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Blau und Weiß
Intro
Verschlafen schiebt sich ein rostiger Zug in den Bahnhof des Fischerdorfes. Auf dem ausgeblichenen himmelblauen Anstrich prangen bunte Schriftzüge aus Graffiti. Die alten Bremsen zerschneiden die schwere Sommerluft mit einem schrillen Quietschen. Einige der anwesenden Leute, die müde über den Bahnsteig schlendern, heben die Hände vor die Ohren.
Zischend und knallend öffnen sich die Türen. Ein junger Mann springt heraus, so dass einige Leute verschreckt zurück weichen. Seine zerrissenen Turnschuhe prallen auf das sandige Pflaster. Das schillernd gelbe Fußballtrikot bildet einen scharfen Kontrast zu seiner kaffeefarbenen Haut und den dunklen Haaren, die in langen Strähnen über seine Schultern fallen. Er trägt eine große afrikanische Trommel an einem Gurt auf seinem Rücken. „Miguel!“ schallt es aus dem inneren des Zuges. Er reißt seinen Oberkörper herum.
„Fang!“
Ungeschickt taumelt er einige Schritte zurück, als eine schwere Reisetasche in seine geöffneten Arme fliegt. Schallendes Gelächter ertönt. Ein Weiterer schiebt sich aus dem engen Ausgang. Seine tiefblauen Augen blitzen in der Sonne. Auf dem fein geschnittenen Gesicht zeigt sich ein wenig zarter roter Sonnenbrand. In der Rechten schleppt er einen Gitarrenkoffer und in der Linken eine weitere Trommel. Er reckt seinen groß gewachsenen Körper und brüllt zurück zur Tür: „Hey, wollt ihr beiden da drin ne Party feiern? Wir verpassen noch unseren Bus.“
„Kein Stress, Vic!“ ruft ein Dritter, dessen verschwitztes schulterlanges Haar in bunten Farbtönen leuchtet. Er trägt eine Bassgitarre mit seinem Gepäck hinaus. Aus einem Radio in seiner Hand ertönt „Wish You Were Here“ von „Incubus“. Obwohl er beide Hände voll hat, qualmt eine selbst gedrehte Zigarette in seinem Mund. Der vierte Junge, dessen halblange dunkelbraune Haare verspielt in einer warmen salzigen Brise wehen, greift vorsichtig danach und nimmt einen tiefen Zug. Seine bodenlosen dunklen Augen schauen der Rauchwolke für einige Sekunden nachdenklich hinterher, als die Schwaden ins weite Blau davon ziehen.
Der wolkenlose Himmel stellt der Augustsonne an diesem Morgen keinerlei Hindernisse in den Weg. Sie legt auf die sich allmählich füllenden Cafés und den aus hellem Stein gemauerten Kirchturm am Marktplatz eine wärmende Decke aus weißem Licht. Auf der Ostsee tanzen tausend Diamanten, als eiferten sie ihrem glühenden Vorbild am Himmel nach.
Weit weg vom schleppenden Treiben des Dorfes, hinter den weiten Sandflächen, auf denen sich vereinzelt müde Touristen räkeln, hinter einem Strandabschnitt mit groben Felsen, deren nasse Oberflächen blitzen, als seien sie blank poliert, liegt ein einsamer Abschnitt bedeckt mit reinem hellen Sand. Ein kleiner Wald hat diesen nahezu perfekt umschlossen – an einigen Stellen haben sich die Wurzeln fast bis an die Brandung ausgestreckt.
Wellen umspülen das mächtige Gerippe eines toten Baumes. Die zerbrechlichen Hände eines Mädchens schließen sich um ein paar abgestorbene Zweige und Einbuchtungen im sandigen Holz. Sie zieht sich hinauf und blickt suchend auf das Meer. Ihre Haut gleicht den weichen Blütenblättern einer weißen Rose. Sie atmet langsam aus und lässt sich direkt neben einem nach oben aus dem Stamm ragenden Ast nieder. Das Holz ist wie gemeißelter weißer Stein. Sie vernimmt den süßlichen Geruch von Sonnencreme, die dick auf ihrer bleichen Haut aufgetragen ist. Der fettige Film lässt das weiße Kleid an ihren dünnen Oberschenkeln festkleben. Heißer Wind streichelt durch ihr silbrig blondes Haar. Auf ihrer Zunge liegt noch immer der Geschmack der Geburtstagstorte. Marzipan, das an den Zähnen festklebte und knisternder Zuckerguss. Darauf eine bunte zwölf - zusammen mit ihrem Namen: Linda. Zwölf Jahre - Es ist nun alles zwei Jahre her.
In ihren klaren Pupillen spiegelt sich das Spiel der Wellen und die Ruhe des Himmels. Ein zartes Lächeln will nicht von ihren zierlichen Lippen weichen. Die ganze Welt ist heute wie für sie gemacht. Nur Blau und Weiß, Blau und Weiß. Die Farben spenden Trost. Erinnerungen stechen in jedem Funkeln auf dem Wasser. Die Vergangenheit schiebt sich blendend in ihre Gedanken.
Interludium - Mama
Linda schaute nur noch in einen Spiegel, als sie die Augen fixierte. Tiefe Ränder zogen sich unter ihnen entlang. Die Augen ihrer Mutter. Sie stellte sich vor, weiche helle Haare unter den Händen zu fühlen. Stattdessen kämmten ihre Fingerspitzen nur vorsichtig über eine gummiartige Kopfhaut.
Ihre Mutter war nicht länger ihre Mutter. Sie konnte schon lange nicht mehr reden. War eins mit einer Maschine – einem gigantischen Parasiten, der seine Schläuche, wie Tentakel, überall um ihren gebrochenen Körper geschlungen hatte. Tief in ihren Mund und die zarte Nase, die Linda immer so gern an ihrer Wange gespürt hatte. Ein Schlauch führte unter die Decke und zwischen die Beine. So als wollte das mechanische Ungeheuer auch den letzten Rest des Menschen aus dem inneren der Hülle fressen, die Linda einst so sehr geliebt hatte.
Ein flehender Blick hinauf zum Gesicht ihres Vaters. Die verquollenen Augen waren geschlossen. Seine schwarze Stoffjacke roch nach einer Mischung aus Schweiß und beißendem Alkohol. Eine seiner Hände stützte sich auf einen Stuhl – doch selbst so schien er sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Linda hatte Angst vor zu Hause. Das Geschrei hallte noch immer in ihren Ohren nach.
Sie riss den Blick zu ihrer Mutter. Immer noch hoffend, plötzlich doch wieder ihr gütiges Lächeln sehen zu können. Doch in den matten Augen lag nur noch ein kleiner Funke, der Linda nicht vergessen ließ, wer dort vor ihr lag – vielleicht war es auch nur die Spiegelung ihres eigenen Blickes, der einen Teil der Wärme in sich trug, die die kalte knöcherne Hand, die Linda noch immer fest umklammerte, lange schon nicht mehr geben konnte. Ihre Mutter und sie hatten die gleiche helle Hautfarbe. Heute war die Haut der kranken Frau dagegen noch eine Spur bleicher. Bleicher als die Wände und die weiße Bettwäsche.
Linda sah, dass sie tot war, obwohl sie noch atmete und die ausdruckslosen Pupillen apathisch umher irrten. Sie kehrte sich von dem Körper ab. Weinte, bis alles um sie schwarz wurde.
Ankunft – 2. August
Das Geräusch unserer Schritte ging in den brachialen Klängen des Hardcore-Punks unter, der aus meinem tragbaren Radio schallte. Marlins dunkle Augen waren auf den Himmel gerichtet. Er schien sich nicht daran satt sehen zu können, obwohl er blinzeln musste, um gegen das grelle Sonnenlicht anzuarbeiten. „Geiles Zeug. Ist das das neue Strike Anywhere Album?“ brüllte er durch den Sound der brausenden E-Gitarren.
Ich formte nur ein breites Lächeln und entgegnete: „Jo.“
Wir zogen vorüber an einem Wald aus spitzen Nurdachhäusern. Vereinzelt blieben Spaziergänger oder ältere Ehepaare stehen und musterten unseren unüberhörbaren Zug durch die Ferienanlage mit grimmigen Gesichtern und Kopfschütteln.
„Man kann diese herrliche Mukke nur auf voller Lautstärke richtig genießen. Reiß auf das Teil!“ warf mir Victor entgegen. Der Alkohol auf unserer weiten Zugfahrt hatte sich hörbar auf seine lallende Stimme niedergeschlagen. Über seinem breiten Grinsen blitzten die tiefen blauen Augen in freudiger Erwartung.
Ich strich mir einige verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht und betete, dass die bunte Farbe in ihnen nicht abfärbte. „Sicher? Die Mumien gucken schon jetzt so, als hätten sie Appetit auf rohes lebendes Fleisch.“ entgegnete ich und deutete mit einem Kopfnicken auf einen finster drein schauenden älteren Herren mit Sandalen und Feinrippunterhemd, der von einer Sonnenliege in seinem Vorgarten aufgestanden war.
Viktor stieß ein helles Lachen aus und hob kurz den Gitarrenkoffer in seiner Rechten ein wenig an. „Ach, hab mal keine Angst. Wir sind hier keine Archäologen, die die Fossilien nicht kaputt machen wollen – wir sind eine Punkrockband! Und so lange meinen Eltern der Laden hier gehört, wird das auch niemand ändern.“
Ich verzog mein Gesicht und hatte Angst, der Apparat würde in meiner Hand explodieren, als Victor an den Lautstärkeregler griff und ihn bis zum Anschlag aufdrehte.
Miguel stürmte ein paar Schritte vor und stieß einen Schrei des Triumphes aus, bevor er den Rhythmus des Liedes mit ein paar heftigen Schlägen auf der Trommel begleitete, die an seiner Seite baumelte. Während Victor, Marlin und ich in der Hitze trotz unserer guten Laune fast untergingen, kam Miguel nichts anderes in den Sinn, als energisch herumzuwirbeln. Er zog Grimassen und führte einen obskuren Tanz auf, der uns vor Lachen fast zusammenbrechen ließ. Meine Bauchmuskeln verkrampften sich so stark, dass es mir die Luft abschnürte und ich Miguel prustend um Gnade bat.
Die Tür unseren Ferienhauses – ebenfalls ein Nurdachhaus – wurde donnernd aufgestoßen und wir stürzten hinein. Miguel warf seine Tasche auf einen Stuhl, der bei der Aktion gleich mit zu Boden ging. Auch ich entledigte mich meines Gepäcks und riss den Reißverschluss meiner Tasche auf, hinter dem mich das gelbliche Glas einer noch immer kühlen Flasche Sekt anlächelte. Miguel und Marlin stürmten von zwei Seiten an mich heran und eine Faust rubbelte durch meine Haare. Lachend und grölend taumelten wir durch den Raum und fielen schließlich zu dritt auf eines der zwei Sofas. Ich pulte an dem Verschluss des Sektes herum, als mich ein Knallen, das asynchron zu der noch immer laufenden Musik losbrach, aufschrecken ließ. Ich zog meine Augenbrauen bei Victors Anblick kurz zusammen, bevor ich wieder ins Lachen verfiel. Er schlug ein rotes Plakat mit Hammer und Nägeln an die Tür. Nach einigen Sekunden entfernte er sich ein paar Schritte von seinem windschiefen Ergebnis. Mein Herz schlug schneller, als ich die Aufschrift las:
„Acoustic Youth – Beach Party - 20.08.“. Bands: Homeless, Radiating Heat, Extreme Compromise, Jade Sun.
„Extreme Compromise!“ schrie Miguel mit erhobener Faust und wir stimmten mit ein.
„Das wird so scheiße geil!“ setzte Miguel fort und wir schmunzelten bei seiner Aussprache. Er war erst seit vier Monaten in Deutschland. Die Sprache seiner fegenden Hände auf den Drums hatte uns jedoch schnell überzeugt und ehrfürchtig staunen lassen. Ich hoffte, dass er auch auf seinen afrikanischen Trommeln mit bloßen Händen ein ebensolches Inferno entfachen konnte, wie auf seinem normalen Set.
In das freudige Jubeln warf ich ein: „Es wird vor allen Dingen scheiße viel Arbeit, unseren Hardcore-Punk in Akustikversionen umzuschreiben. Und noch dazu zwei neue Songs, die wir im Internet versprochen haben.“
Wir hatten uns um diesen Auftritt bemüht, obwohl er nicht unserem eigentlichen Stil entsprach. Uns hatte der Ort aufgrund der Ferienanlage, die Victors Eltern gehörte und der Natur gelockt. Immerhin mussten wir alle ein wenig Urlaub machen, bevor das Studium weiter ging. Warum also nicht beides verbinden?
Victor nickte. Da war wieder dieses Funkeln in seinen Augen. „Keine Panik – hier sind noch ein paar Andere, die dieses Event als eine Chance sehen, endlich mehr Bekanntheit zu erlangen. Ich werde nicht dabei scheitern.“
„WIR werden nicht dabei scheitern,“ fügte Marlin lächelnd hinzu und wir stießen einen motivierten Ruf aus.
Victor erhob einen Finger. „Aber vorerst!“ Er grinste breit. „Sorgen wir für kreative Atmosphäre. Ohne Fickfleisch produziere ich hier nämlich gar nichts.“
Ein Schnitt in der Szene. Ich konnte geradezu spüren, wie meine Glückshormone zu sprudeln aufhörten. Marlin schüttelte den Kopf. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm ins Gesicht. Ich merkte, wie die die Hitze zwischen den beiden anstieg. Ich hoffte, dass nicht wieder das Feuer ausbrechen würde, welches ich für meinen Geschmack oft genug gesehen hatte. Victor setzte fort. „Und deshalb werde ich jetzt zu dieser Schlampe Natalia aus dem Internet aufbrechen und sie und ihre verhurten Gefolgsnutten zu einer kleinen Party heute Abend einladen.“
„Erst einmal ist Natalia ist keine Schlampe,“ stieß Marlin kalt aus. „Und generell …“
„Und generell,“ schlug Victor zurück. „Empfehle ich dir, lieber dem Meister zuzusehen und dich zurück zu halten, wenn es um solche Dinge geht. Sonst bekommst du nämlich überhaupt nichts zum vögeln ab, wenn hier nicht mal einer realistisch im Beurteilen von Weibern ist. Außerdem kennst du die Bitch doch sowieso nur über mich. Hätte sie mir nicht geschrieben, wärst du nie auf sie gekommen. Und genau so werde ich mein Gott gegebenes Recht der Erstbegattung bei ihr anwenden, denn: Wer es zuerst findet, darf’s behalten.“
Marlin wollte noch einmal das Wort erheben, doch Victor schlug es vor dem ersten Geräusch nieder. Er steckte in einem Redeschwall, der typisch für ihn war. „Ja, Ich bin ein primitiver Neanderthaler! Und ich bin, perverser Weise, genau das, was deine ach so geliebten Weiber wollen - im Gegensatz zu einem weinenden Emo, wie dir.“
Und da war die Grenze, die ich nicht überschritten haben wollte. Ich warf ein: „Emo? Und das von jemandem, der zwei Alben von Dashboard Confessional besitzt.“
Victor grinste mich freundschaftlich an. „Arschloch,“ sagte er und stieß ein abgehacktes Lachen aus. „Grillfleisch ist in meiner Tasche – ihr müsst eventuell noch ein Bisschen was kaufen. Ich geh dann mal und sorg für den Schlampensupport.“
Die Tür fiel ins Schloss. Der ausgelöste Luftzug wehte meine Haare ein wenig nach hinten. Ich schaute nach links. Marlin starrte eisern auf den Fußboden. Jeglicher Ausdruck war aus seinem Gesicht verschwunden. Er hatte sich irgendwo im Abgrund hinter seinen dunklen Augen verloren.
