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Bis morgen, im Paradies

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08.05.2005
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Bis morgen, im Paradies

„Da hinten ist das Paradies, Kleiner“, erklärte mir der alte Simon, indem er auf den Häuserblock rechts am Horizont zeigte. „Musst einfach nur gut genug hinsehen. Siehst du sie jetzt, die Schokoladenbäume und Gummibärchensträucher? Da vorne raus musst du gucken. Dann siehst du sie ganz klar. Setz‘ die Brille auf, wenn du nichts siehst! Komm‘ her, dichter zu mir. Musst du dir wirklich anschauen! Überall Schokolade, und gebrannte Mandeln, und Zuckerwatte, und dort, schau hin!, ein riesiger Berg Pommes Frites.“

Ich konnte nichts erkennen, so sehr ich mich auch anstrengte. Da waren keine Mandeln und auch keine Zuckerwatte. Auch die Brille half nicht. Die war sowieso auf einer Seite zerbrochen.

Eigentlich waren da hinten doch nur die gleichen hohen Häuserblöcke wie vorgestern, als ich das letzte Mal hier gewesen war, das Haus von Onkel Friedhelm und das des Bezirksvorstehers. Ein bisschen enttäuscht war ich wieder, wie immer auf dem Balkon des alten Simon. Ich fing an zu heulen, woraufhin er mir den Kopf streichelte und mir vorsang. Alles wie immer, bis Simon auf einmal mit traurigen Augen verkündete:

„Muss dir was sagen, Kleiner. Sei bitte nicht traurig. Muss weg, für einige Zeit. Nachher kommen ein paar Männer und holen mich ab.“

Wohin denn?, fragte ich mich, ohne es auszusprechen. Ich war den Tränen nahe.

„Oh, du möchtest bestimmt wissen, wohin ich gehen werde“, brach es plötzlich aus ihm heraus. „Na ja, ins Paradies halt. Und du kommst mich besuchen. Jeden Tag, wenn du willst. Dann essen wir zusammen so viel Zuckerwatte, bis uns ganz schlecht wird und wir nicht mehr laufen können und uns drei Stunden lang in die Sonne legen müssen und dann... Und dann gibt es zum Nachtisch noch eine Tafel Schokolade, aber keine normale, sondern eine Tafel werde ich uns kaufen, die ist so groß... So groß wie...der alte Weltatlas da hinten in der Ecke. Und der ist verdammt groß, Kleiner, nicht wahr? Ich will dann gar nichts abhaben von der Schokolade, ich überlasse sie ganz dir!
Muss mich aber jetzt umziehen. Kommst du nochmal vorbei, in einer halben Stunde vielleicht?

Ich blieb in Simons Wohnung.

„Kann ich mitgehen, Simon?“

„Du... du... Ich... Nein, nein, das geht nicht. Nicht heute. Morgen aber, morgen kommst du mich besuchen. Bitte! Und übermorgen. Jeden Tag.“

Es läutete an der Tür, dreimal. Ich versteckte mich unter Simons Wohnzimmertisch, doch die Männer, welche Simon grußlos in die Wohnung ließ, entdeckten mich schnell.

„Keine Angst, Kleiner“, beruhigte mich der Alte, „ich geh‘ jetzt einfach mit denen mit. Die tun dir nichts. Und mir auch nicht. Siehst ja, die stehen da einfach und warten, bis ich fertig bin. Verdammt, wo ist mein roter Schal? Hast du ihn irgendwo gesehen? Kleiner, nimm‘ du meinen Schlüssel mit. Darfst hier rein, wann immer du willst. Aufs Paradies schauen und an den alten Simon denken. Oder Schokolade essen.“

Ich blickte einem von ihnen, wahrscheinlich dem Ranghöchsten, direkt in die Augen. Ich glaubte nicht an den Ausflug ins Paradies. Wer, mit solchen Augen, kalt und finster, wer mit einem solchen Blick konnte im Paradies leben, geschweige denn das Paradies kennen?

Dann sah ich Simons Regenschirm neben der vollgepackten Reisetasche. Simon bemerkte, dass ich diesen im Blick hatte. Ein Regenschirm im Paradies?, fragte ich mich.

