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Bischof der Stadt

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20.10.2002
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Bischof der Stadt

Bischof der Stadt

Bekenntnisfreiheit ist ein Grundrecht. Also steht er jeden Tag auf der erhöhten Platte am Stadtplatz und predigt für seine Stadt, seine Gemeinde. Wer stehen bleibt, das sind die Touristen aus dem Norden, die ihn filmen, als Kuriosität, in ihre Erinnerungen bannen, und die Kinder, die er segnet mit seinen dürren Händen. Die anderen eilen an ihm vorbei, der Bischof gehört zur Stadt, ist jeden Tag dort, nichts besonderes. Im Gegenteil, ein Spinner, der mit einem Überwurf und einem Stab aus Holz wirre Psalmen verkündet und die Hölle auf die Sünder herabfleht, die Verdammung für die, die den Verführungen Satans nicht widerstehen und den Segen für seine treuen Schafe. Das ist seine Berufung, seit Jahrzehnten schon, niemand kann sich erinnern, dass es Zeiten gab, wo er nicht gestanden und gepredigt hätte.
Jeden Tag steht er da und fordert das Fasten, die Buße und Umkehr dieser verlotterten, sittenlosen Welt, ob Regen oder pralle Sonne. Das Gewitter hat seine Kleidung längst durchweicht, sie klebt an seiner dürren Gestalt, aber seine alte Stimme kämpft mit dem Donner. Die Rache Gottes ist nahe, der Sturm nur ein Vorbote, der die Menschen in die Häuser zurücktreibt. Er steht wie ein Fels in der Brandung, scheint Regen und Hagel nicht zu spüren. Die schwarzen Wolken sind seine Verbündeten, Zeichen Gottes, die seinen Worten nur Halt verleihen. Und wenn der Regen nachlässt, nur noch vereinzelt Tropfen auf die leere Stadt fallen, liegt ein wehmütiger, sanfter Ausdruck in seinem Gesichte, und seine Stimme klingt ruhiger.
Sonntags findet man ihn in den Kirchen der Umgebung. Man kennt ihn dort, natürlich. Die Messe über steht er, betet laut die Worte der Priester mit und gibt zum Schluss den Segen für die Gläubigen von der untersten Altarstufe aus, während der Pfarrer noch die Vermeldungen liest.

***

„Der Herr ist König. Die Erde frohlocke.
Freuen sollen sich die vielen Inseln.
Rings um ihn her sind Wolken und Dunkel,
Gerechtigkeit und Recht sind Stützen seines Throns.
Verzehrendes Feuer läuft vor ihm her
Und frisst seine Gegner ringsum.
Seine Blitze erhellen den Erdkreis;
Die Erde sieht es und bebt.
Berge schmelzen wie Wachs vor dem Herrn,
vor dem Antlitz des Herrschers aller Welt.
Seine Gerechtigkeit -“

Er hält inne, als er in den Menschenmassen, die in der Einkaufsstraße an ihm vorbeiziehen, eine Frau entdeckt. Mittleres Alter, auffällig rot gefärbte Haare, eine schwere Tasche über dem Arm. Ihr modisches Kostüm ist figurbetont und ausgeschnitten. Seine grauen Augen weiten sich.
„Dass sich so eine wie du hier überhaupt hertraut, in Gottes heilige Stadt!“ Die stoische Gleichmut, mit der er die Verse rezitiert hat, ist vorbei.
„Eine Hexe wie du, eine Hure, Verführerin der Männer, heimtückische Kindsmörderin!“
Seine Augen funkeln, und er wirft ihr die Worte vor die Füße wie einen dreckigen Fetzen.
Die Frau schaut auf, verständnislos, nicht weil sie sich angesprochen fühlt, sondern weil alle von den lauten Worten aus ihren Gedanken hochschrecken und den Bischof anblicken. Er zeigt mit dem Finger auf sie. „Schande aller Gläubigen!“
Mit einem gewandten Sprung, den ihm niemand aus der Masse zugetraut hätte, stürzt er vom Podest herunter und auf die Frau zu, packt sie an den Schultern, schüttelt sie. Ihr Kreischen ist weit zu hören, und die Menschen stehen einige Sekunden wie erstarrt, können nicht fassen, was geschieht. Doch dann reagieren sie, zerren an dem Prediger, Kleidung, Haar, verkeilen sich ineinander – ein pulsierender Haufen Wut. Als die Polizei eintrifft, finden die Beamten nur noch ein Bündel Mensch am Boden vor, von den Passanten umschifft wie Wasser, das sich am Bug des Bootes teilt.