Ich bewegte meine Hand auf ihn zu. „Alles in …“
Marlin zog seine Schulter weg und sprang geradezu auf die Füße. Er schaute weder Miguel, noch mich an, als er auf seinen Gitarrenkoffer zuschritt. Sein Kopf war noch immer auf den Boden gerichtet, so dass man das Gesicht hinter den Haaren nicht sehen konnte. Er murmelte: „Ich geh´ am Strand ein paar neue Sachen für `nen Song schreiben.“
Mir blieb die Sprache im Hals stecken und ehe ich etwas sagen konnte, knallte die Tür erneut ins Schloss.
Miguel und ich fielen in die Polster des Sofas zurück und stießen zeitgleich ein Seufzen aus. Ich schüttelte den Kopf und strich meine Haare hinter die Ohren. „Na, das fängt ja wundervoll an.“
Strand
Marlins Schritte werden schneller, als seine blanken Füße den heißen Sand berühren. Augen mustern ihn aus schattigen Strandkörben und von bunten Handtüchern, die in der prallen Sonne leuchten. Kinder spielen mit Plastikförmchen, Mädchen werfen Frisbees, Mütter öffnen Tupperdosen mit weich gewordenen Brötchen. Alle schauen ein wenig nach ihm. Oder bildet er sich das nur ein? Ein unangenehmes Gefühl macht sich in ihm breit – obwohl es eigentlich niemanden wundern sollte, dass Leute dazu neigen, einem zerzausten Typen hinterher zu blicken, der einen Gitarrenkoffer mit sich herum trägt, auf dem anarchistische Symbole und provokante Bandlogos prangen. Er geht weiter, bis die angenehm kühle Brandung seine Füße umspült. Sie sacken ein wenig im nassen Sand ab. In ihm steigt das Verlangen, einfach vor Allem und Jedem davon zu laufen. Etliche kleine Muscheln kitzeln an den Zehen. Die Ostsee riecht unbeschreiblich – nicht nach salzigem Ozeanwasser, aber dennoch unverkennbar nach der Weite eines Meeres. Victor hätte sich hier einfach mit seiner Gitarre an den Strand gesetzt und gespielt. Marlin tritt bei dem Gedanken in das heranbrausende Wasser. Er blickt zum Himmel und sehnt sich nach etwas Mut. Dünne Windböen schlagen ihm entgegen, als er den Strand weiter hinab geht. Er dreht sich noch einmal nach der Ferienanlage um, bevor er seinen Weg in Richtung des felsigeren Strandabschnittes fortsetzt. Er legt die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. In der Ferne zeichnet sich die dunkle Silhouette eines kleinen Waldes ab. Die Sonne hüllt Marlin in warmes Licht und zwingt ihn zu einem Lächeln, was er nicht versteht. Marlins Schritte und die Brandung klingen in seinen Ohren wie ein ruhiges Lied. Er ist allein. Mit jedem Schritt ein Stückchen mehr.
Zufrieden beäugt Marlin den majestätischen weißen Stamm des toten Baumes. Überlegen liegt das Gerippe vor dem brandenden Wasser. Manchmal gleitet eine flache Welle sanft an sein Holz, das wie glänzender Alabaster wirkt. Lächelnd dreht sich Marlin einmal um die eigene Achse. Die Bäume waren so dicht gewachsen, dass man diesen kleinen Strand von außen überhaupt nicht gesehen hatte. Seine Beine fühlen sich erschöpft an und er läuft auf den toten Baum zu. Marlins rechte Hand findet schließlich einen Halt an der Warmen rauen Oberfläche eines Astes und er steigt hinauf – immer darauf bedacht, seinen Gitarrenkoffer nirgendwo anzuschlagen.
Schließlich findet sein Körper eine stabile Position zum Sitzen. Seine Hand streicht die störenden Haare aus seinem Gesicht und sein Blick wandert zuerst auf seine Hände und schließlich suchend über den Stamm. Er lächelt und stößt ein halb geflüstertes „yeah!“ aus, als er den Koffer zwischen zwei Ästen einklemmt. Vorsichtig öffnet er die Laschen an der Seite und klappt den Deckel nach oben. Ein wenig Adrenalin kitzelt beim Anblick der Saiten in seinem Bauch. Er streicht über das helle Holz und entnimmt die Gitarre schließlich vorsichtig. Marlin legt den Kopf an einen Ast, der direkt neben ihm nach oben ragt, als würde er nach dem Himmel greifen. Das sanfte streichen des Windes entlockt den Saiten bereits erste geflüsterte Klänge.
Mit verträumten Blicken verfolgt er einen Fischkutter, um den sich ein Schwarm kreischender Möwen geschart hat. Er wartet, bis das Schiff so weit weg ist, dass man es nur noch als kleinen Punkt im Blau erkennen kann. Seine Augen zwinkern langsam. Er streicht vorsichtig über das Holz der Gitarre. „Ein neuer Song, ein neuer Song,“ flüstert er immer wieder.
Das Rauschen der Wellen und der Wind in den Gräsern durchdringen Marlins Gedanken. Lassen ihn klarer sehen. Er schließt die Augen und versinkt im Wohlbefinden. Er gräbt in seinen Erinnerungen. Lässt sie lebendig werden. Er blinzelt und verfolgt für einen Moment das Spiel der Wellen. Das Wiegen der satten Gräser, die aus hellen sandigen Steinen und Kies hervor lugen. Es ist Perfektion. Und je mehr er in sich versinkt, desto mehr lässt es ihn ein Teil davon werden.
Das Streichen einer warmen Brise erinnert ihn an die Berührung eines Mädchens, das er einmal gekannt hatte. An ihre Umarmungen und die vorsichtigen Küsse in ihrem Hochbett. Wie ihre weichen Lippen nach den süßen Kirschbonbons schmeckten, die sie immer so gern im Mund zergehen ließ – immer ganz langsam. Meist war ihre Zunge danach noch ganz rot davon. Ihre dunklen Haare, die die strahlenden grünen Augen verdunkelten, wenn sie einmal davor fielen. Die weichen Finger, die sie dann wieder zurück bewegten und die edeltsteinartigen Pupillen erneut enthüllten. Das Gefühl der letzten Nacht, bevor sie aus dem Heim gezogen war. Das Gefühl der Stunden, bevor man auch sie von ihm weg gerissen hatte, weil er so war, wie er war. Das Gefühl der letzten Sekunden eines Traumes, der scheinbar nie existierte.
Ihr Bild verflüchtigt sich in ihrem hellen Blick. Macht zuerst wieder dem Strand und schließlich neuen Träumen platz.
Die Phantasien fliegen auf dem Wind, der brausend das Wasser zerwühlt und über die erstarrten Äste des Baumes streicht; in die Augenblicke hinein und durch sie hindurch.
Unzählige Splitter von Sinneseindrücken aus Gewesenem rasen geballt durch seinen Kopf – und werden schließlich auseinander gesprengt, um sich neu ordnen zu können. Zu Kompositionen aus Farben in einem Bild, Worten in einem Gedicht, Tönen, Rhythmen und Melodien – in einem Lied. „Wie mag Natalia wohl so sein?“ fragt er in sich hinein und lächelt.
Als Marlins Fingerspitzen die metallischen Saiten der Gitarre berühren, ist es ihm, als würden elektrische Funken sprühen. Er atmet tief ein und lächelt.
Linda lässt sich vom Meereswind den Kopf in den Nacken legen, um das unendliche helle Blau aufzusaugen. Dann hebt sie ihre Hände und bewegt sie rhythmisch vor dem Gesicht. Ihre Finger sind wie weiches Elfenbein. Es ist, als fasse man den Himmel an. Der Wind trägt helle Töne über die Weite des Strandes und die rauschende See. Er leitet sie auf den weißen Baum zu. Sie schließt die Augen und tanzt über den warmen Sand, der in ihre Sandalen dringt.
Lindas Haare flattern, als ihre Füße schneller und schneller über den weichen weißen Untergrund tapsen. Erst laufen, dann rennen. Das brennende Licht der Sonne verliert im Wind ein wenig seine Kraft. „Robin,“ denkt sie immer wieder. „Robin, Robin!“ Sie hört den Namen so laut in ihrem Kopf, als würde sie ihn wirklich aussprechen. Doch über ihre Lippen gleitet nur der erschöpfte Atem. Sie rennt in die Vergangenheit. Weit, weit zurück.
Interludium – Robin
Lindas Blick wanderte über die Wände von Robins Zimmer. Ihr Bruder schritt gähnend auf das Bett zu, in dem sie lag. Sie zeigte mit einem Finger auf die Gitarre, die vor seinem Schrank stand.
Robin setzte ein Lächeln auf. Wenn er lachte, strahlten seine hellen Augen immer mit. “Na gut,” sagte er. “Aber dann musst du morgen wieder sprechen.”
Sie beäugte kurz ihn, dann das Instrument, dann wieder ihn. Ihr kleiner, halb unter der Decke vergrabener Kopf nickte.
Robin ergriff den Hals der Gitarre und setzte sich auf die Kante des Bettes. Sie betrachtete den schwarzen aufgeklebten Vogel hinten auf dem Corpus. Möwen waren Robins Lieblingstiere. Manchmal spielte er stundenlang ohne Unterbrechung. Mama und Papa hatten ihn gezwungen, Geige zu lernen, als er noch so alt war, wie sie. Aber Robin hatte sich in der Musikschule immer eine Gitarre gegriffen, wenn er auch nur eine kleine Pause bekam. Mittlerweile hing die Geige an der Wand. Robin musste sie seit Jahren nicht angefasst haben.
Linda lauschte den Klängen der Stahlsaiten und schloss die Augen. Die Gitarre war eigentlich noch ein wenig zu groß für Robin. Er weinte immer unter den weißen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen, wenn er spielte. Niemand konnte ihn dann hinter der Musik hören. Sie wusste, dass er das tat – aber sie sagte niemals etwas. Er versteckte sich so – denn er konnte sich nicht, wie sie selbst, vor Papa verstecken. Er wollte sie immer beschützen, alles aushalten. Er spielte manchmal so lange, bis seine Finger bluteten. Robin war nur drei Jahre älter als sie. Sie wollte ihn umarmen, aber ihre Glieder waren wie versteinert. Seine frischen Wunden mussten entsetzlich schmerzen. Die Luft im Zimmer war noch immer von Papas Schreien und subtilen Schwaden seines beißenden Schnapsgeruches durchsetzt. Versunken schlug Robins Hand langsame Akkordfolgen. Ihr wurde dabei ganz warm.
Sein Lied war wie ein kleines Stück Ordnung in einem Chaos, das zu viel für Linda war, um es zu verstehen. Sie beide kniffen die Augen zusammen.
Es war, als benutzte Robin eine Sprache, die niemand verstand, außer ihm selbst und ihr. Er berührte ihre Gefühle und Gedanken. Den Schmerz in ihrem Kopf und ihrem Bauch. Löste all das in den Melodien auf. Papa konnte sie in dieser Welt nicht erreichen – seine Brutalität konnte nicht in diese Sprache eindringen. Und auch, wenn er so laut Brüllte, dass man nichts Anderes mehr hörte – Robins Musik würde in ihrem Kopf nie mehr zu spielen aufhören. Er war immer bei ihr. Sie war in Sicherheit. Immer.
Sie spielten das Spiel, das ihr Robin vor ein paar Wochen beigebracht hatte. Wenn er die Lieder spielte, die er damals immer für Mama gespielt hatte – an Weihnachten oder an ihrem Geburtstag – dann konnte es einem für einen Moment so vorkommen, als sei es noch immer letztes Jahr. Oder Vorletztes. An manchen Stellen in den Liedern sah sie Mama ganz deutlich – ihr Lächeln, ihre Berührung, ihre Stimme, ihre Wärme. Und wenn er es so perfekt spielte und sie es sich beide so gut vorstellten, wie es möglich war – dann konnten sie vielleicht an diesen Punkt zurückkehren. Und immer zusammen bleiben.
Und immer zusammen bleiben.
Linda schlief ein.
Strand
Marlin lässt den letzten Akkord lange ausklingen, bis jegliche Spur des Tons aus der Seeluft verschwunden ist. Der Geruch von Sonnencreme treibt ihm entgegen. Woher kommt das? Er hatte doch – wie immer – vergessen, sich einzucremen. Unendlich langsam öffnet er seine Augen, blickt nach links, blickt nach rechts und fährt kurz zusammen. Er blinzelt noch einige Male, bevor er sich wieder gefangen hat. Ein Mädchen – sie muss in seinen Augen um die dreizehn Jahre alt sein – sitzt neben ihm auf dem Baum und umklammert einen Ast, als müsse sie sich festhalten.
Als sie seine Reaktion bemerkt, erschreckt sie ebenfalls und macht Anstalten aufzuspringen – sie führt die Bewegung jedoch nicht zu Ende, sondern nimmt wieder eine sitzende Position ein, als hielte sie ein unsichtbares Seil zurück. Sie schaut abwechselnd in Marlins Augen und auf die Gitarre. Wie erstarrt treffen sich ihre Blicke und verharren ineinander. Nur das stetige Branden der Wellen hält die Welt in Bewegung.
Die Augen des Mädchens haben die Farbe des Himmels – vielleicht sogar noch ein wenig heller. Am meisten heftet Marlins Blick jedoch an ihren weißblonden Haaren, die so lang sind, dass sie in ihrer Position fast den Stamm berühren. Marlin hatte noch niemals jemanden mit einer derartig hellen Haarfarbe gesehen. Ihre Haut ist wie bleicher Kerzenwachs und sie trägt ein dazu passendes weißes Sommerkleid. Aus ihren Augen funkelt blanke Neugier, die ihre Angst noch zu übersteigen scheint.