„Nicht, dass ich im Paradies den Schirm bräuchte, Kleiner“, stellte Simon klar, „aber der Weg dahin... Guck‘ raus, dann siehst du es, ein Schutt wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Direkt hinter der Grenze kann ich ihn dann in die Tasche packen. Dann schaue ich hinter mich und lache das schlechte Wetter einfach aus. Ich lache dann einfach drauflos, lache und lache und lache und warte, bis du mich besuchen kommst. Und dann lachen wir zusammen weiter.“

Einer der Kerle schaute ungeduldig auf die Uhr und danach kaltherzigen Blickes auf Simon.

„Bin ja gleich so weit. In einer Minute kann die Fahrt beginnen.“

Ich sah Tränen in Simons Augen. Wer heult denn eine Minute vor einem Ausflug ins Paradies?

„Simon, da hinten ist das Paradies nicht“, sagte ich. „Da hinten wohnt Onkel Friedhelm, und der Bezirksvorsteher, im Haus neben Onkel Friedhelm. Bei Onkel Friedhelm wachsen keine Schokoladenbäume. Zeigst du mir jetzt, wo das Paradies wirklich ist?“

Ich bekam keine Antwort mehr. In Windeseile klebten sie Simon den Mund zu. Einer von ihnen schrie: „Genug gefaselt, Alter! Mitkommen! Sofort! Was will der Dreckspanz denn von dir Verbrecher? Du weg! Raus! Hast du keine Eltern, Knirps?“

Am nächsten Tag, in der Wohnung des Alten, fand ich nur den roten Schal, den er nicht finden konnte. Ich nahm ihn mit, als Andenken an die täglichen Stunden bei meinem Simon. Und solange ich auch suchte: Keine Karte vom Paradies, nirgends. Immer noch keine Schokoladenbäume bei Onkel Friedhelm. Und immer noch Regen, Regen, Regen, überall.

Weit weg, dachte ich, musste das Paradies sein, unheimlich weit weg.

 

Hallo olimax,

knabbere etwas an deiner Miniatur: 3. Reich? Der wilde Osten? Justizvollzugsanstalt xyz?

So recht will mir nicht eingehen, was denn das Paradies wirklich ist oder sein soll.
Sieht man von derartigen Nebensächlichkeiten ab, hast du die Geschichte aus dem Blickwinkel des Kleinen konsequent durchgehalten, auch wenn der gute alte Simon sprachlich teilweise etwas infantil 'rüberkommt.

Schöne Grüße,

AE

Textkram:


Es läutete an der Tür, dreimal. Ich versteckte mich unter Simons Wohnzimmertisch, doch die Männer, welche Simon ohne grußlos in die Wohnung ließ, entdeckten mich schnell.

ein "ohne" zuviel.

 

aloa olimax

das ist wohl auch eine art sich zu verabschieden. ich denke die intention simon`s ist ziemlich eindeutig. er möchte nicht, dass der kleine sich sorgen um dessen verbleib macht. wer weiß, vielleicht wird er ihn mal... wiedersehen. wer möchte schon einem jungen offenbaren, dass das leben ihm den "falschen" weg wies. leider erfährt man in der geschichte nicht mehr über die beziehungsebene zwischen dem kleinen und simon. in welchen verhältnis stehen sie zueinander? was ist der grund des abschieds. sind die kleinen auch deshalb klein, weil ihnen nicht mehr informationen zugängig sind? ach schon wieder soviele fragen.

germane

 

Hallo olimax!

Eine interessante Geschichte, die du hier geschrieben hast. Was ich in erster Linie an ihr gut finde, ist die Erzählperspektive des Jungen, die nicht viel verrät, aber zu einigen Spekulationen einlädt.
Ich denke nicht, dass hier von einem totalitären System die Rede ist, deren Gestapo (o. entspr.) einen Querulanten verhaftet. Der Ablauf passt dafür eigentlich weniger, wenn auch der Satz

In Windeseile klebten sie Simon den Mund zu.
dem zu widersprechen scheint. Aber wie auch immer, die Verabschiedung Simons von dem Jungen ist sehr schön - und makaber - dargestellt.

Beste Grüße

Nothlia

 

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