Werdendes Mitglied
- Beitritt
- 01.10.2010
- Beiträge
- 34
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Bildungswahnsinn
"Die Bildung ist unsere einzige Ressource, hat der Bundesminister gesagt. Nimm dir daran ein Beispiel!" Pauline warf mir einen Brockhaus-Band so kräftig in die Magengrube, dass ich zu schwanken begann und hinzufallen drohte. Doch Chalkias stützte mich gerade noch rechtzeitig ab. "Du wirfst noch mit Büchern, Pauli? Wie primitiv du doch bist. Sowas löst man heute eleganter, nämlich digital." Chalkias zog eine CD-Rom aus seiner Hemdtasche, die er mir in die Hand drückte. "Digitale Bibliothek. Ich hoffe, du interessierst dich für Geschichte? Da ist sie drauf, nicht in Teilaspekten, überuntergliedert, sondern komplett, in toto." Sekunden später schleuderte Bülent Kaiser eine dieser CD-Roms wie einen Wurfstern nach Chalkias. Dieser befühlte seine aufgeschlitzte Wange und sah ungläubig nach dem Kaiser, der seine Wurfhaltung aufrechterhielt, als wäre ein Bildhauer in der Nähe. "Ich hab es dir schon oft genug gesagt: Wir Historiker können mit Jacob Burckhardt nicht mehr arbeiten. Er ist überholt, du Hundesohn." Neben dem Kaiser stand ein dickbebrillter Junge mit Topfschnitt, offenbar sein Sohn oder Vater, na jedenfalls jemand, der seine Meinung teilte und sie dümmlich abnickte. Es kam zu einer türkisch-griechischen Quellenkritik-Battle, bei der das ein oder andere derbe Wort und bald auch die ein oder andere Faust flog. Das war mir zu dumm. Was mich allerdings nachdenklich machte, war die Frage, wieso diese Studenten so bildungseuphorisch, ja geradezu bildungswahnsinnig daherredeten. Im Rechenzentrum das gleiche Bild: wie verkabelte Labormäuse hockten Asiaten vor den Bildschirmen, niemals aufsehend, nicht einmal zwinkernd. Hunderte Drucker liefen heiß und spuckten ganze Bücher, wenn nicht Gesamtausgaben aus. Meine Augen tränten; die Drucker verströmten eine Backofen-Hitze und schienen dem Raum zudem Luft abzusaugen. Mit knapper Not konnte ich meine Hand dem Sog eines Druckers entziehen, der einen dampfenden Bauplan ausspie. Mit Mundschutz und Atemmasken, wie ich jetzt erst sehen konnte, saßen die Asiaten vor ihren Rechnern. Allein das niemals aussetzende Geräusch klimpernder Tasten hätte mich zielsicher in den Wahnsinn getrieben, wäre ich nicht im letzten Moment geflohen. Vor der Universitätsbuchhandlung streiften vermummte Ritalin-Dealer und andere Dunkelmänner herum, die sich meist in Rudeln auf ihre Opfer/Kunden stürzten. Ein Informatiker, der es offenbar für nötig hielt, ein Gespräch mit mir zu initiieren, erklärte mir, dass sich vor allem Erstsemester das Zeug andrehen ließen, während erfahrenere Studenten durch die Rudel wie durch Luft hindurchgingen. Schön hast du das gesagt, dachte ich. Gespräche sind wie Feuer: man muss sie austreten, bevor man allzu viele Nerven auf sie verschwendet. So ließ ich die Hackfresse mit ihrer Menschenkenntnis allein.