***

„Gott steht auf in der Versammlung der Götter,
im Kreis der Götter hält er Gericht.
Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten
Und die Frevler begünstigen?
Verschafft Recht den Unterdrückten und - “

Der Anwalt hat einen Gutachter bestellt. Dieser bescheinigt ihm die Unzurechnungsfähigkeit, die Schuldunfähigkeit des Mandanten. Er war sich nicht bewusst, was er tat, als er eine angesehene Modedesignerin angegriffen und ihr das Gewand eingerissen hat. Man fordert die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt. Gefährlicher, fanatischer Irrer mit blauen Flecken und einer Armfraktur unter der schäbigen Kleidung.

„Erhebe Dich, Gott, und richte die Erde!“

Unruhe während der Verhandlung, der Angeklagte springt immer wieder auf, zitiert aus der Bibel, ruft Gott und die Propheten um Hilfe. Ob er überhaupt versteht, worum es geht, fragen sich die einen. Die anderen sehen in ihm einen Fanatiker, geschickt genug, sich hinter seiner Verrücktheit zu verstecken.

Als er nach der Verhandlung weggeführt wird, während sein Anwalt noch ein paar Worte mit dem Gutachter wechselt, können die Anwesenden ihn nur noch murmeln hören.

„Rette mich, Herr, vor bösen Menschen,
vor gewalttätigen Leuten schütze mich!
Denn sie sinnen in ihrem Herzen auf Böses,
jeden Tag schüren sie Streit.
Wie die Schlangen haben sie scharfe Zungen
Und hinter den Lippen Gift wie die Nattern
Behüte mich, Herr, vor den Händen der Frevler -“

***

Er sitzt in seinem kleinen Zimmer auf dem Bett. Das Essen hat er nicht angerührt, es ist Freitag, und das Fleisch wird bis zum Abend stehen bleiben. Seine einst so mit Leben und Energie geladenen grauen Augen sind geschlossen, während er seit Stunden mit dem Oberkörper vor und zurück wippt. Durch das Fenster fällt Sonnenlicht auf seinen Rücken.

Er ist beliebt in der Anstalt.

In den ersten Wochen gab es ziemliche Probleme mit dem Prediger, weil er durch seine Klagen und Hilfeschreie die anderen Patienten unruhig gemacht hat. Als sie ihm den Stab endgültig fortnahmen, hat er zwei Nächte lang geschrien und dem Personal die Rache Gottes geschworen. Nach einiger Zeit ist dieses irre Schreien aber mit Medikamenten und einem Einzelzimmer zu leisem Gemurmel geworden, kaum, dass man es noch hören konnte. Nur an seinen Lippen erkannte man, dass er betete.

Seit einem halben Jahr jetzt ist er ganz verstummt. Er nimmt an seinen Sitzungen teil, lässt sich in die Therapie führen ohne sich zu wehren wie am Anfang. Dass er dort nichts sagt, stört niemanden, die Ärzte und Therapeuten schreiben ihre Berichte, aber solange sich keiner beschwert, sehen sie keinen Grund zur Sorge. Schließlich gibt es andere Patienten, die mehr Aufmerksamkeit brauchen.

Als man ihn an einem Morgen in seinem Zimmer auffindet, mit blutüberströmten Armen, die Augen aufgerissen und starr, schweigt man. Keiner der Ärzte hatte ihn als suizidgefährdet eingestuft. Man muss erst suchen, bevor man sie findet: eine alte Eisengabel hat er sich ins Fleisch gestochen und sich damit die Venen zerfetzt.

Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe,
von ihm kommt mir Hilfe.
Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg;
Darum werde ich nicht wanken

Die Sonne scheint durch das staubige Fenster, ihre Strahlen lassen seine Augen aufflackern und sein Gesicht leuchten.
Draußen beginnen die Schneeglöckchen aus der Erde zu brechen.

Der Bischof hat die Stadt verlassen.

 

Salut Maus,

Ich fande deine Geschichte ganz hübsch zu lesen, besonders der letzte Satz hat sich schön in die Geschichte eingefügt.

hat er zwei Nächte lang geschrieen

Ob jemand zwei Nächte lang schreien kann?

liebe Grüße
Thorn

 

Hallo Maus,

erst einmal dies: ein durchaus kreativer Verlauf deiner Geschichte ist deutlich erkennbar. Sie lässt sich gut lesen, du benutzt, wie ich finde, schöne Wörter und bildest damit interessante Sätze. Aber bei über 1400 Beiträgen sollte man das auch erwarten ;)

Indes bleibt ein unstimmiges Gefühl bei mir zurück.
Du schreibst, des Bischofs Verbündete seien die Gewitterwolken. Gottes Rache, das, was er immer predigt, ist nahe. Warum aber liegt dann ein sanfter Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn es aufhört zu regnen?

Wenn Meinungsfreiheit ein Grundrecht ist und du ALSO STEHT ER JEDEN TAG... schreibst, dann gehe ich davon aus, dass er bewusst seine Meinung vertritt, bewusst predigt und dahinter steht. Aber im Verlauf der Geschichte deutest du an, dass der Protagonist tatsächlich verrückt oder auch fanatisch ist: "jeden Tag fordert er das Fasten."--> Im katholischen Glauben fastet man vierzig Tage und darf außerhalb der Fastenzeit auch mal "sündigen". Weiß er davon nicht?
Außerdem ein Indiz dafür: „Eine Hexe wie du, eine Hure, Verführerin der Männer, heimtückische Kindsmörderin!“ Warum Kindsmörderin, wenn er nicht im Wahn ist? Und Hexe? Er predigt im 20. Jahrhundert (Videokameras der Touristen). Also gehe ich davon aus, dass er verrückt ist.

Wenn er aber verrückt ist, dann müssen auch all seine Predigten (kursive Schrift) als wahnhaft gelesen werden, auch wenn sie an biblische Passagen anlehnen (strafender Gott- altes Testament). Soll das bewusste Kritik an der Bibel sein?

Leider finde ich die Darstellung des wutentbrannten Bischofes, der sich auf die Frau stürzt, der dann von der Masse- so klingt es an- fast erschlagen wird, überzogen. Aber es ist wohl notwendig für die weitere Entwicklung der Geschichte, sprich der Einweisung.

Jetzt, wo er in der Anstalt sitzt, hat er Zuhörer. Das stimmt übrigens mit der Tatsache überein, dass psychisch Kranke oft eine Verbindung zu Gott sehen, also auch die Patienten, die dem Bischof zuhören. Eigentlich hat er doch jetzt endlich Menschen gefunden, die an ihn glauben. Ist ihm das aber zuwider, weil sie krank sind. Eingentlich sind es doch gerade die Kranken, die einen Gegenpol zur Gesellschaft auf der Straße bilden, die den Bischof nie beachtet haben. Warum bringt er sich dann um?
Warum begeht er Selbstmord- eine Todsünde im Christentum? Warum vertraut er nicht auf den sich rächenden Gott, der sich seiner Überzeugung nach am Personal rächen wird und ihn somit in sein Reich aufnehmen wird?

Fragen über Fragen.
Ich hoffe, du nimmst es nicht als persönliche Kritik. Es ist ein Versuch der Schilderung, warum mir ein unstimmiges Gefühl blieb.

Gruß
Jan

 

Hallo Thorn!

Vielen Dank für Deine Rückmeldung.:)

Hi jbk!

