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Bischof der Stadt
Bischof der Stadt
Bekenntnisfreiheit ist ein Grundrecht. Also steht er jeden Tag auf der erhöhten Platte am Stadtplatz und predigt für seine Stadt, seine Gemeinde. Wer stehen bleibt, das sind die Touristen aus dem Norden, die ihn filmen, als Kuriosität, in ihre Erinnerungen bannen, und die Kinder, die er segnet mit seinen dürren Händen. Die anderen eilen an ihm vorbei, der Bischof gehört zur Stadt, ist jeden Tag dort, nichts besonderes. Im Gegenteil, ein Spinner, der mit einem Überwurf und einem Stab aus Holz wirre Psalmen verkündet und die Hölle auf die Sünder herabfleht, die Verdammung für die, die den Verführungen Satans nicht widerstehen und den Segen für seine treuen Schafe. Das ist seine Berufung, seit Jahrzehnten schon, niemand kann sich erinnern, dass es Zeiten gab, wo er nicht gestanden und gepredigt hätte.
Jeden Tag steht er da und fordert das Fasten, die Buße und Umkehr dieser verlotterten, sittenlosen Welt, ob Regen oder pralle Sonne. Das Gewitter hat seine Kleidung längst durchweicht, sie klebt an seiner dürren Gestalt, aber seine alte Stimme kämpft mit dem Donner. Die Rache Gottes ist nahe, der Sturm nur ein Vorbote, der die Menschen in die Häuser zurücktreibt. Er steht wie ein Fels in der Brandung, scheint Regen und Hagel nicht zu spüren. Die schwarzen Wolken sind seine Verbündeten, Zeichen Gottes, die seinen Worten nur Halt verleihen. Und wenn der Regen nachlässt, nur noch vereinzelt Tropfen auf die leere Stadt fallen, liegt ein wehmütiger, sanfter Ausdruck in seinem Gesichte, und seine Stimme klingt ruhiger.
Sonntags findet man ihn in den Kirchen der Umgebung. Man kennt ihn dort, natürlich. Die Messe über steht er, betet laut die Worte der Priester mit und gibt zum Schluss den Segen für die Gläubigen von der untersten Altarstufe aus, während der Pfarrer noch die Vermeldungen liest.
***
„Der Herr ist König. Die Erde frohlocke.
Freuen sollen sich die vielen Inseln.
Rings um ihn her sind Wolken und Dunkel,
Gerechtigkeit und Recht sind Stützen seines Throns.
Verzehrendes Feuer läuft vor ihm her
Und frisst seine Gegner ringsum.
Seine Blitze erhellen den Erdkreis;
Die Erde sieht es und bebt.
Berge schmelzen wie Wachs vor dem Herrn,
vor dem Antlitz des Herrschers aller Welt.
Seine Gerechtigkeit -“
Er hält inne, als er in den Menschenmassen, die in der Einkaufsstraße an ihm vorbeiziehen, eine Frau entdeckt. Mittleres Alter, auffällig rot gefärbte Haare, eine schwere Tasche über dem Arm. Ihr modisches Kostüm ist figurbetont und ausgeschnitten. Seine grauen Augen weiten sich.
„Dass sich so eine wie du hier überhaupt hertraut, in Gottes heilige Stadt!“ Die stoische Gleichmut, mit der er die Verse rezitiert hat, ist vorbei.
„Eine Hexe wie du, eine Hure, Verführerin der Männer, heimtückische Kindsmörderin!“
Seine Augen funkeln, und er wirft ihr die Worte vor die Füße wie einen dreckigen Fetzen.
Die Frau schaut auf, verständnislos, nicht weil sie sich angesprochen fühlt, sondern weil alle von den lauten Worten aus ihren Gedanken hochschrecken und den Bischof anblicken. Er zeigt mit dem Finger auf sie. „Schande aller Gläubigen!“
Mit einem gewandten Sprung, den ihm niemand aus der Masse zugetraut hätte, stürzt er vom Podest herunter und auf die Frau zu, packt sie an den Schultern, schüttelt sie. Ihr Kreischen ist weit zu hören, und die Menschen stehen einige Sekunden wie erstarrt, können nicht fassen, was geschieht. Doch dann reagieren sie, zerren an dem Prediger, Kleidung, Haar, verkeilen sich ineinander – ein pulsierender Haufen Wut. Als die Polizei eintrifft, finden die Beamten nur noch ein Bündel Mensch am Boden vor, von den Passanten umschifft wie Wasser, das sich am Bug des Bootes teilt.