Schließlich setzt Marlin ein Lächeln auf. “Hallo,” sagt er mit dünner verdutzter Stimme.
Sie legt den Kopf schräg und mustert weiter die Gitarre. Einige Sekunden später schaut sie zu ihm auf und hebt ihren Arm. Sie winkt und lächelt ihm zu. Ihre Lippen haben einen matten rosafarbenen Ton.
In ihrem durchdringenden hellen Blick zeigt sich unbändige Erwartung. Ihre Augen sind zwar blau, aber trotzdem so anders als Victors, denkt Marlin. Sie haben nicht dieses satte, einnehmende und einschüchternde – viel mehr hat man den Eindruck von Klarheit. Und von Frieden.
Sie unterbricht mit einigen schüchternen Gesten seinen Gedankengang. Ihre linke Hand hält sie still in der Luft, während sie mit der rechten ein wenig wedelt.
Marlin lächelt. “Oh, du willst, dass ich weiter spiele?”
Hastig nickt sie und durchbohrt ihn starrend mit ihrem Blick. Sie lehnt sich so weit vor, dass sie sich mit einer Hand festhalten muss, um nicht zu stürzen.
“Ist ja OK,” sagt er lachend, weil er nicht mit dieser heftigen Reaktion gerechnet hatte. “Du redest nicht so viel, oder?”
Er beginnt mit den Fingern der rechten Hand ein paar Saiten zu zupfen. Sie lehnt sich wieder zurück und schaut auf die rauschende Brandung, die unter ihren Füßen an den Baum spült. Ihre kleinen Finger spielen mit einer Schildförmigen weißen Muschel und ihr Kopf deutet ein sachtes Schütteln an. Als sie ihn wieder ansieht, glänzen Tränen in ihren Augen. Marlin spürt ein Stechen in seiner Brust, als er ihren Blick sieht.
“Hey, tut mir leid,” sagt er. “Ich habe auch mal zwei Wochen lang nicht geredet, als es mir nicht gut ging. Ich finde das nicht schlimm.” Marlin setzt das wärmste Lächeln auf, was er zu Stande bringen kann. “Rede einfach, wenn du reden willst. Egal wann. Ich bin da nicht so.”
Zaghaft schaut sie wieder in seine Richtung und rückt ein Stück näher heran.
Das Mädchen hört mit geschlossenen Augen zu – sie scheint die Musik regelrecht einzusaugen. Aufmerksam beobachtet Marlin ihr Gesicht. Es verändert ständig die Regungen – mal lacht sie, mal verzieht sich ihr Mund zu einer wütenden Grimasse. Dann öffnet sie wieder blinzelnd die Augen, um Marlins fliegende Finger eine Weile lang zu beobachten. Schließlich erstarrt sie. Einzig ihre Pupillen wandern noch suchend umher. Sie haben kein Ziel und keinen Fokus. Ganz so wie die schwirrenden Blicke hinter den Lidern eines Träumers. Tränen fließen die weichen Wangen hinab. Selbst wenn es seine Absicht gewesen wäre, hätte er nicht mit dem Spielen aufhören können. Wieder und wieder schließt er seine Augen, schaut dann erneut auf ihr Gesicht, improvisiert neue Akkordfolgen, geht über in Teile aus bekannteren Liedern. Die Sonne legt sich auf ihre Gesichter wie eine wärmende Decke. Die Wellen tragen die flüchtigen Melodien mit sich über die See. Als Marlin seine Augen ein weiteres Mal schließt und sie erst nach einigen Minuten wieder zaghaft öffnet, sieht er nur noch ihre helle kleine Gestalt in Richtung der Bäume davon laufen. Es ist die entgegen gesetzte Richtung, aus der er gekommen war. Marlin verliert die Konzentration und produziert einen jaulenden schiefen Akkord, woraufhin er sofort die Hand auf die Saiten legt.
„Hey, warte!“ ruft er und sie verharrt in der Bewegung, dreht sich langsam um. „Alles ok?“
Sie nickt und lächelt. Deutet auf die kleine blaue Uhr an ihrem Handgelenk. Nachdenklich betrachtet er ihre zarte Gestalt. Sie erinnert ihn ein wenig an einen der kleinen Zweige des Baumes, auf dem er sitzt.
„Oh, verstehe,“ sagt er. „Wenn du willst, spiel ich dir aber gerne irgendwann noch ein paar Sachen!“
Sie nickt heftig und setzt ein strahlendes Lachen auf und winkt, bevor sie sich umdreht und in die Bäume davon huscht.
Marlin schüttelt den Kopf und schaut abwechselnd auf seine Gitarre und die dunklen Spuren, die die kleinen weißen Sandalen im Sand hinterlassen haben. Ist das gerade wirklich passiert?
Als der Himmel beginnt, die ersten flüchtigen Töne von orange und rosa anzunehmen, streichen Marlins Finger noch immer über die Saiten. „Du bist wertlos, du darfst nicht existieren,“ hämmert eine kratzige Stimme in seinem Kopf. Er lässt die Bilder nicht zu. Nicht heute. Statt dessen konzentriert er sich auf den Himmel und versucht mit seinen Tönen das Rauschen der Wellen festzuhalten, den Wind zu fangen und das Glitzern des Wassers in der Abendsonne ein wenig in die Musik zu übersetzen. Als er spürt, wie er langsam ein Teil seiner Umgebung wird, fließt eine einzelne Träne sein Gesicht hinab. Tropft von seinem Kinn ins Wasser. Er denkt an das Mädchen und wie sie sich über das Lied gefreut hat. „Es ist ok, dass ich lebe,“ flüstert er leise in die Weite, als er die Saiten der Gitarre verstummen lässt. Er sieht die Augen des Mädchens vor sich – so hell und so klar - und spürt zarte Ausläufer von Frieden in seinen Gedanken. Er küsst das Holz der Gitarre und legt sie behutsam in ihren Koffer zurück.
Party – 2. August
Der Saft des Fleisches, der auf die glühenden Kohlen tropfte, löste sich zischend in Dampf auf. Miguel zog den Duft genüsslich in seine Nase. Er wendete eines der Steaks, die er auf den übergroßen Rost gelegt hatte mit einem Taschenmesser. Da der Grill die ohnehin schon warme Luft noch weiter aufheizte, hatte er sein T-Shirt ausgezogen und genoss die Abenddämmerung mit freiem Oberkörper.
In diesem Moment öffnete ich die Tür des Bungalows und ich trat zu meinem Bandkollegen hinaus, der mir so allein ziemlich verloren vorkam. Ich schloss die Tür hinter mir und sperrte die Geräusche der langsam anlaufenden Party drinnen ein.
“Hmm, ausgezeichnet,” bemerkte ich und trat näher an den Grill, um selbst mehr von dem köstlichen Geruch des Fleisches zu haben. Ich redete mit Miguel auf Englisch weiter.
“Victor beeindruckt mich immer wieder,” sagte ich und schüttelte den Kopf. Mein Blick wanderte dabei zurück zur Tür. Ich grinste. Miguel tat es auch.
Seine angenehme tiefe Stimme wirkte irgendwie passend zur wohligen Abendluft. “Victor ist unglaublich.” Er strich sich eine dicke Haarsträhne, die mit einer roten Holzperle zusammengehalten wurde, aus dem Gesicht. Seine glänzenden dunkelbraunen Haare sahen aus wie Dreadlocks – nur ohne verfilzte Stellen. Ein verschmitztes Lächeln huschte über seinen Mund. “Er ist fast so gut, wie ein Brasilianer”
Ich lachte heiter. “Na davon hast du ja noch nicht so viel gezeigt.”
Seine Hand wendete mit der Messerklinge in einer blitzartigen Bewegung zwei Scheiben Fleisch. Auch er musste jetzt kichern. “Ich kann das auch nicht, so lange ich noch hungrig bin.”
Als er seinen Kopf hob, wurde sein Lächeln noch breiter. Seine Hand mit dem Messer legte sich zum Sonnenschutz über die Augen und die andere begann zu winken. “Olà Marlin!” rief er und blickte auf den Jungen, der gerade den Weg vom Strand hinauf spazierte.
Marlins Haare wehten im Wind und er hatte die Sonne im Rücken. Seine Silhouette mit dem Gitarrenkoffer erschien im Gegenlicht fast schwarz, ehe sich die Details der Gestalt in den warmen abendlichen Farbtönen enthüllten. Ein friedliches Lächeln zierte sein Gesicht.
“Hey Marlin, was geht?” rief ich freudig. Ich war froh, ein seltenes Lächeln auf seinen Zügen zu sehen – besonders nach den Ereignissen des Nachtmittags. “Warst du erfolgreich?”
“Boah, riecht das geil!” verkündete er, als er näher trat. Seine freie Hand klopfte zuerst mir und dann Miguel auf die Schulter. “Ja, ich war erfolgreich” Er wedelte die Dämpfe des brutzelnden Fleisches in sein Gesicht. “Und Victor auch, schätze ich?”
In diesem Moment ertönte das vergnügte Kreischen und das Gelächter mehrerer weiblicher Stimmen von drinnen. “Ok,” sagte Marlin und grinste noch breiter. “Wenn er nicht so ein Penner wäre, könnte man ihn glatt gern haben.”
“Ja, da hast du wohl Recht,” bestätigte ich, während ich mir ein Bier aus dem Sechserträger griff, den Miguel mit nach draußen genommen hatte. Ich hielt auch Marlin eines davon hin. Wenn er schonmal so gute Laune hatte, musste ich ihn doch ein wenig antreiben. Ich mochte den Gedanken nicht, dass er seinen Schmerz immer herunter schluckte und ignorierte, aber ich wollte auch seine Stimmung nicht zerstören. Ich hoffte nur, dass Victor es ebenso sah. “Mut antrinken?” fragte ich lächelnd. “Lohnt sich.”
Ohne zu zögern griff Marlin zu und öffnete die Flasche an einer der Fensterbänke. “Du musst es wissen,” sagte er und stieß mit mir und Miguel an. “Auf den neuen Song!“
Als Marlin vor mir den Raum betrat, schlug uns eine süßlich riechende Rauchwolke entgegen. Miguel und ich trugen das gegrillte Fleisch auf ein paar großen Tellern mit hinein. Für einen kurzen Moment verstummten die Anwesenden und musterten den neu angekommenen mit neugierigen Augen. Einzig der Song „Purple Haze“ von „Jimi Hendrix“ legte sich über die kurze kritische Sekunde der Stille. Die Wasserpfeifen hörten auf zu blubbern, die Joints verharrten in den Fingern der Mädchen und einer der beiden anwesenden Jungen schaute von der Anlage auf, in die er gerade das Hendrix-Album eingelegt hatte. Ich sah förmlich, wie Marlin dieser kurze Druck belastete. Mich wunderte es immer wieder, dass er teilweise so schüchtern war, aber auf der Bühne niemals Probleme hatte.
„Hey Marlin!“ schallte es aus Victors Mund und ich betete kurz, dass er ihn nicht wieder mit irgendwas verletzte. „Na, genug am Strand über die Ungerechtigkeit der Welt geheult?“
Schüchternes Kichern aus den Kehlen der sechs anwesenden Mädchen. Einzig Eine legte nur kurz den Kopf schräg und beobachtete aus ihren wachen grünen Augen aufmerksam den Jungen, der jetzt mitten im Raum wie angewurzelt stehen blieb. Sie lächelte – aber darin schien keinerlei Spott zu liegen. Marlin spielte nervös am Griff seines Koffers, setzte zu einer stammelnden Antwort an und Victor holte bereits Luft für einen neuen Satz. Aber nicht mit mir!
„Wenigstens hat er schon ein paar Riffs für den neuen Song geschrieben, anstatt sich hier nur zuzukippen,“ sagte ich und durchbohrte Victors stählernen blauen Blick. Er musste das doch verstehen.
„Oh, stimmt das?“ fragte Victor. Sein erstaunen war sichtlich gespielt. „Hoffentlich nicht wieder sowas sentimentales – das kommt mir nämlich langsam aus den Ohren raus.“
Marlin richtete sich auf und ich sah, wie sich sein Blick mit Victors traf. Es klang nicht fest, nicht entschlossen – aber mit seinen Äußerungen hatte Victor etwas in ihm getroffen, was seinen kleinen Rest Kampfgeist weckte. „Also letztes Mal hast du „brillant“ gesagt, wenn ich mich richtig erinnere.“ Marlins Stimme zitterte dabei.
Mein Herz blieb für einen Moment stehen. Victors Augen huschten kurz zu mir herüber. Zeigten mir einen kurzen Anflug von Fassungslosigkeit. Ich wich seinem Blick aus, weil ich mich schlecht fühlte. Jetzt waren wir plötzlich alle still.
Ein Klatschen ließ mich auffahren. Das Mädchen mit den grünen Augen grinste aufgeregt. „Toll, spiel es uns vor,“ drang von ihren Lippen, an denen ein silbernes Piercing glänzte. Sie fixierte Marlin mit ihren Blicken – bemerkte sie die Spannung nicht? Ihre Haare waren blond, aber mit etlichen schwarz gefärbten Strähnen durchzogen. Sie trug ein enges schwarz-weiß gestreiftes Shirt, welches sich straff über ihren Brüsten spannte, und eine Jeans mit Nietengürtel.
Marlins Gesicht färbte sich rötlich. Er stand im Raum wie eine ausgelieferte Kuriosität. Doch dann lächelte er doch, als er das Mädchen ansah. „Natalia?“ fragte er.
Sie nickte und grinste weiter, als ginge das gesamte Geschehen an ihr vorbei. Ihre Augen glitzerten.
Marlin war in Trance versetzt. Er griff an seinen abgestellten Koffer, um die Gitarre herauszuholen, als Victor und ich gleichzeitig „Nein!“ riefen. Sogar Miguel hatte mit eingestimmt. Jetzt mussten wir alle vier lachen. Victor setzte fort: „Wir geben nie Previews von neuen Sachen, sorry! Erst auf dem Konzert. Bringt sonst Unglück. Und, das wollen wir doch nicht, oder?“
Hundeblicke, enttäuschte Mädchenstimmen und verzweifelte Bitten blieben ungehört. In dieser Sache hatten wir es als Band nie anders gehandhabt.
Victor grinste breiter und warf mir ein seltsames Lächeln zu, bevor er sich zu Natalia drehte. „Aber frag ruhig mal Greg – der behält auch schonmal ein Geheimnis nicht für sich.“
Jetzt grinste er mich wieder an, als ich für einen kurzen Moment nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Wieder Stille. Niemand lächelte mehr.
Ich schüttelte meinen Kopf. „Arschloch,“ sagte ich grinsend und wartete einige Sekunden ab, um ihn ein wenig zu verwirren, „lass uns was zusammen trinken.“
Lachen löste die Anspannung in Sekunden auf.