Du hast Dir viel Mühe gemacht, vielen Dank! (Auch bei vielen Beiträgen kann man ganz gut Mist schreiben. ;)) Dass ein ungutes Gefühl bei Dir bleibt, begründest DU mit so vielen Details, das hilft mir weiter, zeigt mir, wo ich offenbar undeutlich geschrieben habe. :)
Zu den Details:

Du schreibst, des Bischofs Verbündete seien die Gewitterwolken. Gottes Rache, das, was er immer predigt, ist nahe. Warum aber liegt dann ein sanfter Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn es aufhört zu regnen?
– in seiner Vorstellung legt er die Wolken als Verbündete aus, als Zeichen Gottes. Zürnt Gott, tut er es auch. Verziehen sich die Wolken, (vergibt Gott, in seiner Vorstellung) wird auch er sanfter.
Wenn Meinungsfreiheit ein Grundrecht ist und du ALSO STEHT ER JEDEN TAG... schreibst, dann gehe ich davon aus, dass er bewusst seine Meinung vertritt, bewusst predigt und dahinter steht.
– das kommt wohl nicht so rüber, wie ich es wollte. Ich wollte ausdrücken, dass niemand etwas gegen ihn unternehmen kann, wenn er dasteht und predigt, weil er nur sein Recht in Anspruch nimmt. Ob er selbst sch dessen bewusst ist oder nicht, ist eigentlich relativ egal. Er vertritt seine Meinung ja nicht nur auf der wörtlichen Ebene. Es sollte auch etwas den Bezug zu der von Dir als überzogen befundenen Stelle darstellen: gegen einen Angriff kann man sehr wohl etwas tun.
Also gehe ich davon aus, dass er verrückt ist.
- ja, so wars gedacht. Er ist von Bibelstellen überzeugt, allerdings stammen alle Zitate aus dem AT (den Psalmen, um genau zu sein), und sein Verhalten widerspricht in vielem der christlichen Auffassung, richtig.
Wenn er aber verrückt ist, dann müssen auch all seine Predigten (kursive Schrift) als wahnhaft gelesen werden, auch wenn sie an biblische Passagen anlehnen (strafender Gott- altes Testament). Soll das bewusste Kritik an der Bibel sein?
- er selbst ist „wahnhaft“, die Zitate sind direkt übernommen. Wenn es interessiert, kann ich die genauen Stellen angeben. Sie sind nur insofern wahnhaft, dass eben der „Bischof“ selbst sie aus dem Zusammenhang reißt, auswendig, aber ohne Situationsverständnis, ohne einen Blick zum Wandel rezitiert. Kritik an der Kirche, ja, auch, aber nicht in diesem Maß, an diesen Stellen, in diesem Zusammenhang.
Leider finde ich die Darstellung des wutentbrannten Bischofs, der sich auf die Frau stürzt, der dann von der Masse- so klingt es an- fast erschlagen wird, überzogen. Aber es ist wohl notwendig für die weitere Entwicklung der Geschichte, sprich der Einweisung
- an der Stelle hast Du wohl recht. Aber es ist nötig. Vielleicht finde ich noch glaubwürdigere Formulierungen….
Jetzt, wo er in der Anstalt sitzt, hat er Zuhörer. Das stimmt übrigens mit der Tatsache überein, dass psychisch Kranke oft eine Verbindung zu Gott sehen, also auch die Patienten, die dem Bischof zuhören. (…) Warum begeht er Selbstmord- eine Todsünde im Christentum?
- das mit den Zuhörern war von mir nicht in dem Ausmaß beabsichtigt. Er zieht sich auch nicht zurück, weil es „die falschen“ wären – sondern weil er im Einzelzimmer hockt, weil er Medikamente bekommt, weil eben niemand mehr da ist, der zuhört. Das wird in der Klinik unterbunden, seinen äußeren Anzeichen wie Stab und Überwurf hat er auch nicht mehr. Selbstmord als Todsünde, ja. Aber wie oben schon erwähnt, der „Bischof“ ist eigentlich ja nicht ein wirklicher gläubiger Mensch, der die Menschen von Gott überzeugen will, er ist jemand, der sich in einigen Passagen des AT, die er auswendig gelernt hat, Tag für Tag ergeht. Der manche äußeren Anzeichen wahrt, ohne sich zurechtzufinden damit. Er ist überzeugt von dem, was er sagt, aber gleichzeitig dadurch absolut eingeschränkt.
Ich hoffe, ich habe Deine Fragen etwas beantworten können. So zumindest war das gedacht, ich wird mir Gedanken machen, wie ich manches klarer darstellen kann.

