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Bis bald
Heute habe ich einen Engel gesehen. Du wirst mir das nicht glauben, doch ich weiß was ich gesehen habe. Es war ein Engel. Ganz sicher.
Es war heute Morgen. Ich liess mich von der Menschenmasse des Berufsverkehrs in die Bahnhofshalle spülen und versuchte mich irgendwie an den Rand zu kämpfen um der nachdrängenden Flut zu entgehen.
Ich weiß schon, warum ich den Stosszeiten eigentlich immer aus dem Weg gehe und ich habe grad nicht den Hauch einer Ahnung, wieso ich ausgerechnet heute diesen Zug nehmen musste...
na wie auch immer... leicht verschwitzt stand ich da nun, also am Rand der
Bahnhofshalle... es war laut, eng und die Gerüche aus den Imbissbuden, Kaffeetheken und verschwitzten Klamotten in Verbindung mit dem sterilen Putzmittelmischmasch der nächtlichen Putzkolonne ergaben einen etwas surrealen Geruch an diesem Morgen.
Ich lehnte an einer Wand und wartete eigentlich nur auf die Auflösung dieses
unübersichtlichen Menschenergusses ... als ich sie sah.
Ja, sie - ich bin mir sicher es war eine Frau, wenn man Engel geschlechtsspezifisch klassifizieren kann... der ganze Mist von wegen Androgynität der Engel und so... schon immer konnte ich mich schwer mit dem Gedanken anfreunden, daß Engel als Hermaphrodite erschaffen wurden, sofern sie überhaupt „erschaffen“ wurden, und seit heute bin ich mir dessen sicher... es gibt weibliche Engel.. und demzufolge dann wohl auch männliche Engel.
Sie war ganz in schwarz gekleidet und bewegte sich gegen den Menschenstrom, mühelos ohne anzuecken oder böse Blicke zu ernten.
Es schien, als ob sie von den Menschen gar nicht wahrgenommen würde und wahrscheinlich war es auch so.
Beinahe sah es so aus, als würde sie einfach hindurchschweben... feinstofflich... und obwohl kein Windhauch die Luft in der Bahnhofshalle zum wirbeln brachte, hatte es den Anschein als würde sie permanent angeweht werden, als ob sie auf einer Wolke aus Wind dahinglitt.
Ihre Haare bewegten sich, ihr langes .. Gewand.. ja, alles war im Fluss.
Ich konnte den Blick nicht abwenden, mein Mund stand offen. Alles war unwichtig, meine Tasche fiel zu Boden und ich starrte einfach weiter.
Dann sah sie mich an.
Dunkle, große Augen, schwarzglühend wie Kohle, durchdringend wie heisser Stahl sah sie mir durch die Augen direkt ins Herz und es tat weh. Der Schmerz durchfuhr mich wie ein Stich, nur um sich dann in Licht aufzulösen und sie lächelte. Sie kam direkt auf mich zu und ich sah, daß sich der Boden unter ihr in Nebel hüllte.. sie war barfuss.
Sie stand direkt vor mir, beinahe hätten sich unsere Nasen berührt. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und schaute mir immer noch direkt in die Augen. Sie fühlte sich angenehm kühl an und, mein Gesicht immer noch in ihren Händen, begann sie zu schweben, wie im Wasser...
ihr Körper erhob sich von der Erde und sie war nun beinah waagerecht vor mir, als ob sie aus einer anderen Welt in die unsere schaut, mich erblickt, mein Gesicht in ihre Hände nimmt um mir etwas mitzuteilen... und dann sagte sie etwas.
- Was hat sie gesagt?
Das verrate ich nicht...
- Du bist gemein.
Ja.
- Und wie ging es weiter?
Ich hatte das Gefühl, als wäre ich mit ihr alleine auf der Welt. Alles um uns herum verschwamm zu einem Brei und es entstand eine Art Blase aus Licht um uns herum. Ich versuchte nach rechts oder links zu schauen doch ich konnte nicht, stattdessen sahʻ ich durch ihre Augen und alles um mich herum erschien tot... die Menschen bewegten sich, allerdings langsam und schwerfällig...