„Ach Greg, ich liebe dich,“ sagte Victor und angelte nach einer Flasche Vodka, die hinter einer versifften Glasbong auf dem Tisch stand. Ich ging zu ihm und gab ihm einen scherzhaften angedeuteten Schlag auf die Nase, bevor wir in wildes Gealber verfielen. Auch Miguel gesellte sich jetzt mit einem Tablett Caipirinhas zu uns. Wir hatten ihn überredet, die Cocktails zu machen, da er ja, laut uns, „Brasilianer war und das halt konnte“, obwohl er sicher nicht sehr viel mehr Ahung hatte, als wir anderen. Es war die Illusion, die zähle – zumindest hatte Marlin mir das einmal gesagt. Wo war Marlin? Nach kurzem Suchen sah ich, wie er seinen Gitarrenkoffer in eine der Ecken des Raumes verfrachtete. Er hatte schon wieder diesen ausdruckslosen Blick. Ich hätte Victor erwürgen können.
„Marlin!“ wollte ich rufen und schüttelte kurz ungläubig den Kopf, als ich eine Mädchenstimme hörte, die dies genau in diesem Moment tat. War meine Stimme verändert? Hörte ich Stimmen? Aber ich hatte weder zu viel getrunken, noch irgendetwas von dem Cannabis angefasst, welches überall auf dem Tisch verteilt lag und einen kräftigen harzigen Geruch verbreitete. Natalia hatte sich auf ein freies Sofa gestürzt und lächelte Marlin zu, der verdutzt am anderen Ende des Raumes stand. Sie hielt einen schlanken Joint in ihrer linken Hand. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert. „Magst du einen mit mir rauchen?“
Ein entspanntes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Klar!“ rief er ihr zu.
Ich lachte innerlich auf. Das strahlende Lachen verschwand für einen winzigen Moment von Victors Gesicht – gerade so lange, dass ich mich darüber wundern konnte. Danach kippte er grinsend seinen Vodka herunter – wobei ein wenig davon auf seinem rot-orangenen Hawaii-Hemd landete - und stürzte sich schließlich auf ein Mädchen, was sich neben ihn gesetzt hatte. Sie lachte so schrill auf, als er sie auskitzelte, dass ich dachte, er hätte sie schon jetzt an einer sehr erogenen Zone berührt. „Hey, verschiebt das bitte auf nachher – sein Zimmer ist groß genug.“ sagte ich und sie errötete so heftig, dass ich sie am liebsten noch mehr verunsichert hätte, aber Victor kam mir zuvor. „Ich?“ sagte er noch immer mit seinen Händen an ihrem Bauch – wohlgemerkt unter ihrem weißen Oberteil. Leise fügte er hinzu: „Mach dir lieber Gedanken um unseren anderen Aufreißer hier.“ Er deutete ein kurzes Schielen in Marlins Richtung an. Dieser saß bereits weitaus enger bei Natalia, als es bei ihrem leeren Sofa eigentlich nötig gewesen wäre. Ich hoffte, er würde es schaffen. Ich gönnte es ihm so sehr.
Zufrieden lächelte ich. „Ja, lass ihn halt – ist doch gut. Außerdem: So wie du ihn heute behandelt hast …“
Victor entblößte seine perfekten Zähne in einem noch breiteren Grinsen – er erinnerte mich an einen hungrigen Tiger. Seine Augen blitzten wie blaues Eis. „Ich sag ja auch garnichts dagegen.“ Er kam näher und flüsterte in mein Ohr. Sein Atem roch stark nach einer Mischung aus Vodka und Bier. Er bekam die Worte nur lallend heraus. „Nur, dass ich die geile Sau, mit der Marlin da grad Streichelzoo spielt, viel lieber geknallt hätte, als die hier. Viel zu kleine Titten. Aber naja, kann man nix machen.“
Wieder ertönte das helle Lachen des Mädchens, als er sich über sie beugte. Irgendwie fand ich es pervers, wie sie es genoss. Primitive Dreistigkeit und eine Prise virtuoses Gitarrenspiel – schon schienen Frauen in Windeseile alles zu vergessen, was sie angeblich für wahr und richtig hielten. Oftmals schien Victor sogar auf den zweiten Faktor verzichten zu können.
Ich griff zu meinem Handy, um meiner Freundin Katharina eine SMS zu schreiben und beeilte mich noch mehr, als ich sah, wie Victor dazu ansetze, das Mädchen zu küssen. Meine Füße erhoben sich wie von selbst vom Sofa – ich wollte es mir nicht ansehen. Ich musste kurz innerlich auflachen, weil ich mir immer sorgen um Katharina machte, wenn ich mit Victor feiern ging. Meine Augen peilten Miguel an, der mit vier Leuten auf dem Boden in einer Runde saß und unter heftigem Gelächter versuchte, ein paar deutsche Worte zu lernen.
Strand
Das Grün in Natalias Augen ist noch immer klar zu erkennen, obwohl der Halbmond und die Sterne nur spärlich Licht auf den nächtlichen Strand werfen. Der Wind streicht warm und lautlos über die menschenleeren Dünen und das brausende schwarze Wasser.
Aus Marlins Gitarre klingt das Intro von Pink Floyds „Wish You Were Here“. Im Original sind es eigentlich zwei Gitarren, aber Victor hatte ihm einmal eine gute Version geschrieben, in der man die wichtigsten Sachen auch mit einer abdeckte – auch wenn es natürlich niemals an das Original herankommen könnte.
„Oh, ich liebe den Song. Pink Floyd ist voll geil,“ sagt sie und legt sich flach neben ihn, um die Sterne zu beobachten. Sie benutzt ihre Handtasche mit den Ansteckern einiger Hardcore-Bands als Kopfkissen, um dem Sand zu entgehen – mehr oder weniger mit Erfolg. „Ach, zum Glück habe ich dem Victor damals im Internet geschrieben und euch kennen gelernt. Ist echt der Wahnsinn.“
Sie singt mit leiser Stimme die ersten Zeilen des Songs mit. „So, so you think you can tell - Heaven from Hell, blue skies from pain ... “
Er hört ihrem verträumten Gesang noch ein wenig zu, bis ihre Textkenntnisse schlapp machen. „Wenn du wüsstest, wie Victor über dich denkt,“ liegt Marlin auf der Zunge – aber er möchte den filigranen Moment nicht zerbrechen. Eine Erinnerung trifft ihn plötzlich wie ein Schlag. Er starrt auf die dunkle See, die ihr Rauschen unsichtbar in die Nacht entsendet und lässt das Lied unter seinen Händen ausklingen.
„Ich muss bei dem Song immer an so ein Mädchen denken, was ich früher mal gekannt habe,“ sagt er und bereut es im nächsten Moment schon wieder. Warum hat er das nur gesagt?
Natalia hält ihre Augen geschlossen. „Sorry, dass ich so neugierig bin,“ sie formt ein schüchternes Grinsen. „War es eine Freundin von deiner alten Schule?“
„Nicht wirklich.“ Er lächelt, weil ihm kein passender Gesichtausdruck einfällt. „Naja, fast. Aus dem Heim – ist nun aber auch egal.“
„Du kannst es mir gerne erzählen,“ sagt sie und setzt sich neben ihm auf. Strähnen schwarzen und blonden Haares wehen vor ihr Gesicht, doch sie macht keine Anstalten, es zurück zu streichen. Als sie keine Antwort bekommt, dreht sie ihren Kopf schließlich in Marlins Richtung. Er starrt ins Nichts – dreht sich schließlich zu ihr. Sie blickt in seine bodenlosen dunklen Augen. Sein Gesicht ist wie eine starre Maske. „Tut mir leid,“ flüstert sie. „Ich wollte sowas nicht ansprechen – ich weiß auch überhaupt nicht, wie es sein muss, dort aufzuwachsen.“
Ein Ruck geht durch seinen Körper, als er ihre Augen sieht. In ihrer linken Iris liegt ein kleiner blauer Sprenkel zwischen dem hellen Smaragtgrün. Ob sie weiß, wie bezaubernd es sie macht? Ob sie weiß, wie schön sie ist?
Er lächelt entspannt und lässt ein wenig Sand durch seine Hand rinnen. Behält eine kleine Muschel zwischen den Fingern. Er möchte es ihr sagen. Irgendwie. „Ist ok,“ sagt er schließlich. Seine Stimme bebt und er senkt seinen Blick, um ihr nicht mehr in die Augen zu sehen. „Ist alles nicht so wichtig.“ Erst jetzt schaut er wieder auf. Sein Blick streift über das Wogen der schwarzen See und irrt schließlich nervös zwischen den Sternen hin und her. „Du bist ja hier und ich kann deshalb sowieso nicht richtig an was Anderes denken.“
Sie lächelt und schüttelt ein wenig ihren Kopf. „Du bist echt süß, weißt du das?“
Marlin zuckt mit den Schultern und legt ein so dämliches Grinsen auf, dass er sich in Gedanken schon wieder dafür verflucht.
Ihre weichen Lippen treffen seine Wange und er scheint innerlich unter der Berührung zu explodieren. Die Druckwelle lässt seine Glieder erstarren. Er möchte seinen Arm um sie legen, doch sie ist bereits wieder von ihm weg, ehe er es vollständig realisiert. Er atmet tief ein. Blickt schließlich wieder zu ihr. Sie hat sich zu ihm umgewendet. Ein wenig Sand hängt noch in den Haaren, die vorn über ihr Shirt fallen. Er möchte sich selbst schlagen, weil seine gelähmte Hand es nicht schafft, ihn heraus zu streichen. Stattdessen bringt er nur ein bescheuertes Streicheln über ihre Schulter fertig.
Er wünscht sich, die Gedanken erraten zu können, die hinter ihren Augen liegen – eine Rechtfertigung zu finden, sie endlich an sich ziehen zu dürfen und nicht mehr loslassen zu müssen.
Ein helles Piepsen sticht in sein Ohr. Verschreckt nimmt er seine Hand von ihr, als sie hektisch zu ihrer Tasche greift und ein rotes Handy heraus kramt. Ein verkratztes Nokia 3330 – irgendwie sind einige dieser alten Dinger unkaputtbar, denkt Marlin. Genau deshalb würde er den unförmigen Plastikquader in diesem Moment auch am liebsten im Meer versenken.
Ihre Schultern fallen ein Stück nach unten sie und seufzt laut, als sie die SMS fertig gelesen hat. „Sorry,“ sagt sie und wirft sich den Gurt ihrer Tasche über die Schulter. „Stella ist total kaputt und möchte gehen. Sie pennt heute bei mir. Sonst bleibt sie immer bei Tanja – die beiden sind eigentlich unzertrennlich. Keine Ahnung, warum Tanja vorhin schon so schnell weg wollte.“
Marlin zuckt mit den Schultern. „Ok,“ sagt er und versucht dabei möglichst teilnahmslos zu klingen. „Schade.“
„Hey,“ ihre Stimme klingt hell und fröhlich. „Sei mal nicht so bestürzt, du siehst mich schon wieder.“ Sie hebt Marlins Kinn mit zwei Fingern nach oben, um ihm noch einmal in die Augen zu sehen. Ihr Lächeln durchdringt ihn. Jetzt muss auch er lachen, als sie weiter spricht. „Bist echt ein voll interessanter Mensch – hab dich richtig gern. Musst mir unbedingt mal mehr von dem zeigen, was du so machst.“
Ihr Piercing kitzelt sachte an seinen Lippen. Marlin versucht eine Leere in seinem Kopf zu schaffen, die Zeit anzuhalten. Der Kuss ist kürzer als eine Sekunde. Ihre Augen sind geschlossen – als läge dahinter ein flüchtiger Traum. Und wieder geöffnet. Wie ein Blinzeln.
„Ruf mich mal an,“ sagt sie und springt auf die Füße. „Und vergesst bloß nicht, zu meinem Geburtstag zu kommen – Victor weiß bescheid.“
Marlin möchte in der Sekunde des Traumes aufgehen. In einem kleinen Moment, in dem es scheint, als sei alles in Ordnung. Er sagt irgendetwas. Lächelt. Betrachtet, wie ihre Silhouette in der Nacht versinkt und zum Ferienhaus zurück wandert, aus dessen Fenstern noch immer helles Licht dringt. Die Wellen, der Wind – alles ist wie hinter einer dicken Wand. Sie bleibt kurz stehen und dreht sich langsam nach ihm um. „Willst du nicht mitkommen?“
Er fährt kurz zusammen. „Oh, ´tschuldigung – ich hab grad nur nachgedacht.“ Seine Hand vergräbt sich in seinem Haar, obwohl sie voller Sand ist.
Sie stößt ein kurzes Lachen aus. Marlin wünscht sich, er könnte es den ganzen Tag hören. „Du bist mir echt so einer.“ Sie hastet zu ihm und zieht ihn auf die Füße. „Komm, ich zeig dir den Weg, du Träumer.“ Ihre Finger klopfen vorsichtig den Sand aus seinen Haaren.
Extreme Compromise – 3. August
Auf meiner Uhr stand 2.37, als ich auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer erwachte. Es herrschte totale Stille. Nur aus Victors Zimmer hörte ich einige leise Stimmen. Zum Glück hatte ich wohl das ärgste überschlafen. „Wer schläft, sündigt nicht.“ flüsterte ich und schaute lächelnd auf mein Handy – Katharina hatte geantwortet. Später. Mühsam kratzte ich einige Reste des verstreuten Cannabis auf dem Tisch zusammen. Es verblüffte mich, wie viel letztendlich dabei zusammen kam. Das ganze Zimmer musste danach riechen – ich wünschte schon einmal den Nachmietern in Gedanken viel Spaß und warf einen Blick auf das andere Sofa. Miguel schlief entspannt auf der Seite und seine Haare hingen am Sofa hinab wie dunkelbraune Lianen. „Miguel!“ Er hielt kurz die Luft an und blinzelte, als ich seinen Namen aussprach. Als er sah, dass ich eine neue Landung Gras in den Kopf der Bong presste, öffnete er schlagartig seine Augen und lächelte.
Ein schrille helle Stimme sprengte die ruhige Atmosphäre im Wohnzimmer. Ich musste spontan an eine aufgescheuchte Gans denken, die wütend schnatterte. Ein Mädchen mit zerzausten dunkelblonden Haaren und einem grünen Oberteil hechtete die Treppe hinab und schrie immer wieder Beleidigungen nach oben. Es bereitete meinem benebelten Kopf schmerzen.