Schöne Grüße an Euch beide
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Kritikerkreis

Hallo Maus,

um nicht nur systematische Kritiken zu schreiben, Deine Geschichte aber als Gesamtbild erfassen zu können, beginne ich mit einer spontanen Fragestellung:

Ist der Textinhalt schlüssig? Eigentlich wird eine arg seltsame Situation beschrieben.
Aber- gibt es nicht auch Vorkommnisse, die nicht den üblichen Wahrscheinlichkeiten folgen? (Im persönlichen oder gesellschaftlichen Leben).
Wie steht es um die Glaubwürdigkeit des Geschilderten?

Gerade Menschen mit Sendungsbewusstsein entwickeln eine kompromisslose, sie sogar selbst verzehrende Einstellung. Der Text stellt eine Welt mit ihrem spezifischen Geschehen dar. Das beschriebene Verhalten ist sicher extrem, doch über Jahre kann sich Fanatismus so schleichend entwickeln, dass ihm nicht so entgegen getreten wird, wie es geschähe, wenn er plötzlich auftauchen würde. Stimmt: So eine Gewöhnung wird durch einen Aufsehen erregenden Vorfall abgebrochen. Im Ernstfall wird der Unruhestifter mit Gewalt oder medikamentös ruhig gestellt.
Hier gibt es also kein Problem mit dem Wahrheitsgehalt des Textes. Ist es nicht sogar so, dass bei strengen Kurzgeschichten-Definitionen eine Wahrheit verlangt wird, die textimmanent ist? Liegt dieser Fall hier vor? Eigentlich mag ich diese, gerade philosophische Themen erschwerende Regelung nicht.
Doch, hier steht der Text für sich selbst, das Geschehen ist so, wie es ist. Halt- der erste und der letzte Satz…
Meinungsfreiheit. Ein Grundrecht das uns alle, jeden Tag, betrifft. Der Bischof nutzt dieses Grundrecht- zu Recht, doch aus-nutzend. Er tut dies schon lange, ohne den `Vorfall´ hätte es seinen medizinischen Fall nicht gegeben. Unbequem ist er, doch man kann das Unbequeme ausblenden. Am Schluß ist er weg- hat die Stadt dadurch verloren? Vielleicht- nicht nur weil er auch segnet, sondern auch weil er- huh, welch fachfremdes Wort- auch eine Art `Bioindikator´ für Toleranz ist. Die Menschen brauchen einen neuen Bischof, nicht den Eklat, auch keine Ermahnungen, die werden gewohnheitsmäßig überhört. Aber solange einer wie der Bischof frei predigen kann, werden die Bürger auch frei leben (und sündigen) können.

Der frei predigende Bischof ist gefangen in seiner fanatischen Vernarrtheit das Böse zu besiegen, ist dadurch unfrei und selbst letztlich Übeltäter.
Die Gesellschaft hat so lange ihre Freiheiten, wie es Toleranz auch für das Unbequeme gibt.
Sobald das Unbequeme aber auch aktiv Schaden anrichtet, macht sich die Umwelt allerdings mitschuldig, wenn sie dem Übel nicht bei Zeiten entgegen tritt. (Principiis obsta- den Anfängen tritt entgegen, Ovid).

Wie wäre das Verhalten des Bischofs, wenn die Menschen seinen Vorstellungen entsprechen würden? Reagiert er wirklich auf ihr Tun, oder existiert sein Fanatismus unabhängig von den Menschen? Diese Frage ist innerhalb des Textes nicht zu klären, doch die Frage nach Ursache und Wirkung ist durchaus interessant.

