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Betriebsversammlung
Herr Professor Doktor Doktor Fendrich von Heidenreich, oberster Geschäftsführer des Betriebs und begeisterter Golfspieler (Handicap 25), eröffnete die Betriebsversammlung mit einem Schluckauf.
Er trank hastig ein Glas Wasser halb leer, und begann mit seiner Rede, die ohne Umschweife direkt aufs Wesentlichste kam, und einen Excel Sheet beschrieb, der gerade eben noch auf die große Saalwand projeziert werden konnte, ohne, dass die Zahlen unleserlich klein wurden.
Dann klickte er schnell noch einige weitere Folien durch, und verlor ein paar Worte über dieses und jenes Diagram.
Kann doch eh kein Idiot verstehen, lautete seine Devise. Bei einigen Aufstellungen kam sogar er ins Grübeln, obwohl er die Präsentation eigenhändig hatte erstellen lassen. Als er zufällig einen Rechtschreibfehler unterhalb eines Tortendiagrams entdeckte, machte er sich eine gedankliche Notiz, und warf der Personalchefin einen bösen Blick zu, die ihrerseits so tat, als würde sie sich den Blaiser zurechtzupfen. Schweiß trat Heidenreich auf die Stirn. Hoffentlich hatte sonst niemand den Fehler bemerkt. Dafür würden Köpfe rollen, das war sicher.
"Also, wie angemerkt, ist der Profite im QM 06 unterhalb des O.L.L.R.S. auf die gestiegenen Fixkosten in den eigenen Produktionshallen zurückzuführen, die im Wesentlichen durch die geplante Personalanpassung geplante Reduzierung Ausgleich schaffen wird, zwischen den angestrebten externen Quality-Suspend-Indicates, warum ich im Besonderen auch auf die Unumgänglichkeit der outgesourcten Finance Disposables gerade auf dieses Thema zu sprechen kommen werde, sobald ..."
Da! Da fehlte ein Komma im letzten Satz. Was für eine Ungeheuerlichkeit. Da wollte man den Leuten aus der Produktion schonend beibringen, dass ihnen gekündigt wird, und dann diese Taktlosigkeit. Als wenn Ortographie keinerlei Bedeutung mehr hätte.
Zusätzlicher Schweiß trat auf Heidenreichs Stirn. Außerdem war ihm, als wäre sein Hemd zu eng. Der mittlere Bauchknopf übte einen gefährlichen Druck nach außen hin aus. Darunter war nichts, nur behaarte, nackte Haut. Es wäre eine Katastrophe.
"Übergeben wir das Wort an Herrn Doktor Siemers. Leiter der Human Resources"
Sichtlich überrascht, verwischte Siemers schnell das frisch aufgetragene Gel in seinen Haaren, brachte die Seidenkrawatte in Position, fuhr mit dem akkubetriebenen Bügeleisen kurz über die schwarze Stoffhose, und betrat mit einem Gewinnerlächeln die Bühne. Nur seine Aufzeichnungen hatte er liegen lassen. Seit jeher war Siemers kein Mann der auswendig gelernten Reden gewesen, daher kam auch er ohne Umschweife zum Wesentlichsten.
"Gibt es irgendwelche Fragen?"
Einhundertzwanzig Arme schnellten in die Höhe.
Siemers sondierte sorgfältig aus.
Entwickler ... zu intelligent.
Vertriebsinnendienstler ... Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.
Qualitätswesen ... der Typ wird mich in die Enge treiben.
Produktion ... zu direkt.
Azubi ... Azubi? Oh Mann!
Marketing ... brauche ich nicht aufzurufen. Der Etat wird nicht erhöht.
Aha. Endlich!
"Ja, bitte? Warten Sie, ich komme mit dem Mikrophon zu Ihnen."
Einige ´Buh´ Rufe aus dem Publikum.
"Was ich gerne wissen möchte, ist, werden Sie alles Menschenmögliche unternehmen, unseren Betrieb auch in Zukunft mit Hilfe von Spitzenpersonal wettbewerbsfähig zu halten?"
Kurze Pause.