„Boah, stresst mich das jetzt,“ sagte ich. „Hey,“ rief ich schließlich zu ihr. „Alles in Ordnung?“
Ihr Gesicht war gerötet und einer der Träger ihres Oberteils war den Arm hinab gerutscht. Die Knöpfe an ihrer Hose waren teilweise offen und gaben den blick auf einen schwarzen Tanga mit silberner Aufschrift frei. Ich wollte es entziffern, war allerdings zu langsam. Sie blieb nicht stehen, sondern warf Miguel und mir nur ein „Euer Freund ist ein verdammtes Arschloch!“ entgegen.
„Aber, aber, Bella!“ Victor schritt halbherzig hinter ihr durch den Raum und musste sich sichtlich das Lachen verkneifen. „Ich ...“
„Stella!“ Wetterte sie zurück. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, als Tränen über ihre Wange liefen. „Du hast dir nichtmal meinen Namen ...“ Ihre Füße hechteten weiter zum Ausgang. „Typen wie du machen mich krank!“
Knallend fiel die Tür ins Schloss und das daran angenagelte Plakat stand für einen Moment horizontal in der Luft. Victors Oberkörper war entblößt und von peitschenhiebartigen Kratzspuren gezeichnet. Er erhob seinen Finger und sprach: „Und trotzdem hast du dich brav ficken lassen – und hattest sogar noch deinen Spaß dabei.“
Miguel konnte sich nicht mehr halten und fiel vor Lachen auf seine Seite. Ich grinste nur. „Hm, Victor,“ begann ich, „das war aber nicht die, mit der du dich vorhin so nett hier auf dem Sofa unterhalten hast.“
Victor schlenderte zum Tisch und suchte sich ebenfalls einige Klumpen Gras zusammen. Er schaute mich an, während er einen kleinen Ballen in seinen Händen zerbröselte. Seine Augen waren ein wenig gerötet – aber keinesfalls ermattet. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ja, mit der von vorhin war ich nur kurz im Badezimmer und dann konnte sie mein Tempo leider nicht mehr mitgehen. Das hier war ihre beste Freundin.“ Er sah mir für einen kurzen Moment in die Augen und zuckte mit den Schultern. „Scheiße, dass es Handys gibt. Dabei war ich schon eingeschlafen.“
Miguel japste nach Luft und hielt sich den Bauch vor Lachen. Ich schüttelte meinen Kopf. „Na riesig – das Badezimmer besudelt, wahrscheinlich eine beste Freundschaft zerstört und gleich erstickt uns auch noch der arme Miguel – toll gemacht, Victor. Riesig!“
„Was denn?,“ fragte er und grinste. Er setzte sich auf ein Sofa und nahm die Bong auf den Schoß. „Wir sind doch gerade einmal einen Tag hier. Das war noch gar nichts.“
„Na komm schon, wie war's?“ Victor hüpfte auf seinem Platz auf und ab und riss die Augen weit auf. „Komm, jedes verdammte Detail! Los, los! Ich will alles wissen! Wie haben sich ihre Titten angefühlt? Komm, sag's mir, ich platze gleich.“
Marlin legte seinen Kopf schräg und schlenderte mit seiner Gitarre auf die Sofas zu. Er gähnte, bevor er antwortete. „Was ist eigentlich dein Problem, man?“ Ein müdes Lächeln formte sich auf seinem Gesicht. „Geh dir einen wichsen, wenn es so schlimm ist.“
Victor verschränkte seine Arme. „Also hör mal,“ begann er und schloss die Augen beim sprechen. „Auch wenn du hier den Hauptgewinn geknallt hast, steht es heute Abend noch immer zwei zu eins für Victor. Greg und Miguel sind Zeugen!“
Ich sah Marlin an, hob meine Hand und lächelte, während ich mit den Schultern zuckte. Victor hatte wohl leider Recht.
„Aber wenn du hier schon meine Edelnutte klaust und auf dem Strand durchvögelst, dann habe ich ja wohl noch immer das Recht, alles über die Konsistenz ihrer Brüste zu erfahren, was du sagen kannst!“
Ich konnte mir ein kurzes Lachen nicht verkneifen. Marlin übrigens auch nicht.
Victor sah Marlin dabei zu, wie er einige Saiten auf der Gitarre nachstimmte. Marlin schlug einen E-Moll Akkord, um den Klang zu kontrollieren.
„D noch ein bischen höher,“ sagte Victor und Marlin drehte noch ein Stück an der äußersten der oberen Mechaniken. Dieses Mal hatten Victors Worte nichts Überhebliches. Es war eine Hilfestellung – so wie früher, als die beste Freundschaft zwischen ihnen noch existiert und Marlin von ihm das Spielen gelernt hatte. Ein Fragment der Vergangenheit. Ich hoffe immer wieder, sie könnten es festhalten. Noch einmal ein E-Moll. „There you go,“ sagte Victor und lehnte sich zurück, während Marlin „Cavatina“ von „Stanley Myers“ spielte.
Wir verloren unsere Gedanken in den Träumen aus der Melodie. Meine Finger drehten dabei geduldig zwei Zigaretten für mich und Miguel. Marlin hatte mein Angebot vorher wortlos abgelehnt. Aber ich wusste, dass er ein paar Züge bei mir nehmen würde – das war so ein Ritual zwischen uns beiden. Irgendwann hielt er in seinem Spiel inne. Victor öffnete die Augen. Die beiden sahen sich an. So wie sie sich früher immer angesehen hatten. Wortlos. Als wüssten sie alles über einander. Jetzt kam entweder ein Schlag oder eine Umarmung. Eine Umarmung hatte es lange nicht mehr gegeben, aber ich hoffte noch immer darauf. Ich betete, als ich Victors Stimme hörte. „Du hast sie nicht gefickt, oder?“
Ein Schlag.
Marlin sagte nichts.
Victor atmete laut aus. Seufzte. „Oh man, Junge. Was zum Teufel ist nur mit dir los?“
Marlins Augenlider kniffen sich ein wenig zusammen. Wut schwang in der Stimme mit. „Warum ist das für dich eigentlich immer alles, was zählt?“
Ein Grinsen legte sich auf Victors Gesicht. „Wovon, um alles in der Welt, redest du?“
„Ich mag Natalia und ich finde es scheiße, dass du so über sie redest, als würde sie nur aus ihren Titten bestehen. Verstehst du das denn wirklich nicht?“ Marlin legte die Gitarre zur Seite und fixierte seinen Gegenüber.
Victor tat so, als würde einen Moment lang angestrengt nachdenken. „Lass mich überlegen – nein.“ Jetzt grinste er wieder – dieses steinerne Grinsen, was so künstlich wirkte, wenn man es schon länger kannte. „Für mich klingt das eher wie ein weinendes Schulmädchen.“
„Oh ja, jetzt bin ich wieder weibisch, nur weil ich mich nicht verhalte wie ein ausgebrochener Affe!“ Sein Gesicht nahm einen etwas geröteten Ton an. „Du wirst schon noch sehen, dass dir irgendwas fehlt, wenn du immer nur so weiter machst.“
Victor lachte schallend. „Mir soll was fehlen? Wer von uns lebt den hier in seinen besten Jahren abstinenter als ein schwuler Mönch, der wenigstens manchmal noch von seinen Brüdern in den Arsch gefickt wird? Also ich garantiert nicht. Mir fehlt allenfalls die perfekt für mich präparierte Fotze dieser Schlampe, die heute Nacht von dir geklaut und dann nicht einmal penetriert wurde.“ Er stand von seinem Platz auf und blickte lächelnd auf Marlin herab. „Weiber stehen nicht auf Typen, wie dich – sie wollen die Illusion eines starken prolligen Männchens; ob dir das nun gefällt, oder nicht. Merk dir das fürs nächste Mal, wenn du wieder etwas außerhalb deiner Kragenweite anvisierst.“
Marlin dachte nicht daran, seinen Kopf zu senken. „Natalia ist anders. Ich habe es in ihren Augen gesehen. Und was hat dich das überhaupt so zu interessieren?“
„Man Marlin, ich mache mir sorgen um dich und deinen Schwanz!“ Victor lachte erneut laut auf und drehte sich zu Miguel und mir, als er weiter redete. „In ihren Augen hat er das gesehen, hört euch den an! Ich sag dir was: Sie würde sich – wie jede andere Frau auch - eher von jemandem ficken lassen, der sie danach zusammen schlägt, als von 'nem kleinen erbärmlichen Weichei, wie du es gerade markierst.“
Marlin stand auf – wortlos, ausdruckslos. „Hör auf, sag das nie wieder,“ flüsterte er. Tränen standen in seinen Augen. Ich war verwirrt, konnte seine Körpersprache nicht deuten, war es aber auch langsam leid, mich einzumischen. Irgendetwas in Victors Worten hatte getroffen. Doch er schien es selbst nicht wirklich zu bemerken. Er schien nicht zu bemerken, dass Marlin sich anders verhielt, als er es je vorher getan hatte. Marlins Fäuste waren blutleer.
Ein schiefes Lächeln legte sich auf Victors Gesicht und er tat so, als würde er nachdenken. „Wenn ich recht überlege, sollte ich auch mal ein wenig gewaltbereiter sein – heißblütig und so. Dann fänden die mich bestimmt noch geiler als ...“
Marlins Faust traf ihn im Gesicht. Es kam so schnell, dass es sich fast meinem Blick entzogen hätte. Victor taumelte zurück, trat in seinem Fall an eines der Tischbeine, so dass die Wasserpfeife kippte und der Porzellankopf auf der Tischplatte dumpf klirrend in mehrere Teile brach. Victor stürzte auf ein Sofa. Ich sprang auf und hielt Marlin zurück, der mit geballten Fäusten um den Tisch lief und seinen Fuß auf Victor herab fahren ließ. Er schrie, dass es mir in den Ohren weh tat. „Sag nie wieder so eine verdammte Scheiße, Arschloch!“ Er erhob seine Faust, doch ich packte seinen Arm. Schüttelnd versuchte er, meinen Griff loszuwerden.
„Ruhig mann, ruhig,“ redete ich auf ihn ein. „Hey Marlin, alles ok. Niemand will dir was Böses.“
Seine wutverzerrte Grimasse starrte mich für einen Moment an. Schaltete schließlich schlagartig in etwas um, was mir bekannt vorkam. Er schaute auf seine Hände, schließlich ruckartig an mir vorbei auf Victor. Miguel war bei ihm, wollte ihn ebenfalls zurück halten, aber Victor signalisierte seine Ruhe. Er tastete vorsichtig seine Lippe und erkannte einen dünnen Film aus Blut auf den Fingerspitzen. Miguel riss ihm wortlos ein Stück von der Küchenrolle ab.
Sie starrten sich in die Augen. „Tut mir leid,“ sagte Marlin.
Victor nickte. Stand langsam auf. Presste das Papier an seine Lippe, betrachtete sein Blut. Sie sahen sich an. Wieder wie früher. Als würden sie alles über einander wissen.
„Ja, mir auch,“ sagte Victor. „Mir auch.“
Noch einige Sekunden vergingen. Victor schaute im Raum herum und erkannte schließlich seine Gitarre. „Machen wir 'n bischen Musik, oder was?“ Er lächelte vorsichtig. „Ich bin schon die ganze Zeit neugierig auf den Song.“
Ich sah in Miguels Augen und er zuckte nur mit den Schultern. „Na kommt,“ sagte ich. „Legen wir los.“
Marlin fuhr kurz mit den Händen über sein Gesicht und atmete laut aus. Nickte. „Ok“
Die Töne aus den beiden Gitarren kreisten um einander. Schleppten sich gegenseitig durch langsame Passagen, peitschten sich zusammen auf hohen Geschwindigkeiten. Die Spannung zwischen ihnen war unbeschreiblich. Manchmal verlor Marlin den Anschluss an Victors virtuose Einlagen und die Einheit barst aus einander, wie ein zum zerreißen gespannter Ballon. Man mochte sich in diesen Sekunden oft die Hände vor die Ohren schlagen. Ihre Stile unterschieden sich sehr, doch hatten gerade so viele Gemeinsamkeiten, um noch gerade so harmonieren zu können. Es gab keine klare Lead- oder Rhythmusgitarre. Eher einen Kampf um die Oberhand. Immer wenn ich es hörte, schien es mich zu infizieren. Ich wollte ein Teil davon werden, den Kontrast mit meinen Noten weiter untermalen. Eckpfeiler setzen, Prioritäten verfeinern, hervorheben, loslassen, wieder zupacken. Miguel schlug an einer ruhigen Stelle einen Break auf den Trommeln, der mein Herz springen ließ. Victor, Marlin und Ich schrieen zustimmend und jubelnd auf – wie wir es immer taten, wenn jemand etwas improvisierte, was die Essenz des Songs, den wir gerade zusammen fanden, perfekt repräsentierte.
Immer wieder spielten wir die bereits festgesetzten Passagen, gaben uns gegenseitig die Kontrolle in die Hand, zogen stetig engere Kreise um das unsichtbare Ideal, stießen immer weiter zu dem vor, was uns unterbewusst als perfekt erschien. Es gab nur den Song – alles andere versank in weltlicher Nichtigkeit.
Jeder von uns war ein unersetzbares Stück. Und dieses Gefühl saß tiefer als alle oberflächlichen menschlichen Gerangel. Man erkannte Marlin und Victor nicht wieder, wenn sie zusammen spielten. Hätte man sie auseinander gerissen, hätte man unsere Musik vernichtet. Immer wenn wir dann wortlos nach den Proben da saßen, still schweigend den kratzenden Geschmack einiger Zigaretten in den erschöpften Kehlen spürten und oft auch den Schweiß aus unseren Gesichtern wischten – immer dann wusste ich, dass es schrecklich wäre, wenn diese Einheit nicht mehr existieren würde. Wir waren wie ein aggressiver Sprengstoff – und wenn das Molekül unserer Band auseinander riss, entwickelte es die brachialste Kraft. Da war nur diese Angst, dass die einzelnen Teile in einer Explosion einmal so weit auseinander fliegen würden, dass sie sich nie wieder zusammen finden könnten. Ich sah in die Gesichter der Anderen und stellte am Glänzen in ihren Augen fest, dass sie diese Kraft auch spüren mussten. Ein Blitzen in dunkelbraunen und tiefblauen Augen, was sich niemals ähnlicher sah, als in diesen Momenten. Unsere Träume strahlten in die Außenwelt, so wie sie vorher in die Musik geflossen waren. Die Stille schien noch immer wie von ihren Tönen erfüllt. Jeder für sich wundervoll und einzigartig.
Wir lagen im Vorgarten des Hauses und beobachteten den Himmel, der sich bereits in einen helleren Blauton verfärbte.
