ihre Arme nach hinten verschränkt und lächelte ein süßes Lächeln.
Er atmete tief durch. „Bist du eigentlich real?“
„So real, wie die Leute, die sie wie eine Marionette lenken.“ Sie streckte ihre rechte Hand aus. Eine schlanke Hand. Eine schöne Hand.
Er zögerte. War sie ein Hirngespinst? So wie die geheimnisvollen Puppenspieler, die Amerikas Schicksal kontrollierten? Für die er nicht mehr war, als ein kleines Zahnrad in einem großen Getriebe?
Sie neigte ihren Kopf leicht zur Seite. Eine kleine Geste, die ihrer Einladung mehr Nachdruck verlieh. Langsam, sehr langsam streckte Morrigan seinen Arm aus, ergriff die Hand der Frau, die morgen sein Leben nehmen würde. Er spürte Kraft in ihren Fingern, Schwielen an Handfläche und Zeigefinder. Diese Hand gehörte keinem Mädchen, auch wenn ihr Äußeres darüber hinwegtäuschte.
„Was bist du?“ Er stand auf, während er sie noch immer festhielt.
„Heute bin ich nur eine nächtliche Besucherin“, flüsterte sie. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. „Tanzen Sie, General?“
„Manchmal.“
„Das genügt.“ Sie kam ihm noch näher, umfasste seine andere Hand und führte sie zu ihrer Taille. Der Stoff ihres Abendkleids fühlte sich an wie Samt, weich und geschmeidig wie ihr Körper. Er machte den ersten Schritt und sie folgte, als kannte sie seine Gedanken. Walzer war das einzige, was er beherrschte. Entsprechend drehten sie sich unter der Führung einer imaginären Musik im Raum herum. Es überraschte ihn, wie einfach ihm das Tanzen fiel.
„Sie führen gut“, lobte sie ihn.
„Danke“, sagte er und drehte sie unter seinem Arm zu sich heran, so dass sie mit ihrem Rücken seine Brust berührte. „Du bist auch einsam, oder?“
Sie schenkte ihm ein überraschtes Lächeln. „Wie kommen sie darauf, General?“
„Eine junge Frau wie du hätte es sonst sicher nicht nötig, einen alten Hasen wie mich für einen Plausch in der Nacht aufzusuchen. Du kannst dich vor Verehrern sicher nicht retten.“
Sie kicherte. „Flirten Sie etwa mit mir, General?“ fragte sie voller Heiterkeit. Dann blickte sie von ihm weg. „Wissen Sie, in meinem Job ist es besser, keine engen Bindungen einzugehen.“ Er hörte zum ersten Mal, wie ihre Stimme einen traurigen Klang annahm.
Er ließ sie los und ging einen Schritt von ihr zurück, ließ den magischen Moment verblassen. „Du bist noch jung. Du kannst dich noch ändern im Gegensatz zu mir. Du musst diesen Job nicht dein Leben lang machen.“
„Sie möchten doch etwa nicht aus unserem Vertrag austreten, General?“
Er stutzte, schüttelte dann den Kopf. „Nein.“
„Sehen Sie? Auch ich habe meine Gründe, das zu tun, was ich tue, so wie Sie.“
Er war selbst erstaunt, als sich sein Gesicht zu so etwas wie ein Lächeln verzog. Er konnte sich schon nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal für eine andere Person und nicht für die Kameralinse gelächelt hatte. „Danke.“
Sie zog eine unschuldige Miene. „Ich habe doch gar nichts gemacht.“
„Du hast mir zugehört.“
Sie blickte ihn verwundert an, bevor sich ihre sanften Züge wieder klärten. „Dank akzeptiert.“ Beide erforschten die Augen des jeweils anderen, hielten sich einen langen Moment allein durch die Intensität ihrer Blicke fest. Dann brach sie den Kontakt ab. „Ich muss jetzt gehen.“
„Tu das.“
Gleich der Brise, die noch immer in sein Zimmer wehte, drehte sie sich um. Ihre langen Haare wirbelten wie ein Wasserfall. Sie verließ den Raum durch das offene Fenster, lautlos und sanft. Er versuchte erst gar nicht, ihr zu folgen.
Exklusiv-Meldung aus Washington DC:
Attentat in der Hauptstadt.
Der drei-Sterne-General Steve Morrigan wurde heute um 9:30 Uhr während einer Ansprache am Washington War Memorial erschossen. Die Tat geschah während seiner Rede, die er für die gefallenen Soldaten im Vietnamkonflikt hielt. General Morrigan war ein hochdekorierter Veteran, sowie ein einflussreiches Mitglied der NATO. Er war auch einer der führenden Köpfe bei der strategischen Ausarbeitung des Präventivschlags gegen den Irak. Die Hintergründe seiner Ermordung sind gegenwärtig unklar. Ein Pressesprecher des Weißen Hauses hat versichert, dass die Ermittlungen bereits laufen. Ich bin Samantha Brown, CNN. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.
Sie schaltete den Fernseher aus, blickte zu der Flasche mit der braunen Flüssigkeit. Eigentlich war sie noch zu jung, um Alkohol zu trinken, doch in ihrer Position gab es wirklich niemanden, der ihr was vorschreiben konnte. Gedankenverloren ergriff sie das Foto, strich mit ihrem Daumen über das Gesicht, das dort abgebildet war. Es zeigte einen Mann mit einem blitzblanken Lächeln. Einen Mann, den sie nicht kannte. Sie ergriff ein Feuerzeug und zündete das Foto an. Knisternd fraßen sich die Flammen durch das Bild, entstellten das perlweiße Lächeln, schwärzten es an. Sie ließ das brennende Stück Papier in ihren Aschenbecher fallen, goss sich dann etwas Scotch in ihr Glas.
„Auf ihr Wohl, General.“ Sie kippte sich das braune Gesöff hinunter, spürte, wie sich ihre Züge zu einer Grimasse verzogen. Die Flüssigkeit entzündete ein kleines Feuer in ihrer Kehle und schien sogar in ihrem Magen weiter zu brennen. Sie knallte das Glas mit mehr Kraft auf den Tisch, als es nötig gewesen wäre. Wie konnten Männer nur ein solches Zeug trinken? Sie stand von ihrem Sessel auf, warf dem Aschehäufchen einen letzten, nachdenklichen Blick zu und begab sich dann in ihr Arbeitszimmer. Sie brauchte weitere Aufträge.