Dann: "Eine sehr gute Frage, Herr Professor Doktor Doktor Fendrich von Heidenreich. Qualifikationen sind in der heutigen Zeit gefragt wie eh und je. Aber ... und das möchte ich betonen ... wir brauchen auch Leute, die anpacken können; keine Frage. Nur brauchen wir davon in Zukunft deutlich ... ich will es anders ausdrücken: Durch das Verschmelzen der Weltmärkte, die offenen Grenzen, Leuten in anderen Ländern eine Chance zu geben, Fixkosten zu senken ... und glauben Sie mir ... wenn wir das nicht machen, dann sitzt hier in einem Jahr keiner mehr von Ihnen, weil es unseren Betrieb nicht länger gibt. Eine Personalanpassung ist schlussendlich der einzige Weg, in diesem gefährlichen Wirtschaftsurwald zu überleben. Und ... der demnächst aufgestellte Sozialplan wird alle Mitarbeiter, die in der Anpassung inbegriffen sind, sehr berücksichtigen, und wir werden niemanden, also wirklich keinen Einzigen, unberücksichtigt lassen."
Gedämpftes Klatschen.
"Nun, wenn es keine weiteren Fragen mehr gibt, dann übergebe ich das Wort an den Betriebsratsvorsitzenden."
Kalle Magonie schüttelte heftig den Kopf, stand aber trotzdem von seinem Platz auf. Viele hatten ihn gewählt, weil sie um sein Problem wussten. Es verhalf ihm dazu, auch mal klare Wörter zu reden, und nicht immer bloß mit der Geschäftsführung rumzukuscheln. Kalle Magonie hatte vor seiner Wahl in den Betriebsrat, und vor seiner Wahl zum Betriebsratsvorsitzenden, im Wareneingang gearbeitet. Dort hatte er hauptsächlich Kartons ausgepackt.
Das Interessante an Kalle Magonie aber war, - und da waren sich wirklich alle einige - dass er an dem Tourette Syndrom litt. Der konnte Kontra geben, aber wie!
Der dickbäuchige Mann stellte sich aufs Podium, und legte dann auch gleich so richtig los. Vorher schüttelte er noch kurz den Kopf.
"Liebe Kollegen und Kolleginnen", begann er zu brüllen.
"Was uns hart Arbeitenden hier heute gezeigt wird, ist wie immer ... Arschloch, Wichser ... wie immer nur das, was wir alle kennen. Der kleine Mann wird geschröpft, und ... Arschloch, Arschloch ... keiner unternimmt was dagegen. Aber wenn die sogenannten hohen Herren vorhaben, hier langjährige Mitarbeiter aus der Produktion ... Wichser! ... zu entlassen, dann wird es Zeit, dagegen anzukämpfen. Hurensohn!
Ich weiß nicht, wie dieser ganze komplizierte, neue Managerschwachfug funktioniert, aber ich weiß, ... Arschloch, Wichser ... dass wir die Starken sind. Wir haben diese Firma ... Wichser ... groß gemacht. Also kämpfen wir. Mein Kollege von der IG Metall ... Fickscheiße, Arschloch ... wird Euch jetzt mal erzählen, das es andere gibt, bei denen es genauso angefangen hat."
Die Leute standen auf, applaudierten, pfiffen anerkennend. Eine halbminütige Standing-Ovation.
Kalle machte Platz für seinen Gewerkschaftskumpanen.
"Als ich damals, in meiner heute Insolventen, nein, pleite gegangenen Firma, der Betriebsrat war, da kamen die gleichen tollen Töne. Geldgeile Manager, und Yachten haben die, das könnt Ihr ... mir ... glauben, da haben wir auch alles so hingenommen, aber dann gings bergab, und die IG-Metall setzt sich für jeden Eurer ... ja, ganz Recht ... EURER Arbeitsplätze ein. Der Kollege hat absolut Recht!"
Ein "Arschloch" kam von der Seite.
"Wir müssen kämpfen!!! Kämpfen, kämpfen, und mit Worten laut schießen. Und wenn wir am Boden liegen, dann kämpfen wir weiter, und wir ... werden ... überleben. Also, steht auf und wehrt euch. Lasst es nicht geschehen."
***
Zwei Monate später waren die Sozialpläne aufgestellt, und die Hälfte der Belegschaft entlassen.
Who cares?