***
„Gott steht auf in der Versammlung der Götter,
im Kreis der Götter hält er Gericht.
Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten
Und die Frevler begünstigen?
Verschafft Recht den Unterdrückten und - “
Der Anwalt hat einen Gutachter bestellt. Dieser bescheinigt ihm die Unzurechnungsfähigkeit, die Schuldunfähigkeit des Mandanten. Er war sich nicht bewusst, was er tat, als er eine angesehene Modedesignerin angegriffen und ihr das Gewand eingerissen hat. Man fordert die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt. Gefährlicher, fanatischer Irrer mit blauen Flecken und einer Armfraktur unter der schäbigen Kleidung.
„Erhebe Dich, Gott, und richte die Erde!“
Unruhe während der Verhandlung, der Angeklagte springt immer wieder auf, zitiert aus der Bibel, ruft Gott und die Propheten um Hilfe. Ob er überhaupt versteht, worum es geht, fragen sich die einen. Die anderen sehen in ihm einen Fanatiker, geschickt genug, sich hinter seiner Verrücktheit zu verstecken.
Als er nach der Verhandlung weggeführt wird, während sein Anwalt noch ein paar Worte mit dem Gutachter wechselt, können die Anwesenden ihn nur noch murmeln hören.
„Rette mich, Herr, vor bösen Menschen,
vor gewalttätigen Leuten schütze mich!
Denn sie sinnen in ihrem Herzen auf Böses,
jeden Tag schüren sie Streit.
Wie die Schlangen haben sie scharfe Zungen
Und hinter den Lippen Gift wie die Nattern
Behüte mich, Herr, vor den Händen der Frevler -“
***
Er sitzt in seinem kleinen Zimmer auf dem Bett. Das Essen hat er nicht angerührt, es ist Freitag, und das Fleisch wird bis zum Abend stehen bleiben. Seine einst so mit Leben und Energie geladenen grauen Augen sind geschlossen, während er seit Stunden mit dem Oberkörper vor und zurück wippt. Durch das Fenster fällt Sonnenlicht auf seinen Rücken.
Er ist beliebt in der Anstalt.
In den ersten Wochen gab es ziemliche Probleme mit dem Prediger, weil er durch seine Klagen und Hilfeschreie die anderen Patienten unruhig gemacht hat. Als sie ihm den Stab endgültig fortnahmen, hat er zwei Nächte lang geschrien und dem Personal die Rache Gottes geschworen. Nach einiger Zeit ist dieses irre Schreien aber mit Medikamenten und einem Einzelzimmer zu leisem Gemurmel geworden, kaum, dass man es noch hören konnte. Nur an seinen Lippen erkannte man, dass er betete.
Seit einem halben Jahr jetzt ist er ganz verstummt. Er nimmt an seinen Sitzungen teil, lässt sich in die Therapie führen ohne sich zu wehren wie am Anfang. Dass er dort nichts sagt, stört niemanden, die Ärzte und Therapeuten schreiben ihre Berichte, aber solange sich keiner beschwert, sehen sie keinen Grund zur Sorge. Schließlich gibt es andere Patienten, die mehr Aufmerksamkeit brauchen.
Als man ihn an einem Morgen in seinem Zimmer auffindet, mit blutüberströmten Armen, die Augen aufgerissen und starr, schweigt man. Keiner der Ärzte hatte ihn als suizidgefährdet eingestuft. Man muss erst suchen, bevor man sie findet: eine alte Eisengabel hat er sich ins Fleisch gestochen und sich damit die Venen zerfetzt.
Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe,
von ihm kommt mir Hilfe.
Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg;
Darum werde ich nicht wanken
Die Sonne scheint durch das staubige Fenster, ihre Strahlen lassen seine Augen aufflackern und sein Gesicht leuchten.
Draußen beginnen die Schneeglöckchen aus der Erde zu brechen.
Der Bischof hat die Stadt verlassen.