Bianca, die neue im Club der Schreiber
Bianca trat in den Raum und setzte sich zu den anderen in den Stuhlkreis. Es waren nur ausgewählte Menschen hier, solche, die die Regeln beherrschten und sich ausdrücken konnten. Eine elitäre Einheit, ihrer selbst bewusst, eine Gruppe, die zusammenhielt, weil jeder hier unter seinesgleichen war, man einander verstand.
Es war nicht leicht gewesen für Bianca, bis zu diesem Stuhlkreis vorzudringen. Sie hatte sich in unzähligen Schriften über die Gesellschaft, die Menschen und die Menschheit auslassen müssen, hatte ihren Standpunkt vehement kontrastieren müssen gegenüber der Vielzahl von flachen, oberflächlichen Meinungen. Wie ein Künstler, der ein Bild nicht an einem Tag malt, sondern wochenlang sich mit seinen Gefühlen in das Bild einmalt, eins mit ihm wird in jeder Farbe, jeder Form, jedem Pinselstrich, so auch hatte Bianca wochenlang Schreiben müssen, jeden Satz, jedes Wort, ja jeden Buchstaben immer und immer wieder lesen, sich Gedanken machen müssen.
Nun aber hatte sie es geschafft. Nervös wie ein Kind an seinem ersten Schultag setzte sie sich in die Runde, und stellte sich, nachdem sie dazu aufgefordert wurde, vor. Sie kam aus einem kleinen Dorf, war 20 Jahre alt und hatte Abitur gemacht. Auf sich aufmerksam hatte sie durch mehrere Schriften über die Mentalität der Dorfbewohner, ihrer Lebens- und Handlungsweise gemacht. Dazu hatte sie mit vielen Menschen geredet, sich ihre Eigenarten gemerkt und schließlich einen recht passablen Text, wie man allgemein hin anerkannte- abgeliefert.
Zwar war sie bei Weitem noch nicht ein solches Genie wie diejenigen unter den Anwesenden, welche jahrelang schon schrieben und Mitglieder in diesem ehrenwerten Club waren. Wie denn auch? Ein Genie wie Goethe eines war, der innerhalb von Stunden Texte aus der Hand zaubert, die die Jahrhunderte überstehen, nein: ein solches Genie wird der Menschheit nur in ganz besonderen Sternstunden zuteil. Die große Menge aber unter den guten Schreibern musste sich intensiv mit dem auseinander setzten, was sie schrieben und vor allem, wie sie es taten. Das hatte sie ebenfalls in einem Text herausgearbeitet.
Jetzt saß sie unter den ihren, nun war sie dabei. Es wurde angefangen, über neu geschriebene Texte zu sprechen, sie detailliert zu analysieren. Da wurde auf jeden Buchstaben geachtet, jedes Wort musste stimmen nach dem Gesetz des Clubs. Verstöße gegen die Rechtschreibung wurden als infantil, trivial, amateurhaft geahndet. Nur, wer die Sprache beherrschte, in der er schrieb, hatte eine Chance, anerkannt zu werden. Wichtiger noch als die Rechtschreibung war die Grammatik und die Art, in welcher sie gebraucht wurde; kurz: der Stil eines Schreibers. Hier gingen die Ansichten immer weit auseinander, nur selten wurde ein Text als absolut gut oder als absolut schlecht bezeichnet. Da es viele Texte gab, in denen sich ebenso viele Stile wieder spiegelten, hatte jeder im Club immer etwas zu sagen, immer etwas beizutragen zur Diskussion. Je konträrer die Diskussionen ausfielen, desto lieber war es den Mitgliedern. Verschiedene Meinungen, immer aber fundiert, trugen allgemein zu einer beredeten Atmosphäre bei, die sich durchaus auch hitzig äußern konnte.
Bianca jedenfalls war froh, erst einmal hier im Stuhlkreis zu sitzen. Sie würde sich noch einige Diskussionen anhören, bevor sie mit einsteigen würde. Der Abend war ja noch jung…