„Warum macht ihr Musik?“ fragte Miguels Stimme. Mehr und mehr umhüllte uns das Licht. Ich erkannte die satte rote Farbe von Victors Hemd. Er lag direkt neben mir. Ich schaute nach rechts, um zu sehen, ob Marlin schon eingeschlafen war. Doch er starrte einfach nur gen Himmel. Angestrengt. Ich wollte ihn nicht auffordern, etwas zu sagen, also wartete ich einfach ab. Als mich langsam der Schwindel des Schlafes zu überfallen drohte, hörte ich seine klare Stimme.
„Ich glaube,“ begann er. „Dass Musik die einzige Verbindung zur Außenwelt ist, die ich habe. Wenn niemand der Musik zuhört, wird mich niemals jemand verstehen. Man kennt mich nur, wenn man die Musik kennt. Ich lebe nur deshalb. Ohne die Musik bin ich nur eine wertlose Lüge. Ich kann nur durch Kunst kommunizieren. Nur wenn ich Musik mache, ist es möglich zu sagen, was ich sagen will. Es ist der einzige Ort, ohne Angst.“
Ich schluckte und wollte etwas sagen. Victor stand auf und ich konnte erkennen, wie er leicht den Kopf schüttelte. Ich dankte ihm insgeheim dafür, dass er nichts zu Marlin sagte. Die Sonne brach über den Horizont und tauchte uns in ihr sanftes orangefarbenes Glühen. Ich setzte mich auf, klopfte mit meinen Fingern sanft auf Marlins Stirn und strich durch seine Haare.
Interludium – Abschiedskuss
„Du bist jetzt schon groß,“ sagte Robin und bog Lindas verkrampfte Finger auseinander, die sich um einen Pfeiler des Bettes geschlungen hatten. „Du bist schon zehn Jahre alt. Du bist mutig!“
Sie hob erschrocken den Kopf, als die schwere Haustür unten ins Schloss fiel. Eine Metallfeder kratzte über ihre Kopfhaut und sie schluchzte vor Schmerz. Heiße Tränen liefen ihre Wangen hinab und weichten schließlich den Staub auf dem Boden auf. Robins helle blaue Augen, die genau so aussahen, wie ihre, schillerten glasig und irrten hastig umher. „Du brauchst keine Angst zu haben. Er bekommt dich nicht.“
„Ab ...“ wollte sie aussprechen, doch er unterbrach sie.
„Shhhh! So wie letztes mal,“ sagte er und drehte sich kurz ruckartig zur Tür um. Schwere unstete Schritte stampften die Treppe hinauf. Er drehte sich wieder zu ihr und strich sich die Strähnen des weißblonden Haares aus seinem Gesicht. Seine Stimme bebte. „Sag keinen Ton – ich sage dir, wann du wieder sprechen darfst. Und jetzt sei tapfer!“
Sie streckte ihm ihre Wange entgegen, damit er sie darauf küsste. Linda genoss den Moment, in dem sich ihre Haare vermischten. Sie beide hatten die helle Farbe von Mama geerbt. Robin sprang auf die Füße. Mama, Mama. Der Gedanke an sie ließ sie einen Schrei ersticken, als die Tür zu ihrem Zimmer donnernd aufgestoßen wurde.
Die lallende tiefe Stimme ihres Vaters drängte sie noch weiter unter das Bett. Er beschimpfte Robin, suchte dieses Mal nicht einmal einen Grund. Seine verbleibenden dunklen Haare klebten an der fettigen Kopfhaut. Er ließ die Flasche in seiner Hand fallen, während er unermüdlich auf Robin einschrie. Klebrige braune Flüssigkeit zog in den blauen Teppich ein. Stechender Schnapsgeruch breitete sich aus. Linda umklammerte den blauen Stoffpapageien in ihrer Hand noch fester, als der ungleiche Kampf über ihr losbrach.
Eine schallende Ohrfeige brachte Robin aus dem Gleichgewicht. Er stolperte, riss eines der Regale von der Wand und Plüschtiere und Puppen hagelten auf den Boden. Die von Schneematsch verdreckten Stiefel ihres Vaters trampelten rücksichtslos darüber hinweg und hinterließen dunkle Spuren. Robins Körper wurde nach oben gerissen und auf das Bett geschleudert. Wie ein schmutziger Fels stürzte sich auch ihr Vater darauf. Quietschende Federn stachen ihr in Rücken und Kopf. Robins Füße strampelten und einer seiner Pantoffeln, der mit einem weißen Tiger mit Plüschzunge bestickt war, landete direkt vor Lindas Gesicht. Mama hatte ihr auch solche gemacht. Aber mit Papageien. Wieder und wieder schrie sie in sich hinein. Robins Stimme wich einem abgehackten Japsen nach Luft – immer wieder unterbrochen, als die schwere Faust auf sein Gesicht hinab fuhr. Das Knacken und Quietschen des Bettes wurden von dem Gebrüll übertönt, welches noch immer laut dröhnte, als Robins Beine bereits lange zu zappeln aufgehört hatten. Ihre Lippen waren steinern versiegelt – ganz so, als könnten sie sich nie wieder öffnen.
Strand
Die Melodien sind markanter, die Anschläge bestimmter, die Abfolgen fester. Wolken türmen sich über dem brausenden Wasser. Die Sonne verschwindet hinter ihnen. Sticht wieder hervor mit einem blendenden Blick. Mehr und mehr erkennt Marlin das Gesicht des Songs, den seine Gitarre in die laue Sommerluft singt. Er lehnt den Kopf an den weißen Ast und verschließt die Augen vor der Sonne. Natalia blinzelt in seinen Gedanken, lächelt. Ihr Bild wird so klar, dass er bemerkt, wie seine Konzentration abnimmt. Er spürt, wie er sich fast verspielt. Reißt die Augen auf. Rettet das Lied.
Etwas ist an seiner linken Schulter. Er fährt zusammen, lässt die Gitarre fast fallen. Sein Herz springt – und schlägt wieder langsamer. Er lächelt.
„Hey,“ flüstert Marlin, als er nach links blickt. Es riecht nach Sonnencreme.
Die Haare des Mädchens, das den Kopf an seine Schulter gelegt hat, flattern wie feine Fäden aus Silber in sein Gesicht. Sie hält die Augen geschlossen, atmet ruhig. Sie setzt einige Male zu einer Bewegung an und traut sich schließlich, Marlins linke Hand zu greifen. Sie hebt sie nach oben. Zurück in Richtung des Gitarrenhalses. Sie schluchzt, weint. Unter ihren Augen sind dunkle Ränder. Sie sieht erschöpft aus. Als hätte sie sich mit letzter Kraft hier her geschleppt. Ihr Kopf presst sich stärker an seine Schulter.
Er möchte ihr keine Fragen stellen. Etwas sagt ihm, dass sie nur die Musik hören möchte. Dass sie sie braucht. Eine ihrer Hände krallt sich in den Stoff seiner kurzen Hose mit Tarnfleckmuster. Das ist ihre Art zu bitten. Ihre Art zu sprechen. „Shhh, ist gut,“ flüstert er und spürt die Saiten unter seinen Fingern.
Ihr Körper verliert ein wenig von seiner Starre, als er einen Akkord greift und die Töne langsam nach einander anschlägt. Sie ist noch richtig gestimmt. „Es ist alles gut. Du bist hier sicher.“
Er legt seinen Kopf nach links, so dass er sachte auf dem des Mädchens ruht. „Alles ist gut. Ich bin da.“
All ihre Gesten erinnern ihn an etwas. An ein Kinderfoto, was auf einem der Flure des Heimes geschossen wurde. Ein Foto von ihm selbst als Zehnjähriger. Seine Finger beginnen, sich über die Saiten zu bewegen. Spielen Töne eines Songs, den er einmal über diese Zeit geschrieben hatte. „A thousand friends.“ Das Foto erreicht erneut sein inneres Auge. Kein Lächeln in seinem Gesicht, kein Ausdruck in seinen dunklen Augen. Ein bunter Spielzeugroboter, den er am liebsten gleich weg geschmissen hätte, in seinen Händen. Ein Geschenk. Ein furchtbarer Tausch. Es war das Foto eines Weihnachtsabends, an dem Robert in eine Familie gebracht wurde. Wie scheinbar tausend beste Freunde vor und nach ihm. Marlin selbst mit dem Gefühl zurück lassend, dass es für ihn ein solches Zuhause niemals geben könnte. Allein aus dem Grund, weil er niemals eines haben durfte. Er gehörte damals in kein Zuhause, gehörte nicht in diese Welt. Und heute? Und heute?
Er reißt sich von dem Gedanken los. Leitet erneut über in den Song, den er über Natalia geschrieben hat. Den Song, dem seine Freunde und er gestern eine feste Form gegeben hatten. Seine Gefühle werden von den neuen Melodien mitgerissen. Es gibt noch keinen Text, den er singen könnte. Aber in jedem neuen Rhythmus hört er Natalias Stimme. Sie bleicht das Foto aus und lässt es verschwinden. Die See umschließt das Lied, als würde sie spüren, dass ihr Rauschen und ihre Weite ein Teil davon sind. Die Töne beleben Details der Erinnerung an Natalia, die er schon vergessen geglaubt hatte. Der Geruch ihres Haarsprays, ein Leberfleck auf ihrem rechten Nasenflügel und wie sie immer die Augen rollte und lächelte. Ein Song ist immer sehr stark, wenn er gerade neu ist. Man spürt noch die Gedanken in sich, die ihn begründet haben. Kann sie lebendiger werden lassen, als zu jeder anderen Zeit. Obwohl man in einem Lied auch immer etwas auf ewig mit sich zu nehmen scheint, was niemand mehr wegnehmen kann. Er möchte ihren Kuss nie wieder vergessen, ihre Zuneigung mit sich nehmen.
Die Wellen tragen das Echo weiter, als das Lied schließlich ausklingt. Das Wasser spielt es noch immer. Immer und immer von vorn. Es wird für Marlin wohl niemals zu spielen aufhören. Nicht an diesem Platz.
Das Mädchen hat aufgehört, die Hand in sein Hosenbein zu krallen. Sie ist so ruhig. Er hatte auch dieses Mal nicht ein kleines Geräusch gehört, als sie neben ihn geklettert war. Ihr Atem streicht sanft, aber stetig durch die zarten Lippen, die leicht geöffnet sind. Ihre Augen sind geschlossen. Sie ist eingeschlafen.
Vorsichtig legt er die Gitarre mit einer Hand zurück in den Koffer – ein Vorhaben, welches er unter normalen Umständen niemals riskiert hätte. Unendlich langsam löst er ihren Kopf von seiner Schulter. Hält ihn fest. Passt auf, dass ihr Körper nicht von dem Stamm ins Wasser gleitet. Bettet ihren Kopf schließlich auf seine Oberschenkel. Schützt ihre Augen mit seinen Händen vor der blendenden Sonne. Seine Bedenken, sie aufzuwecken, sind unbegründet. Sie schläft wie ein Stein. Die Sonne bricht aus den Wolken und brennt auf seiner Haut. Er hat wieder vergessen, sich einzucremen. „Ich lasse dich nicht allein,“ flüstert Marlin dem Mädchen zu. „Ich beschütze dich.“
Sommer und Musik - 03. bis 10. August
Wir spielten und sangen so laut und inbrünstig, dass oft einige Jugendliche vom Strand ihre Decken und Handtücher nahe an unserem Bungalow postierten. Wir badeten uns in diesem Ruhm. Fühlten uns wie etwas Besonderes. Victor schritt noch ein wenig aufrechter, setzte sich manchmal in den Garten oder runter an den Strand, um ein paar Songs zu spielen – nicht unsere eigenen, versteht sich, denn das war Gesetz. Marlin wirkte entspannter. Er und Victor schritten Seite an Seite. Der Ruhm und die Anerkennung waren die Schnittmenge ihrer Träume. Auch wenn ihnen klar war, dass sie letztendlich andere Ziele verfolgten. Ich genoss die kreativen Stunden bei Sonnenuntergängen in Begleitung von Cannabis und Alkohol. Miguels entspannte Art steckte mich an – wir saßen meist zusammen und spielten ein paar ruhige Beats auf Bass und Trommeln. Nichts Aufdringliches. In seiner Sicht der Dinge lag vielleicht ein wenig oberflächliche Faulheit, aber beim zweiten Blick ließ sich eine ebenso tiefe Weisheit darin ausmachen. Wir fanden Ruhe in unseren Instrumenten, amüsierten uns still über die Rastlosigkeit der beiden Anderen, die scheinbar so seltsamen Idealen nachjagten. Zumindest Victor – was Marlin tat, verstand sowieso niemand von uns.
Ich saß mit Marlin in unserem Vorgarten und wir improvisierten ein paar ruhige reggaehafte Melodien auf seiner Gitarre und meinem Akustikbass. Aber dieses Mal hatten wir die Instrumente getauscht. Es nahm einem ein wenig den Zwang, immer gut und makellos spielen zu müssen. Etwas, was unter diesen Umständen sehr schnell passierte und die Musik zu einem plumpen Handwerk verkommen ließ. Marlin brach abrupt im Spiel ab und kramte hektisch in seiner Hosentasche. Ich spielte noch ein paar Akkorde, zupfte schließlich ein kleines Riff mit meinen Fingern, wurde langsamer und langsamer und ließ das Intrument schließlich verstummen.
„Was ist so wichtig?“ fragte ich, aber schaute nicht in Marlins Richtung. Nur hinab zum Strand. Schließlich drehte ich doch den Kopf und sah Marlin dabei zu, wie er konzentriert auf der knackenden Tastatur seines Handys herum tippte. Er hörte mich nicht. Strich sich nicht einmal die Haare aus dem Gesicht. „Natalia?“ fragte ich schließlich.
Er sah mich an und nickte. Lächelte. Schlug die Augen nieder, als fühlte er sich ertappt. „Ich,“ stotterte er. „Ich glaub, ich hab mich voll verknallt. Ich freu' mich schon voll auf ihren Geburtstag.“
Ich lächelte zurück. „Aber du kennst sie doch kaum.“
Er lehnte sich in seinem rostigen Liegestuhl zurück und griff nach einer der Zigaretten, die ich für uns gedreht und ins Gras gelegt hatte. Zündete sie an. Starrte in den Himmel. Ich sah förmlich, wie er sich den Satz zurecht legte. „Weißt du, Greg,“ begann er. „Es gibt Personen, die berühren einen nie, auch wenn man sie ein Leben lang kennt.“ Er drehte den Kopf zu mir. Seine Augen waren erfüllt von Leben. So anders als Sonst. Als hätte sie die Abendsonne angezündet. „Und es gibt welche, die man nur eine Sekunde sehen muss, um zu erkennen, wie besonders sie sind.“
Ich legte meinen Kopf schräg. War nicht sicher, ob ich verstand. „Was lässt dich so sicher sein?“
„Der Song, zum Beispiel,“ antwortete er – so sicher als hätte er mit der Frage gerechnet. Er schaute hinab zum Strand. „Ich habe gestern Nachmittag zwar ein paar Riffs am Strand geschrieben, aber das waren nicht die, die ich euch gezeigt habe.“ Jetzt wurde ich neugierig. Er baute eine lange Pause ein. Nicht weil er überlegte – er schien sich nicht sicher zu sein, ob er es mir sagen konnte.
