Bist du glücklich?
„Im Grunde genommen“, erklärte Nicole und nahm einen Schluck Kaffee bevor sie weiterredete, „ist die Floskel `Wie geht es dir` ungefähr so überflüssig wie impotente Männer.“ Wir lachten und Anna prustete ihre heiße Schokolade quer über den Tisch. „Nein im Ernst“ durchbrach sie das Lachen. „Es gibt eine einzige, internationale Antwort auf die Frage wie es einem geht. Und das ist `gut und dir?`.“ „Stimmt!“, bestätigte Juli. „Im Grunde genommen sollte man die Frage umstellen, wenn man sich tatsächlich dafür interessiert wie es dem anderen geht.“ Eine Pause entstand. Nicole zündete sich eine Zigarette an und Anna beobachtete fasziniert den Kellner, der ihr heimlich zuzwinkerte.
Ein Mann mit Hut und Gitarre stellte sich in die Nähe des Cafès und fing an „Let it be“ von den Beatles zu spielen.
„Bist du glücklich?“ wendete sich Juli unvermittelt an mich und durchbrach die melancholische Stimmung. Ich holte tief Luft und trank ein Schluck Kaffee, obwohl der kalt geworden war. Die anderen richteten ihre Blicke auf mich. Der Gitarrenspieler hörte auf, zu spielen. Ich versuchte ruhig zu wirken, doch in meinem Kopf fing ein Karussell, was lange stillgestanden hatte, sich an zu drehen. Ich lächelte Juli unverbindlich an und antwortete bemüht elegant; „comme ci, comme ca!“ Mal so, mal so... Anna fing wieder an zu kichern, sie kannte meine Art zu genüge auf Fragen nicht direkt zu antworten. Die Musik setzte erneut ein. Ich lehnte mich in dem Strohstuhl zurück und setzte die Tasse Kaffee ab. Situation gerettet. Doch das Karussell drehte sich gnadenlos weiter, immer und immer schneller.
In der U-Bahn auf dem Weg nach Hause beobachtete ich die Menschen. Es ist wohl bekannt, das Menschen in der U-Bahn grundsätzlich zu erbärmlichen Gestalten werden, mit tief hängenden Mundwinkeln und Augen, die ins Leere schauen. Es ist, als würde man sich in wandelnde Leichen verwandeln, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass man sich lebendig unter der Erde befindet. Mein Blick rauschte über die Leute, blieb hängen an zwei Jungen Frauen, die sich erst ansahen, um sich dann in die Arme zu fallen und zu jubeln, verhalten natürlich, man wollte ja das traurige Leichendasein der anderen Fahrgäste nicht stören. „Sabine“, schrie die eine. „Wie schön dich zu sehen!“
„Wie geht es dir?“ „Gut, und dir?“
Das unvermeidliche war geschehen. Der internationale Code war wieder angewendet worden. Ich schüttelte nachdenklich den Kopf.
Ich stieg spontan 3 Stationen früher aus. Es war mittlerweile Abend geworden. Die Menschen auf den Straßen waren betont beschwingter, verliebter, fröhlicher. Ich lächelte die vorrübergehenden Pärchen an und sie lächelten glücklich zurück. Die Glocken einer Kirche in der Nähe schlugen elf mal, als ich an seiner Haustür ankam. Ich klingelte und er öffnete mit einem müdem Blick und verwuschelten Haaren. Als er mich sah, erwachten seine Augen und er umarmte mich. „Bist du glücklich?“, flüsterte ich in sein Ohr.
„Ja“, flüsterte er zurück. „Sehr sogar“.
Ich genoss seine Wärme, seinen Geruch. „Ich auch!“ sagte ich mit fester Stimme. Mehr zu mir als zu ihm. Trotz Kriege und obwohl ich kein Haus besaß und keine Million. Obwohl es anfing zu regnen und die meisten Menschen fragen „Wie geht es dir?“ Das Karussell hörte sich auf zu drehen und ich hüpfte wie ein glückliches Kind heraus.