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Bist du glücklich?
Eine kleine, verrauchte Kneipe, irgendwo am Stadtrand. Es ist später Abend, viele Gäste haben sich bereits auf den Heimweg gemacht, nur Beppo ist irgendwo zwischen dem dritten und vierten Bier hängen geblieben. Er sitzt an der Bar, hinten in der Ecke, und hat seinen grauen Mantel immer noch nicht abgelegt, obwohl es angenehm warm ist – anders als draußen, da schneit es. Die dunkelblaue Baskenmütze, die er so gerne trägt, liegt vor ihm auf dem Tresen, und Beppos Hand ruht darauf, als wolle er darauf Acht geben, dass kein Sturm die Mütze fortweht.
Plötzlich wird die schwere Eingangstüre aufgestoßen und mit einigen wild umherwirbelnden Schneeflocken betritt Heinz den Raum. Sein freundliches, fast schon übermütig wirkendes Gesicht will nicht so recht zu dem strengen Anzug passen, den er unter dem grünen Parka trägt. Suchend blickt er sich im Gastraum um, wohl aber eher, um den Menschen in der Kneipe Zeit zu lassen, ihn zu bemerken, als um selbst etwas zu finden. Dann fällt sein Blick wie zufällig auf Beppo, er hebt die Brauen und geht mit gemessenen Schritten auf ihn zu, um ihn herum und setzt sich neben den kleineren Beppo, der einige Augenblicke braucht, um von seinem Bier aufzuschauen.
„Beppo, so ein Zufall! Mensch, es muss Wochen her sein, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben! Wie geht es dir?“ Seine Stimme ist laut, einige blicken kurz herüber.
„Man lebt, man lebt“, antwortet Beppo leise. „Es geht eben immer weiter, irgendwie.“
„Das klingt ja nicht gerade begeistert“, sagt Heinz, „was ist denn los?“
Beppo verzieht den Mund und setzt zu einem müden Schulterzucken an.
„Ach ... eigentlich kann ich mich nicht beklagen. Wirklich. Ich meine, ich hab mal wieder einen Job, ich hab ein Dach über dem Kopf – eigentlich sollte ich glücklich sein.“
„Aber du bist es nicht?“
„Nein.“
„Aber warum nicht? Verdienst du denn nicht genug?“ Beppo mustert Heinz einige Augenblicke schweigend, ohne auf die Frage zu antworten, dann winkt er den Barkeeper heran.
„Zwei Bier bitte.“ Der Barkeeper nickt ihm zu und macht sich auf den Weg.
„Heinz, sag mal, hast du irgendwann schon einmal über den Sinn des Lebens nachgedacht?“ Heinz schaut verdutzt, als hätte er mit dieser Wendung nun überhaupt nicht gerechnet. Er hebt abwehrend die Hand.
„Der Sinn des Lebens? Ach Beppo, alter Junge. Fang doch nicht mit diesem Psycho-Kram an. Du weißt doch, es ist sinnlos, nach dem Sinn zu suchen. So viele haben es versucht, und bisher hat noch keiner eine Antwort gefunden.“ Er lehnt sich jovial auf den Tresen, sieht an Beppo vorbei und hat alles im Blick.
„Du verallgemeinerst.“
„Verallgemeinern? Weil ich sage, keiner hat eine Antwort gefunden?“
„Ja. Woher willst du das denn wissen?“
„Nun ja, ich nehme es eben an. Es ist doch wie mit dem Tod – auch von dort kam noch niemand wieder zurück, um zu berichten.“ Der Barkeeper kommt und stellt zwei Bier auf den Tresen. Beppo nimmt sofort einen Schluck, Heinz zieht scharf die Luft ein und atmet dann seufzend aus. Schweigend wartet er, bis Beppo getrunken hat.
„Heinz“, sagt Beppo nach einer Weile, „denkst du denn, mit dem Sinn des Lebens ist es genauso? Man spricht nicht darüber, selbst wenn man eine Antwort hat?“
„Vielleicht. Was weiß ich. Ist es denn so wichtig?“
„Wichtig. Vielleicht, ja. Vielleicht auch nicht. Also Heinz, mein Freund, falls ich jemals eine Antwort erhalte, werde ich sie dir auf jeden Fall mitteilen.“ Beide schmunzeln, nun trinkt auch Heinz einen Schluck. Schweigend stellt er das Glas wieder auf den Tresen zurück und dreht es so lange, bis er die Aufschrift lesen kann. Dann dreht er es ein wenig nach links, und wieder nach rechts, dann doch wieder nach links und blickt nachdenklich zu Beppo.