„Und welche hast du uns gezeigt?“ drängte ich.
Er griff sich in die Haare und strich sie zurück – nur damit der Wind sie im nächsten Moment wieder durcheinander bringen konnte. „Die, die ich euch gezeigt habe, sind mir eingefallen, als ich ihre Augen gesehen und ihre Stimme gehört habe – ich habe sie nicht einmal probegespielt.“ Seine Augen fanden zu mir zurück und er lächelte. „Das macht mich so sicher.“
Ich setzte mich ein wenig weiter in meinem Stuhl auf. „Du kannst mir nicht erzählen, dass dir das alles in der kurzen Zeit mit ihr eingefallen ist.“
Er blieb ganz ruhig. Schloss die Augen. Ich hörte, wie er tief einatmete. „Dann glaub mir halt nicht – ich weiß, dass es wahr ist.“
Victor lag auf einem der Sofas. Seine Haut war bleich. Ein roter Eimer stand vor ihm. Eine leere Vodkaflasche auf dem Tisch. Seine Gitarre lag hinter dem Sofa – auf den Saiten. Er würgte und spuckte. Es war halb fünf am Morgen. Ich hatte ihn gehört und war ins Wohnzimmer gekommen.
„Alles ok?“ fragte ich und griff seine Gitarre. Legte sie behutsam in einen Sessel.
Er sah mich nicht an. Ich spürte die Pein in seinem Handeln. Setzte mich auf eines der Sofas neben ihm.
„Was ist los?“ fragte ich und strich durch seine Haare. Aggressiv streifte er meine Hand ab.
„Was soll los sein?“ stammelte er. „Ich sauf halt ein Bisschen – was dagegen?“
Ich seufzte. Strich den Schlaf aus meinen Augen. „Wenn du allein 'ne verdammte Vodkaflasche killst, dann hab' ich was dagegen – und ganz bestimmt nicht, weil mir der Vodka so leid tut.“ Ich ließ meine Augen über den Tisch wandern und erblickte zerknüllte Blätter mit angefangenen Texten und Gitarrentabulatur. Der dazugehörige Ringblock lag zerrissen vor ihm auf dem Boden. Die Bong lag auf einer Seite. Aus dem Chillum waren einige verbrannte Reste von Tabak und Gras auf die Platte gekrümelt. „Und am Zeug hast du dich auch noch vergriffen?“
Er nickte. Sah mich nicht an. Schließlich stützte er sich ruckartig auf. Sein Atem raste, die Augen waren weit aufgerissen. „Was machst du mich eigentlich an?“ schrie er und ich wich auf dem Sofa zurück. Baute meine Hände schützend vor mir auf.
„Ruhig mann, ich mach mir nur sorgen,“ sagte ich. „Jetzt raste bloß nicht aus.“
Er schüttelte hastig seinen Kopf und begab sich schließlich in eine sitzende Position. Nahm den Eimer auf den Schoß. An seiner Lippe war noch immer ein wenig Schorf von Marlins Schlag.
Er fuhr sich über die Augen. „Sorry, man – das war scheiße.“
Ich hörte eine Tür. Er beugte sich herunter zum Eimer. Würgte. Wie zum Schutz. Um sich zu verstecken. Marlins verschlafene Augen blickten mich um eine Ecke herum an. Ich machte eine winkende Geste, um ihn ins Bett zurück zu verweisen. Es wäre einfach nicht gut gegangen – ich spürte es.
Wir warteten wortlos. Fünf, vielleicht auch zehn Minuten. „Was ist los mit dir?“ fragte ich.
Tränen rollten sein Gesicht hinab. Er konnte nur noch flüstern. „Ich hab' Angst.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wovor solltest du Angst haben?“
Er versuchte mich anzusehen, doch seine Augen waren unfähig, etwas länger zu fixieren. Er roch nach stechendem Alkohol und säuerlichem Schweiß. „Ich glaub, ich bin einfach nicht gut genug für diese ganze Scheiße.“
Ich wollte eine Frage stellen, aber Victor formte bereits neue Worte – wenn auch mühsam. Er deutete mit zitternden Fingern in die Richtung von Marlins Raum. „Der ist so verdammt gut.“ stammelte er. „Hast du gesehen, was der geschrieben hat?“ Victor vergrub das Gesicht in den Händen, die er auf den Eimer stützte. „Na klar hast du das,“ flüsterte er. „Ihr seid alle so verdammt gut.“ Er packte das Papier auf dem Tisch und zerriss es weiter, warf es neben sich, wie ein Stück stinkenden Abfalls. „Diese Scheiße hier ist schlecht! Ist ja auch von mir.“
„Ach komm,“ sagte ich. „Du weiß es – ich weiß es und die Anderen zwei wissen es auch. Du bist der Beste hier in dieser Band.“ Ich deutete auf Marlins Tür. „Du hast ihm das Spielen doch erst beigebracht. Du musst dich immer bremsen, damit er überhaupt mithalten kann.“ Ich schaute kurz gen Boden und erinnerte mich an die Party zurück. „Tut mir übrigens leid, dass ich Marlin erzählt hab, wie du ihn vor mir als brillant bezeichnet hast. Aber du warst an diesem Tag so scheiße zu ihm und …“
„Jaja, schon gut,“ sagte er und würgte erneut. Ich konnte die bittere Gallenflüssigkeit, die in den Eimer tropfte, fast schon selbst schmecken.
„Wie kommst du überhaupt auf darauf, du wärst nicht gut genug?“ wollte ich wissen.
Er sah mich an. Zwang sich die Worte über die Lippen. Arbeitete gegen alles, was sich so lange in ihm aufgetürmt hatte. „Ihr seid alle Künstler. Ganz besonders er. Seien wir ehrlich – ohne ihn gäbe es keine neuen Songs.“ Er legte den Kopf an die Lehne, um mich nicht ansehen zu müssen. „Ich bin nur ein verdammter Handwerker.“ Er atmete ein paar Male um einen weiteren Würgereflex zu unterdrücken. „Ein verdammt guter vielleicht, aber auch nicht mehr. Und die spüren das.“
Ich legte den Kopf schräg. „Wer spürt das?“
„Die Weiber, einfach alle.“ Er griff nach der Vodkaflasche, in der noch ein kleiner Rest Flüssigkeit schwappte. Ich legte meine Hand daran. Sah Victor fest an. Schüttelte den Kopf. Er lehnte sich zurück, gab auf.
„Die Weiber, hm?“ sagte ich und drehte den Verschluss der Flasche auf. Ich musste weder auf sein sachtes Nicken, noch auf eine Antwort warten. Stürzte die abartig brennende Flüssigkeit herunter. Schlechter Vodka. Der Name, den ich aussprach, fuhr ihm durch die Brust, wie eine rostige Klinge. „Natalia?“
Er zuckte zusammen.
Ich dachte an Marlin. Wie er ihn wieder einmal fertig gemacht hatte. „Ich dachte, sie wär’ für dich nur 'ne abgefuckte Schlampe. Such dir halt 'ne Andere.“
Victor schüttelte den Kopf. „Ach, darum geht's nicht.“ Er massierte seine Schläfen. „Ich will diese Bitch schon seit 'nem halben Jahr ficken.“ Sein Körper spannte sich. Er richtete sich auf und deutete mit dem Gesicht auf Marlins Tür. „Und dann kommt er an. Warum geht sie ausgerechnet mit ihm weg, wenn sie mich haben könnte?“ Er schaute mich an. Tränen glänzten in seinen blutunterlaufenen Augen. „Bin ich wirklich nicht gut genug?“
Ich zwinkerte einige Male schnell mit den Augen. „Aber wenn’s hier nur ums ficken geht ...“
„Geht es aber nicht!“ unterbrach er mich. Ich drehte meinen Kopf weg, um seinem Mundgeruch auszuweichen. „Niemand macht sowas mit mir. Nichtmal er.“
Er richtete sich auf. Sein Körper spannte sich. Er nickte. Es war, als gehörte die lallende Stimme einem Fremden. „Ich ficke, wen ich ficken will.“ Er richtete die Bong auf dem Tisch auf, schien mich überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. „Und ich verliere nicht.“ Er stand auf, nahm den Eimer in seine Hand. Klopfte mir auf die Schulter. „Vergessen wir die Scheiße einfach. Morgen machen wir weiter, wie immer.“
Er torkelte durch den Raum. Schleppte sich die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Stolperte, doch hielt sich mühsam auf den Beinen.
Natalia – ihr Name ließ mich nicht los. Auch wenn ich weder Gefühle, noch lange Erinnerungen mit ihr verband. Ich hatte Angst.
Natalia – 12. August
Der Klang der Kirchturmglocken legte sich über das Gitarrensolo eines Songs von „No Fun At All“, der aus meinem Radio dröhnte. Elf schläge. Marlin rannte weit über den Marktplatz. Im fahlen orangefarbenen Licht der Laternen warf er einen weiten Schatten. Er Schaute beim Laufen zurück in unsere Richtung. Victor und Miguel warfen eine Plastikflasche, die wir mit Whiskey und Cola gefüllt hatten hin und her. „Lauf Forrest, lauf!“ schrie Victor über den Platz in Marlins Richtung. Marlins Schuhe pochten laut auf den Pflastersteinen. Victor holte aus und warf.
Marlin sprintete wie ein Besessener - die Augen an die fliegende Flasche geheftet. Er breitete die Arme aus, blieb stehen. Die Flasche sprang in seinen Händen auf, doch er angelte sie schließlich aus der Luft. Er riss die Arme nach oben und tat so, als würde er die Flasche im nächsten Moment auf das Pflaster knallen. „Touchdown!“ schallte es aus seinem Mund und er stürmte unter unseren Jubelschreien die Stufen eines Springbrunnens hinauf, der mitten auf dem Marktplatz stand. Öffnete die Flasche, trank. Bis nur noch gut ein drittel der Flüssigkeit in der Flasche war. Miguel und Victor rannten ihn fast um. Schlossen ihn in ihre Arme. Das Lächeln von Victor und Marlin war wie eingebrannt. Als hätten sie ein anderes Gesicht. Es erinnerte mich an früher. „Wir haben den Song fertig!“ rief Miguel. Sein Akzent war noch stärker als sonst. Wir jubelten und ließen uns auf die Stufen fallen. Victor legte seine Arme um Marlin und Miguel. Schaute mir in die Augen. Lächelte. Ich konnte seinen schnellen Herzschlag geradezu spüren. „Wir können es schaffen,“ presste er unter seinem erschöpften Atem heraus. „Wir können es wirklich schaffen.“
Wir alle nickten. Stierten für einen Augenblick auf die Sterne.
„Wie weit ist's noch?“ fragte ich.
Victor kannte sich als einziger im Ort aus, antwortete aber nicht sofort. Ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört. „Vielleicht noch so fünfzehn Minuten bis zum Strand.“
Der fahle Schein eines Lagerfeuers drang durch die Äste. Wir waren für gute fünf Minuten über einen Trampelpfad durch einen stockdunklen Wald gelaufen und ich hätte schwören können, dass Victors Orientierungssinn unter dem Alkohol gelitten haben musste. Doch die Stimmen wurden lauter. Einige erkannte ich sogar. Meine Füße waren federleicht. Marlin löschte die Glut des Joints, den wir herum gereicht hatten an einem der Bäume. Wir traten auf den Strand hinaus und wurden sofort jubelnd begrüßt.
Ein Mädchen mit blonden Haaren und weißem Oberteil stürmte auf uns zu. Sprang in Marlins Arme. Küsste ihn auf die Wange. „Hey! Wie geil, dass ihr gekommen seid.“ sagte Natalia. Marlins Gesicht war wie erstarrt. Seine Augen an sie geheftet, als sie sich nach uns Anderen umdrehte. Sie tat einen Schritt auf mich zu und hatte sichtlich Schwierigkeiten, noch geradeaus zu laufen. Sie gab mir eine kurze Umarmung. Löste sich, schritt auf Victor zu. Die beiden lächelten sich für ein paar Sekunden an. Victors Grinsen wurde ein wenig breiter. „Ist dir kalt, oder freust du dich wirklich so, mich zu sehen?“
Sie überlegte und stieß schließlich überrascht den Atem aus. Legte eine Hand über ihre Brüste, um die Nippel zu verdecken, die ein wenig nach außen getreten waren. Sie deutete eine Ohrfeige an und lachte schließlich schrill auf. „Du bist echt so einer,“ sagte sie.
„Oh ja,“ antwortete Victor mit ruhiger fester Stimme.
Sie suchte nach einer passenden Antwort, schüttelte aber schließlich nur lächelnd den Kopf und gab Miguel noch eine Umarmung. Spielte ein wenig mit den Perlen in seinem Haar. „Na kommt,“ sagte sie. „Wir haben noch voll viel Alkohol, der alle werden muss.“
Der Feuerschein warf flackerndes Licht auf die Körper, die sich rhythmisch zu den Klängen aus einem tragbaren Radio bewegten. Seeed, Gentleman, Bob Marley – unsere Freunde zuhause hätten sich wohl schief gelacht, wenn sie gesehen hätten, wie sich die schlimmsten ihrer Hardcore-Kids zu solch seichten Klängen bewegten. Die See, die akustischen Instrumente und die Natur. Sie hatten Ruhe in die Musik gebracht, die in jedem von uns spielte – zumindest glaubte ich das. Der Sand wurde weich unter den tanzenden Füßen. Alle waren barfuss. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen Blick auf Victor. Flinke Hände eines Mädchens mit kurzen roten Haaren krallten sich in sein schwarzes T-Shirt, auf dem das Logo der „Good-Night-White-Pride-Bewegung“ prangte. Es erinnerte mich an die Auftritte im Guerillo – unserer Stammlocation. An Victors und Marlins Schreieinlagen und ihre ohrenbetäubenden schwarzen E-Gitarren. An Miguels Drumset, welches drohte, einem das Trommelfell zu zerschmettern, wenn man keinen Gehörschutz trug.