Jetzt bleiben noch die Bibelzitate sie stammen aus den Psalmen.
Alle beschäftigen sich mit Gericht, bzw. Gerechtigkeit.
1. Ein Aufruf zur Freude, weil Gottes Gerechtigkeit Gegner besiegt.
(Paßt gut zur Szene- die Frau wird zum Ziel seines Gerechtigkeitsvollzugs, die Freude bei ihr über die ausgeübte “Gerechtigkeit“ wird allerdings gegen Null gehen. Seine Gerechtigkeit wird zu `seiner Gerechtigkeit´).
2. Gott ist der höchste Richter.
(Der Anwalt wird es schwer haben, dem Unterdrückten zu helfen, er hat nicht die Stellung, die Gott hat).
3. Gottes Gerechtigkeit soll sich auf die Erde ausdehnen.
(Hier wird vom Bischof der Anspruch auf umfassende Einflussnahme geltend gemacht. Gut zu der Szene passt auch: Sie lassen sich nichts sagen und sehen nichts ein, sie tappen dahin im Finstern. – Ps. 82, 5).

4. Seine (Gottes) Gerechtigkeit soll sich auf eine Person beziehen.
(Hier wirkt der Bischof schon etwas gebrochen, er eifert für sich, nicht gegen die Welt).
5. Die Person vertraut auf Gott, auch wenn sich ihre Wünsche nicht gleich erfüllen.
(Soweit die Theorie: Der Geistliche hat doch `gewankt´, man mag fast schon Mitleid mit ihm haben. Die Welt wollte er Gottes Gerechtigkeit zuführen, ihr Buße abtrotzen- man mag ihm zurufen: „Bedenke- was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Matth. 16, 26).


Eine in sich geschlossene Geschichte, die durchaus Gesprächsstoff bieten kann und sich durch ihr ungewöhnliches Motiv von anderen Texten abhebt.
Und was bleibt, sind die Schneeglöckchen, die aus der Erde brechen…


Tschüß… Woltochinon

Geschrieben für den Kritikerkreis

 

Kritikerkreis

Als die Polizei eintrifft, finden die Beamten nur noch ein Bündel Mensch am Boden vor, von den Passanten umschifft wie Wasser, das sich am Bug des Bootes teilt.
Nur hier, an dieser einzigen Stelle der Geschichte vom Bischof der Stadt tut sich bildhaft sein einziges Gelingen auf, andere Menschen mit in sein "Boot" zu nehmen - leider nur für ganz kurze Zeit und vor allem gewaltsam.

Die "angesehene Modedesignerin" soll offenbar aufwachen (so, wie auch er selbst?). Er "packt sie an den Schultern, schüttelt sie", so als würde sie gerade schlafen (wie er selbst es auch tut?). Er schüttelt sie, wie auch sein Gott sie wohl schütteln würde. Er mag sein Handlanger (an ihr) sein.

Es bildet sich "der Bug des Bootes" (eine wunderbare Metapher, wie ich finde!). Was passiert? Niemand kommt dem Bischof zu Hilfe! Nein: "Sie zerren an dem Prediger"! Das Boot wird nicht zu seinem Boot. Es löst sich wieder auf und wird gleichsam aufgelöst. Die Masse (das Wasser) bleibt ihm (für immer?) fremd.

So enthält diese Geschichte sogar noch eine gewisse Moral: Gewalt führt nur zu kurzfristigen Zielen. Auch das beständige Predigen erreicht das "Wasser" kaum. Es gilt viel eher, zu zeigen, was man lehren will. Und damit ein Vorbild zu sein. Von ganzem Herzen.

 

Hallo Woltochinon und Philo!

Vielen Dank fürs haupsächlich inhaltliche Zerlegen und Eure Gedanken. Ich habe das Gefühl, das das, was ich rüberbringen wollte, auch angekommen ist :) Was kann schöner sein?

Am Schluß ist er weg- hat die Stadt dadurch verloren? Vielleicht- nicht nur weil er auch segnet, sondern auch weil er- huh, welch fachfremdes Wort- auch eine Art `Bioindikator´ für Toleranz ist. Die Menschen brauchen einen neuen Bischof, nicht den Eklat, auch keine Ermahnungen, die werden gewohnheitsmäßig überhört. Aber solange einer wie der Bischof frei predigen kann, werden die Bürger auch frei leben (und sündigen) können.
daran habe ich selbst noch garnciht gedacht... diesen Gedankengang finde ich sehr interessant. Lohnt das Nachdenken.
Hat mich sehr gefreut! :bounce:

liebe Grüße
Anne

 

Hallo!