- wie Zombies
Ja, wie Zombies, nur ab und zu erschien ein heller Fleck in der grauen Masse
menschlichen Fleisches. Wir begannen uns zu drehen, ich fühlte wie Tränen mein Gesicht hinunterliefen und alles was ich fragte war: „Was kann ich tun? Was kann ich nur tun?“ und alles um uns fing an sich entgegengesetzt zu drehen, immer schneller, immer schneller und mit einem stillen Explosion weissen Lichts stand ich wie elektrisiert alleine in diesem weissen Nichts.
Nur langsam erschien die Bahnhofshalle um mich herum,
Geräusche wurden langsam lauter und die Gerüche nahmen zu...
ein Geruch war neu an meiner Kleidung und kaum wahrnehmbar, dennoch haftend verströmten meine Sachen den Geruch von Weihrauch.
Ich brauchte einen Moment um klar zu kommen, sackte kurz zusammen und suchte dabei nach meiner Tasche auf dem Boden. Ich stand wieder auf und sah auf die Uhr. Es war bereits Mittag. Ich kam zu spät... massiv zu spät. Ich lief also schnell aus der Halle raus durch die Stadt in mein Büro und tat so, als ob ich extrem verschlafen hätte. Ich habe übrigens Dir die Schuld gegeben.
- Mir?
Ja, Du bist krank geworden und konntest in der Nacht nicht schlafen.
- Hm, aber Dein Boss wird doch wissen das ...
Ja sicher weiß er es. Aber für ihn bin ich nur ein grauer Klumpen Mensch in der
Einheitsmasse. Ich denke er wird sich nicht erinnern...
- Ah. Nett. Und was passierte dann?
Mhm, sehr nett ich weiß. Ist aber auch ganz in Ordnung so.
So, was passierte weiter... nun, nichts besonderes eigentlich. Ich habe gearbeitet. Nach Feierabend bin wieder zum Bahnhof gegangen und habe mich natürlich umgesehen... aber nichts. Also stieg ich in den Zug und fuhr nach Hause.
- Und nun sitzen wir hier und Du erzählst mir die Geschichte.
Genau.
- Hmm...
Wie hmmm... was denn?
- Ich frage mich, was Du nun daraus machst?
Aus der Geschichte? Dem Erlebnis? Tja, ich weiß es noch nicht genau. Im Moment ist das alles noch so unwirklich und doch so ... nah... und wenn ich an den Faktor Zeit denke, wird es irgendwann im Rausch der Erinnerungen verschwinden und wahrscheinlich werde ich mich mich nur noch im Traum daran erinnern... wie an eine Geschichte, die man mal vor langer Zeit gelesen hat.
- Und was hat sie nun zu Dir gesagt?
Das fragst Du sie am besten selber, wenn Du ihr begegnen solltest.
- Och menno! ... Ich muss nun auch los, Papa. Und wahrscheinlich war es das letzte Mal, daß ich kommen konnte.
Ja, ich wusste, daß es irgendwann passieren würde.
- Es wird immer schwerer, der Weg wird immer dunkler je mehr Zeit vergeht.
Ich weiß, Kleine. Und nun gehʻ, Du wirst sowieso immer bei mir sein. IHR werdet immer bei mir sein. Grüße Mama von mir.
Ich nahm meine kleine Tochter noch einmal in den Arm, strich ihr über die Wange und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schaute mich traurig an, lächelte aber trotzdem kurz, sagte "bis bald" und verschwand.
Am nächsten Tag wachte ich auf. Es war Samstag... glücklicherweise.
Nach dem Frühstück ging ich über den Markt, kaufte zwei große, gelbe Sonnenblumen - ihr mochtet immer so gerne Sonnenblumen - und machte mich auf den Weg zum Friedhof.