- Beitritt
- 24.04.2003
- Beiträge
- 1.444
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Bis spätestens 20:45 Uhr.
Du achtest nicht auf die Position der Tachonadel.
Regen, den die Scheibenwischer selbst auf höchster Stufe kaum mehr verdrängen können, und die Welt um dich herum gefangen im Gewitter. Der Eindruck, als stünden die Fahrzeuge neben dir still; die linke Spur der A 46 fast leer.
Es scheint dir, als würde dein Ziel mit dir um die Wette laufen, und du musst es um jeden erdenklichen Preis einholen.
20:20 Uhr.
Du drückst das Pedal durch, Schemen eines Rastplatzes hinter der Beifahrerscheibe. Kurz nur. Dann bist du wieder zurück auf der Autobahn, vorbei an den beiden LKWs, die du anders nicht überholen konntest. Unverantwortlich von ihnen. Viel zu schnell ... viel zu schnell.
Blitze zucken über den Himmel und aus den Boxen singt Roy Orbison "I drove all Night".
Man muss Entscheidungen treffen. Nichts ist schlimmer, als auf der Stelle zu treten. Diesesmal hast du dich möglicherweise zu spät entschieden. Dein Leben zieht vorbei an dir, wie die Bäume und Dörfer jenseits des Seitenstreifens.
Wieder drückst du das Pedal durch. Der Donner wird auch durch die Musik nicht stumm geschaltet.
Dunkel wie die Nacht; an einem Sommerabend.
20:25 Uhr.
Laura vor deinem geistigen Auge. Keine Ahnung, wieviel Sarah heute Abend getrunken hat, und ihr Neuer ist ein unberechenbares Monster. Du wirst ihn töten, wenn er Laura etwas getan haben sollte. Sie ist doch erst sieben Jahre alt.
Ja, du würdest diesen Mann tatsächlich töten. Das ist dir gerade so unumstößlich bewusst, wie die Tatsache, dass du bei dem stärksten Unwetter seit Jahren mit über 200 Kilometern die Stunde unterwegs bist.
Um das zu wissen, brauchst du nicht auf die Position der Tachonadel zu achten. Sie ist unwichtig.
Alles, was du musst, ist dich beeilen.
Ein Porsche kommt aus einer Auffahrt, schleudert ohne zu blinken quer nach links, direkt vor dich. Ihr berührt euch. Der Fahrer schleudert zurück, fängt sich unruhig schlitternd schließlich doch noch auf der mittleren Fahrbahn.
Keine Zeit zu hupen, keine Zeit, ihm irgendwelche Gesten zu bedeuten. Nur weiterfahren.
20:30 Uhr.
Du wirst es nicht rechtzeitig schaffen.
Der Gedanke erschlägt dich. Sie haben Laura getötet, ganz sicher. Die Säuferin und das Monstrum.
Deine Tochter ist tot. Wut und Tränen bahnen sich ihre Wege. Deine Hände schmerzen, so fest umklammerst du das Lenkrad und ganz plötzlich wird dir klar, dass du nur energisch genug gegen das Pedal, gegen das Gesicht deiner Ex-Frau treten musst, um es doch noch zu schaffen.
Heute kann alles anders werden. Heute wird alles anders werden.
Bloß noch einige dutzend Kilometer. Es ist nicht unmöglich. Es gibt einen Weg. Immer.
Amy MacDonald singt "This is the Life" und du willst sie am äußersten Limit zittern sehen, die Tachonadel.
Tunnelblick und stehen gebliebene Fahrzeuge. Außerhalb der Fahrerkabine nichts weiter als der Weltuntergang, tobend und schreiend, die Welt verschlingend.
Du wirst Laura retten. Es kann gar nicht anders sein.
20:35 Uhr.
Auf dem Schild steht der Name der Ausfahrt. Dein Herzschlag zerreißt dir die Brust. Ein paar Minuten, bloß noch ein paar Minuten. Die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf. Du wirst beide töten. Ganz egal, was auch ist.
Deine Sinne verlieren sich in einem Strudel aus Regen, gepeitscht von Blitzen, und der Donnergott wird dieser neuen "Familie" gleich einen Besuch abstatten.
Zu nichts von alledem hatten sie irgendein Recht. Du fährst den Wagen tot, reißt dem Motor sein Herz heraus.
Es ist geschafft.
Der Eindruck der stehengebliebenen Fahrzeuge verstärkt sich. Als würden sie mitten auf der Autobahn parken.
Dann erst begreifst du, dass etwas anders ist. Sie parken nicht mehr nur in der Mitte und auf der rechten Fahrbahn. Auch links bewegen sie sich nicht, und diesesmal ist es keine Sinnestäuschung.
In dieser einen Sekunde, bevor du deinen Wagen mit 230 Kilometern pro Stunde in das Stauende fahren lässt, kommt dir ein letzter Satz in den Sinn:
"Ich komme dich retten, mein Schatz."
20:41 Uhr.