„Das würde doch eh niemand verstehen.“
Beppo hebt einen knorrigen Zeigefinger. „Jesus hat auch davon berichtet, und man hat ihn verstanden!“
„Jesus ist tot“, entgegnete Heinz trocken. Beppo scheint sich davon nicht beirren zu lassen.
„Ach?“ fragt er. „Denkst du denn, nur deshalb, weil jemand die Antwort auf solch eine Frage gefunden hat, lebt er ewig?“
„Ewiges Leben, tja. Wäre das nicht der eigentliche Traum, Beppo? Ewig zu leben? Vielleicht können wir die Antwort nur deshalb nicht finden, weil wir nicht lange genug leben.“ Beppo sinkt zurück und betrachtet sein Bierglas.
„Ja, das Leben holt uns irgendwann ein.“ Beide schweigen nachdenklich ihr Getränk an, bis Heinz nach einer Weile plötzlich aufblickt.
„Wenn ich einen Wunsch hätte, ich würde mir wünschen, ewig zu leben!“ Beppo lächelte verschmitzt.
„Ewig leben? Dieses Leben, Heinz? Bist du sicher?“
„Warum nicht?“
„Weil es dir langweilig wird. Irgendwann. Ich bin sicher.“
„Du verdirbst einem auch alles.“
„Entschuldige, Heinz.“
„Schon gut.“ Beppo tippt an sein halb volles Bierglas, ein leises, gläsernes Klicken ertönt. Ohne Heinz anzusehen spricht er nachdenklich weiter.
„Verstehst du denn jetzt, wie es mir geht?“
„Wie meinst du das?“
„Ich frage mich das ständig – jeden Tag. Immer wieder. Was ist der Sinn? Warum sind wir alle hier?“
„Nun ja, Beppo, wir unterhalten uns hier miteinander.“
„Ja, aber warum?“ Beppo blickt Heinz aufbrausend an. „Warum, Heinz, sag mir das, warum?“
„Du kommst mir langsam wie ein kleines Kind vor mit deiner Fragerei!“
„Denkst du denn nie nach?“
„Nein, und du solltest es auch bleiben lassen! Wenn ich dich so ansehe, bin ich froh, dass ich nicht solche Gedanken habe wie du.“ Beppo setzt zu einer Antwort an, zuckt dann aber resigniert mit den Schultern und setzt sich wieder zurück.
„Bist du denn glücklich, Heinz?“
„Ja, bin ich.“
„Vielleicht hast du den Sinn ja bereits gefunden.“ Beide blicken sich eine Weile schweigend an, dann beginnt Heinz zu lächeln.
„Das wüsste ich doch.“ Beppo blickt Heinz eine Weile fast ausdruckslos an, dann lacht er leise, humorlos auf und nimmt einen weiteren Schluck. Lange Zeit sagt niemand ein Wort. Schließlich fährt sich Beppo nachdenklich über das stoppelige Kinn und wendet sich Heinz zu.
„Vielleicht hast du Recht, Heinz. Du denkst nicht nach und bist glücklich. Viele sind wie du. Sie denken nicht nach, und das macht sie glücklich. Sie verändern sich nicht, führen ein einfaches, mehr oder weniger gottgefälliges Leben, aber sie sind glücklich. Manchmal bin ich mir sicher, denken bringt Unglück. Es belastet uns nur. Wir sehen Dinge, die wir besser nicht sehen sollten. Wir versuchen, Sachen zu verstehen, und scheitern. Wir versuchen, hinter den Vorhang zu sehen, und was wir sehen, enttäuscht uns. Ständig fühlen wir uns unverstanden und vielleicht, Heinz, vielleicht erwarten wir einfach zuviel. Wer viel erwartet, bekommt zuwenig, und wer keine Fragen stellt, beklagt sich nicht über fehlende Antworten.“ Heinz macht eine wegwerfende Geste mit der Hand.
„Jetzt wirst du pathetisch, Beppo. Das bringt doch auch niemanden weiter.“ Beppo lächelt resigniert. Müde fingert er nach seiner Geldbörse und legt Geld auf den Tresen.
„Ich werde mich wohl früher oder später bessern müssen. Wie du ja sagst, meine Art bringt keinen weiter. Es ist spät, gehen wir?“
„Ja, klar, es ist wirklich spät geworden.“ Beppo greift sich seine Baskenmütze, dann lächelt er Heinz an.
„Heinz, mein Freund. Es gibt Menschen, die gewinnen dadurch, dass sie sich verändern. Und solche, die dadurch nur verlieren. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du bleibst, wie du bist!“ Heinz scheint kurz verwirrt, dann erscheint ein Lächeln, wie automatisch, auf seinem Gesicht.
„Ich wünsche dir auch alles Gute!“