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Besuch vom Tod
Heute Nacht habe ich den Tod gesehen. Er kam zu Besuch. Vor meinem Bett hat er sich aufgestellt, gekleidet in ein schwarzes Gewand, das ihn mehrfach umschlang und ihm bis zu den Knöcheln reichte. Seine dunklen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, so als wäre er gerade erst aufgestanden. Und auch wenn ich mir, während ich ihn ansah, dachte, dass der Tod nie schlief, und deswegen folglich nicht aufstehen konnte, meinte ich, einen Hauch von Müdigkeit in seinen Augen erkannt zu haben. Darüber, dass ich nicht erschrak, als er kam, wunderte ich mich nicht, auch wenn ich immer davon ausgegangen war, dass der Tod etwas darstellte, vor dem man sich fürchten musste. Und als er da so stand, im Schein meiner Nachttischlampe und auf mich herab blickte, breitete sich eine wohlige Wärme in mir aus.
„Hallo“, sagte ich, und ich nahm es ihm nicht übel, dass er mir darauf nicht direkt antwortete. Stattdessen machte er einen Schritt auf mein Bett zu, wobei der Stoff seiner Kleidung leise raschelte. Erst dann vollführte er eine Bewegung mit seinem Arm, die ich nicht deuten konnte, und sagte: „Nun...?“.
Da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, setzte ich mich auf, den Rücken an die Wand hinter dem Bett gelehnt, und streifte die Decke rechts und links meines Körpers glatt.
Der Tod beobachtete mich schweigend, bis die Stille langsam unangenehm wurde.
„Willst du dich nicht setzen?“, hörte ich mich fragen, kam mir aber gleich darauf wie ein Idiot vor (setzte sich der Tod überhaupt jemals?). Deshalb überraschte mich seine Reaktion: Er rückte den kleinen Stapel von getragener Wäsche, der am Fußende meines Bettes lag, zur Seite und nahm tatsächlich Platz.
Noch immer ruhte sein Blick auf mir, und ich muss zugeben, dass es auch mir schwerfiel, meine Aufmerksamkeit von ihm abzuwenden. Abgesehen davon, dass man so jemand wie ihn ja nicht alle Tage zu Gesicht bekam, sah er auch gar nicht mal so schlecht aus. Ich schätzte ihn um die Dreißig. Sein Gesicht schien weder ganz männlich, noch ganz weiblich zu sein. Hohe Wangenknochen, volle Lippen, die Nase in feinster römischer Manier geschwungen. Eine gelungene Mischung. So hätte ich mir den Tod ganz bestimmt nie vorgestellt.
„Es ist jetzt soweit“, riss mich seine Stimme unvermittelt aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen. Nicht weil er ungeduldig geklungen hatte oder drängend. Nein. Plötzlich war da etwas in mir, das mit seinen Worten gekommen zu sein schien. Es fühlte sich an, als würde alles in mir schreien, sich windend und tretend, schmerzhaft nach Außen drängend. Ich schloss die Augen. Doch eine sanfte Berührung an meiner Schulter ließ mich wieder aufsehen. Der Tod war an meine Seite gerückt und seine Hand, eine schlanke, langgliedrige, lag auf mir. Mit der anderen streichelte er mir in einer vorsichtigen, fast zärtlichen Bewegung über die Wange. Ein kühler Hauch blieb auf meiner Haut zurück. Ich senkte meinen Blick, gerade so, als hätte ich etwas zu verbergen, von dem ich selbst nichts wusste.
„Es ist einfacher, wenn du dich nicht dagegen wehrst“, sagte der Tod leise und ich nickte, ohne zu wissen, warum. Dann kam dieses Gefühl wieder. Das unangenehme Ziehen und Reißen wurde immer stärker, brutaler und gerade als ich die Augen wieder schließen wollte, spürte ich ihn. Mit beiden Armen hielt er mich von hinten fest. Das Gefühl verschwand dadurch zwar nicht, war aber einfacher zu ertragen.
Meine Augen tränten noch immer, als der Schmerz endlich nachließ, dann verschwunden und schließlich durch eine Leichtigkeit in mir ersetzt worden war, die sich anfühlte, wie etwas, für das die Sprache, der ich mächtig war, keine zutreffenden Worte kannte.
All die Zeit über hielt er mich in seinen Armen. Auch, als ich spürte, wie wir leichter, immer leichter wurden, uns auflösten und über den Dingen schwebten. Endlich begann ich zu verstehen. Ich sah nach unten, blickte auf mein Bett hinab. Auf mich, und auf all das Rot, das da war, wie eine Decke, zum Schlaf über mich gelegt. Und wäre da nicht die lange, hässliche Wunde an meinem rechten Unterarm gewesen, die das Bild seiner Illusion beraubte, hätte man tatsächlich meinen können, das ich genau das tat: schlafen.