Diese Geschichte wurde im Kritikerkreis besprochen.
Wir würden uns über weitere Anmerkungen zu diesem Text freuen.

Das Kritikerteam.

 

Die Erzählung ist ja schon sehr ausführlich besprochen worden.
Postings der Art "Finde ich auch/ kann mich anschließen" sind wenig konstruktiv, zeigen lediglich, dass das Geschriebene so schon OK ist.

Will nur sagen, dass nach der Ausführlichkeit der Kritik schon sehr tief ins Detail gegangen werden muss, um eine bereichernde Kritik hinzu zu fügen.
Aber wer Zeit und Lust und Begabung hat... :)

 

Hallo jbk,

vielleicht wurde ja trotz aller Bemühungen ein entscheidender Aspekt der Geschichte ausgelassen...

Take care,

tschüß... Woltochinon

 

@Wolto:

Will nur sagen, dass nach der Ausführlichkeit der Kritik schon sehr tief ins Detail gegangen werden muss, um eine bereichernde Kritik hinzu zu fügen.
Aber wer Zeit und Lust und Begabung hat...
Sag ich doch... ;)

 

Servus liebe Maus!

Fast wäre mir die Geschichte vom Prediger der seinem Gott gleich, als zürnender und gewittriger Mensch in Erscheinung tritt, entgangen. Du hast seine vermeintliche Allgewalt im intensiven Wetter sehr gut dargestellt, indem du ihn in den tropfarmen Alltagsmomenten aus dieser Rolle befreist, ihn gleichsam weicher erscheinen lässt.

Er ist ein Eiferer, hat seinen Lebenssinn in Drohen, in seiner energetischen Aktivität. Er rastet aus, überschreitet eine Grenze und kommt in die Klinik. Dort begreift er nicht Eigenverantwortlichkeit, sondern fühlt sich, seinem Wahn entsprechend, bedroht von jenen "die bösen Sinns" sind.

Den Werdegang dieses Menschen, weggesperrt und von Medikamenten ruhiggestellt hast du ziemlich bedrückend aufgezeigt. Seine Erlösung findet er im Aufbruch in das Reich seines Gottes. Ich denke, du hast das alles viel wirklichkeitsnaher dargestellt als man es wahrhaben möchte.

Zwei Stellen berührten mich sehr:
da wo am Beginn seiner Haft das Sonnenlicht auf seinen Rücken fällt, die Abkehr, das Nichtwahrnehmen ...
und das Ende: der Bischof hat die Stadt verlassen.

Gefiel mir wirklich sehr gut - lieben Gruß an dich, Eva

 

Liebe Eva - danke für Deinen netten Kommentar. :)

Den Werdegang dieses Menschen, weggesperrt und von Medikamenten ruhiggestellt hast du ziemlich bedrückend aufgezeigt. Seine Erlösung findet er im Aufbruch in das Reich seines Gottes. Ich denke, du hast das alles viel wirklichkeitsnaher dargestellt als man es wahrhaben möchte.
hat mich sehr gefreut! :bounce:

Ebenso freut es mich, dass das Ende bei Euch allen so gut ankam. Ich hatte Angst, amn würde mir den Selbstmord ankreiden - habe ihn gelassen, da er für mich das einzig logische und passende Ende darstellt. Freut mich unglaublich, dass es bei Euch ebenso ankommt, Eva, Du diese Stellen sogar extra lobst.

liebe Grüße nach Wien, schnee.eule!

Anne

 

uff - Die Geschichte ist leider nur zu realistisch und trifft damit ganz gut ins Schwarze. Als ehemaliger Theologiestudent kenne ich solch Übereifrige nur zu gut und keiner weiß so recht, wie man ihnen begegnen soll. Die einen grinsen, die anderen schauen hilflos weg.

Genau diese Schwierigkeiten hast Du prima eingefangen, die Charaktäre, den Umgang mit Fanatikern.

Es grüßt den Hut ziehend

Gregor

 

Hallo Gregor!

Vielen Dank für Dein großes Lob. :shy:

lieber Gruß
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Schon am Anfang tut sich mir eine Holperstelle auf:

Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht. Also steht er jeden Tag auf der erhöhten Platte am Stadtplatz und predigt für seine Stadt, seine Gemeinde.
Meinungsfreiheit = predigen?
Äußert und verbreitet der Bischof wirklich seine Meinung, indem er Psalmen verkündet und Bibelstellen rezitiert? Seine Meinung wäre es, wenn er eben jene Stellen deutet, gedanklich verarbeitet und diese dementsprechend äußert. Wenn er aus eigener Initiative hinzufügte, warum die Menschen beten sollen, sich bekennen sollen und warum sie die Hölle verdienen. So detailliert wird auf die Inhalte der Predigen aber nicht eingegangen.
Vielmehr wird die Grundhaltung des Bischofs hervorgehoben, der sich überzeugt seinem Glauben widmet und sich in übertriebener, fast schon entfremdender Art und Weise dazu bekennt.
Darum sollte man die Meinungsfreiheit - der ein zu allgemeiner Begriff ist - eventuell durch Glaubens- bzw- Bekenntnisfreiheit ersetzen, um dem spezifischen Charakter des Bischofs gerecht zu werden.

Ansonsten habe ich bis auf einige Formalien nichts auszusetzen. Dir gelingt es sehr gut, eine düstere, beinahe mittelalterliche Stimmung zu erzeugen und diese bis zum Schluss durchzuhalten.
Ein Bischof, der sich in seinem Glauben so sehr eingepfercht hat

Also steht er jeden Tag auf der erhöhten Platte am Stadtplatz und predigt für seine Stadt, seine Gemeinde.
wirre Psalmen verkündet und die Hölle auf die Sünder herabfleht, die Verdammung für die, die den Verführungen Satans nicht widerstehen und den Segen für seine treuen Schafe.
Jeden Tag steht er da und fordert das Fasten, die Buße und Umkehr dieser verlotterten, sittenlosen Welt, ob Regen oder pralle Sonne.
, sich ins Extreme steigert
Er hält inne, als er in den Menschenmassen, die in der Einkaufsstrasse an ihm vorbeiziehen, eine Frau entdeckt.
Seine Augen funkeln, und er wirft ihr die Worte vor die Füße wie einen dreckigen Fetzen.
Mit einem gewandten Sprung, den ihm niemand aus der Masse zugetraut hätte, stürzt er vom Podest herunter und auf die Frau zu, packt sie an den Schultern, schüttelt sie.
und schließlich resigniert
Seit einem halben Jahr jetzt ist er ganz verstummt. Er nimmt an seinen Sitzungen teil, lässt sich in die Therapie führen ohne sich zu wehren wie am Anfang.
und letzten Endes
eine alte Eisengabel hat er sich ins Fleisch gestochen und sich damit die Venen zerfetzt.
die Konsequenez aus allen drei Verhalten zieht.


Die Formalien:

niemand kann sich erinnern, dass es Zeiten gab, wo er nicht gestanden und gepredigt hätte.
nur noch vereinzelt Tropfen auf die leere Stadt fallen, liegt ein wehmütiger, sanfter Ausdruck
Die Messe über steht er, betet laut die Worte der Priester mit ohne Komma und gibt zum Schluss den Segen für die Gläubigen
Unruhe während der Verhandlung, der Angeklagte springt immer wieder auf
„Rette mich, Herr, vor bösen Menschen,
Behüte mich, Herr, vor den Händen der Frevler -“

 

Hallo Hendek!

Danke für den Kommentar. Die Meinungsfreiheit war so gemeint, dass, wenn es sie nicht gäbe, ihn schon lang irgendwer aufgehlaten hätte ... da es allerdings so wohl nicht kalrwird, habe ich es in Bekenntnisfreiheit geändert. Auch die Kommafehler sind behoben. Ich habe mich gefreut, dass Du den Selbstmord als Konsequenz siehst und er somit nachvollziehbar scheint.

schöne Grüße
Anne

 

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