Das Mädchen zog das Shirt über Victors Kopf. Danach presste sie ihr Gesicht an seine nackte Brust. Leckte über seine Haut. Er lächelte mir zu und zwinkerte. Ich nickte nur wissend. Ihre Hand wanderte seinen Körper hinab. Machte halt an dem Nietengürtel, der seine zerrissene kurze Jeans fest schnürte. Sie griff das lose Ende, welches ein wenig nach unten baumelte. Zog ihn mit sich. Ein letztes Blitzen seiner Zähne in meine Richtung. Mein Herz machte einen Sprung, als ich in die andere Richtung blickte. Natalias Hand fuhr durch Marlins Haare. Ihre Lippen, auf denen der dünne gepiercte Metallring im Feuerschein orange glitzerte, formten die Worte des spielenden Liedes. Marlin hatte seine Augen geschlossen, um sie nicht anzustarren. Vorsichtig legte sich seine Hand an ihre Hüfte. Sie lächelte. Er hätte es tun können. Victor hätte es getan. Kurz und animalisch. Eine kraulende Hand in ihren Nacken, die Hand auf dem Rücken ein wenig tiefer gleiten lassen und dann nur noch ziehen. Victor hätte es getan.
Marlin blickte immer nur für Sekunden in ihre Augen. Lächelte flüchtig. Spielte ein wenig mit ihren Fingern. Sie tastete ihn mit ihren Augen ab. Durchdringend. Als würde sie ein Gemälde betrachten, in dessen faszinierenden Details man sich verlieren konnte. Man spürte, wie die Distanz zwischen ihnen stetig kleiner wurde. Vorsichtig, langsam. Ein falscher Schritt, eine falsche Berührung – und der Moment würde auseinander fallen.
Marlin hatte die Regeln gebrochen. Es war ungefähr eine halbe Stunde nach zwölf. Natalia war seit einer halben Stunde einundzwanzig. Victor blickte finster auf das Meer. Das Licht des Feuers schien von seinen Augen abzuprallen. Auch er hatte zugestimmt. Widerwillig. Als die beiden Jungs mit den Gitarren auf die Party gekommen waren. Als sich alle um das Feuer geschart hatten, um denen zuzuhören, die gerade die Instrumente spielten. Als Marlin unseren neuen Song für Natalia spielen wollte, weil sie ihn gefragt hatte.
Es war Marlins Song. Zu mindestens neunzig Prozent. Und es war ihr Geburtstag. Und er war in sie verliebt. Verliebt – für Victor nur eine leere Phrase, gegen die er sich kurz aufgelehnt hatte. Doch er wurde von Miguel und mir überstimmt. Das rothaarige Mädchen war lange aus Victors Kopf verbannt. Abgeschoben in das Feld derer, die geknackt waren – denen er in fünf Minuten triebdurchtränkten Spaßes das einzig Interessante abgeknüpft hatte, was er je an ihnen finden konnte.
Ich sah, wie das Intro des Songs und die Melodie auf den beiden hohen Gitarrensaiten Nadelstiche in Victors Kopf jagten. Es verletzte nicht nur die Regeln. Wieder und wieder fanden seine starren Augen doch eine Sekunde, um bei Natalia zu verweilen. Natalia, die so nah an Marlin saß. Ich wendete meine Aufmerksamkeit von Victor ab.
Die um das Feuer sitzenden Leute – es mussten um die zwanzig sein – verstummten nach und nach. Sie hatten es nicht gewagt, sich in einen bestimmten Abstand zu Marlin und Natalia zu setzen. Sie beobachteten die Szene zwischen den beiden nur von der Ferne. Spürten, dass sie ein Teil des Liedes war. Und als Marlins Stimme in den Song einsetzte, schienen sie wie erstarrt. Wieder und wieder fanden Marlins dunkle Augen Natalias zehrende Blicke. Nicht lange, nicht penetrant – aber dennoch lange genug, um sie erkennen zu lassen, dass sie die Inspiration hinter all den Zeilen sein musste. Das Flackern des Feuers und Marlins Finger waren die einzigen Dinge in der Welt, die sich noch bewegten. Alles andere hielt den Atem an. Natalias Augen ruhten auf ihm – ganz so als würde er zum ersten Mal richtig mit ihr reden.
Und dann lag Sehnsucht in Victors Blicken. Die Sehnsucht danach, ebenfalls all diese Dinge vermitteln zu können. Er hatte mir davon erzählt, dass er Marlin beneidete. Und ich war der Einzige, der es in diesem Moment sah. Es war mehr, als nur eine Verletzung der Regeln. Während die Masse in den Traum abtauchte, in den sie Marlin entführte, spürte ich, wie plötzlich etwas gewitterhaftes durch die Luft zog. Die subtilen Ausläufer elektrischer Spannung, die der sanfte Wind um uns webte. Um Marlin, um Natalia, um Victors Augen. Der Song fand seinen Klimax, um sich danach aufzulösen.
Auf Natalias Wangen glitzerten Tränen. Alles war still. Das Lied hallte in den Wellen nach. Ganz so, als würde das Meer noch weiter singen. Versessen lauschten alle der ausklingenden Gitarre - zogen das letzte Bisschen der Musik in sich ein. Verängstigt, auch nur einen kleinen Ton zu verpassen. Natalia stürzte nach vorn, schlang ihre Arme um Marlin. Victor stand neben mir auf. Packte seine Schuhe. Marschierte in Richtung Wald davon. Ich war noch immer von Marlins Lied wie paralysiert.
„Niemand hat mir je etwas so schönes gesagt.“ Ihr Flüstern ist wie ein Streicheln auf seinen verletzten Erinnerungen. Applaus.
Marlin schließt die Augen. Umarmt sie fester. Unaufhörlich bewegen sich ihre Finger in seinen Haaren. Das Klatschen und die vereinzelten Zurufe verstummen hinter einer dicken Wand. Er ist willkommen in der Welt. Es gibt einen Platz. Es gibt einen Weg. Die Musik hat ihn in die Welt geführt. Er spürt ihr Herz schneller schlagen, als er seine Stimme leise erhebt. Sie trägt einen Ohrring in Form eines schwarzen Sternes. Marlin streicht ihre Haare beiseite, und legt ihr Ohr vollständig frei. Geht noch ein Stück näher heran. „Wenn du willst, sage ich es dir noch tausendmal.“
Er möchte in ihrem Blick versinken. Im tiefen grün untergehen. Ihre Hand in seinen Haaren. Ihr weicher Kuss auf seiner Wange. Scheinbar für Ewigkeiten.
„Was machst du hier – schon nach Hause?“
„Ja, vielleicht - ich hatte ein bischen viel. Du?“
„Ich brauche noch ein bischen Nachschub von der Tanke – ´ne Flaschen Tequilla. Für mehr reicht die Kohle nicht mehr. Der Rest ist fast alle, aber wir haben noch so viele Zitronen.“
Wir saßen auf einem herangerollten Baumstamm am Feuer – Marlin und ich – und spielten einen Klassiker nach dem anderen. Beatles, Rolling Stones, Pink Floyd, Paul Simon - was auch immer die umstehenden verlangten, wir schleuderten es den Flammen entgegen, als gäbe es kein morgen. Die beiden Besitzer der Gitarren – ihrerseits noch blutige Anfänger – hatten schnell eingesehen, in welchen Händen die Instrumente wohl besser aufgehoben waren. Ich musste mir wieder und wieder das Lachen verkneifen, als ich in der Dunkelheit und gegen das Licht des Feuers Eindrücke vom Strand erhaschte, wo Miguel mit zwei Mädchen badete – nackt, wie ihn sein heidnischer Gott geschaffen hatte. Das Lied war zu Ende. Erneute Zurufe von Songtiteln. Doch eine Stimme war lauter als alle anderen: „Hey, wo ist eigentlich deine Prinzessin?“
Das Mädchen mit den dunkelblonden Haaren – Stella – hatte sich einen Platz neben Marlin erkämpft. Ihre Augen irrten benebelt hin und her. Ich fragte mich, ob sie die Sache mit Victor bereits vergessen hatte. Ob sie in ihrem betrunkenen Bewusstsein vielleicht noch mehr solcher Sachen suchte. Marlin zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht – war grad kurz auf dem Klo, dann war sie weg.“
Ein Mädchen, was ein paar Meter neben uns im Sand lag, sagte: „Natie wollte nur kurz zur Tanke, was zu saufen holen – keine Panik.“
Stella fuhr Marlin leicht mit ihrem Finger in die Rippen. „Da hat die aber nochmal Glück gehabt.“
Marlin grinste für einen Moment. Strich sich durch das Haar – unfähig, etwas zu erwidern. Lachte. Ich klopfte ihm auf die Schulter.
„Toll, jetzt ist der schon halb leer und ich kann die Tanke sogar noch sehen. Wir sind solche Alkis – echt schlimm. Wie erklären wir das jetzt den Anderen?“
„Ach, keine Panik. Wir haben noch drei Flaschen zuhause – und Zitronen. Ich hol' die eben her – sind nur zwanzig Minuten bis zu mir.“
„Bist du sicher, dass du das noch schaffst? Du wankst ganz schön. Ich komm' lieber mit. Ich hab mir mal besoffen die Hand gebrochen. War ätzend.“
Marlin spielte Epiphany von Staind. Dieser Song war mittlerweile eine von seinen Spezialitäten. Es war der erste Song, den er je gesungen hatte – damals mehr oder weniger mit Erfolg. Etwa vier Jahre vor unserem Ostseetrip. Und jetzt schien dieses Lied wieder einmal alles zu reflektieren, was er spürte. Marlin – so unscheinbar er auch wirkte; seine Musik verwandelte ihn in eine andere Person. Bei den Auftritten im Guerillo wurde er zu einem Rebellenführer, der Kriegeshymnen gegen Faschismus und Ungerechtigkeit in die Welt schrie. Sie erzittern ließ. Und auch hier auf dem Strand fuhr einem diese innere Kraft, die er in die Welt entsandte, in Mark und Bein. Seine Visionen und Gefühle wurden auf alle umstehenden übertragen. Und einige der Mädchen wischten sich bereits wieder Tränen aus dem Gesicht. Die Musik gab ein Geheimnis über ihn frei, was er sich niemals auszusprechen traute. Er ließ es uns nur mit aller härte spüren. Er schaute ins Feuer. Seine Augen flammten.
„But I know I'll do the right thing ... “ Ein abgehacktes quietschendes Geräusch stach für einen winzigen Moment in seinen Gesang. Ein sauberer Bruch. Marlin schüttelte seine rechte Hand. „Fuck!“ stieß er aus. „Saite ist durch.“
Enttäuschte Ausrufe der umliegenden Personen. Der Besitzer der Gitarre stand nach wenigen Sekunden vor uns. Angst in seinem glasigen Blick.
Ich legte eine Hand auf seinen Arm. „Keine Panik, wir haben genug dabei. Wir geben dir ´nen Satz Neue.“
Er schüttelte kurz seinen Kopf in einer raschen Bewegung. „Jo, alles klar – kann halt passieren,“ sagte er. „Ich erschreck' mich nur immer, wenn's um mein Baby geht.“
„Tun wir alle, man, sorry.“ sagte Marlin und gab ihm die Gitarre.
Ein Mädchen umarmte seinen Kopf von hinten. „Und womit soll er jetzt spielen? Ich will nicht, dass er aufhört. Außerdem ist der Alk alle.“
Zustimmung von allen Seiten. Der Junge mit der zweiten Gitarre war bereits nach Hause gegangen.
Marlin sagte nichts. Genoss die Umarmung. Er badete immer in der Aufmerksamkeit. War nach Auftritten oft für ein paar Stunden nicht ansprechbar – nur für ein paar Züge von einer Zigarette zu haben. Ich zuckte mit den Schultern. „Also bis nach Hause sind’s zwanzig Minuten – da sind Saiten und genug Alkohol. Aber das sind vierzig Minuten – weiß nicht, ob das lohnt.“
Jemand tat einen Schritt neben das Feuer. Er war kräftig gebaut – um die zwei Meter groß. Er hatte sich als Achim vorgestellt. „Ok, Leute, nicht in Panik geraten – ich hab den Plan.“ Er schritt auf mich zu. „Du kannst mein Fahrrad haben, damit brauchst du nicht so lang – ihr scheint vertrauenswürdig zu sein.“
Ich legte den Kopf ein wenig schräg. „Ja, klingt gut.“
„Ich mach's,“ sagte Marlin und lächelte. „Ich hab’s kaputt gemacht, ich mach's wieder ganz.“
Achim klopfte ihm auf die Schulter und Marlin sackte ein wenig unter dem Gewicht nach unten. „Gut, aber beeil dich. Willst ja deine Kleine nicht lange warten lassen, wenn sie zurückkommt.“ Achim schaute die Anderen an. „Und wir machen jetzt ein bischen Hippiemukke an und gehen schwimmen, oder was? Kann ja nicht sein, dass hier alle einpennen.“
Ich schaute nach Miguel, konnte ihn jedoch nirgens mehr entdecken. Plötzlich zwei Hände auf meinen Schultern. Der Akzent war so markant, dass es mir prompt ein Lachen auf das Gesicht jagte. „Yeah, Schwimmen!“ Zwei Mädchen zogen Miguel an den Händen am Feuer vorbei. Eine ließ ihn los und visierte mich an. Rannte auf mich zu. Ihr knappes gelbes Bikinioberteil verrutschte. Sie bemerkte es, schenke ihm aber nicht viel Beachtung. Ich zog einen Joint aus meiner Tasche und sie grinste noch breiter, als sie mich an der Hand nahm. „Sorry, Kleines,“ sagte ich, als sie dazu ansetzte, mich zu küssen. „Ich hab' ne Freundin, die ich sehr liebe.“
Sie biss sich auf die Lippe. Ich lächelte sie an. „Kannst aber trotzdem was abhaben.“
Sie umarmte mich und musste sich die lallenden Worte geradezu herausquälen. „Sollte mehr Typen wie dich geben.“
„Und jetzt?“
„Jetzt kommt der beste Teil.“
„Ich weiß nicht, ob das richtig ist ... Aber es fühlt sich gut an.“
„Es wird noch viel besser – dann kannst du dir sicher sein.“
Interludium - Klinik
Linda beäugte die Stifte und die Kinderfotos auf dem Schreibtisch des Arztes. Er war mit ihrer Tante nach draußen gegangen. Sie schrie den Arzt an, so dass Linda jedes Wort verstand.
„Sie sagen immer, ich soll mich gedulden! Gedulden und gedulden und gedulden ...“ Die Worte brachen ab – unterbrochen von dem abgehackten Atem eines Weinkrampfes. „Ich will, dass sie wieder redet!“ verstand Linda. Jetzt weinte sie auch, weil sie an Robin denken musste. Und dass sie ihn nie wieder sehen würde. Sie wollte zu ihm. Und zu Mama. Sie wollte das hier draußen nicht. Sie wollte nur noch die Bilder in ihrem Kopf. Das war der einzige Ort, an dem sie noch bei ihnen sein konnte.
Die Stimme vor der Tür klang kratzig und schief. Sie erkannte ihre Tante kaum noch. „Und wie lange soll das noch dauern? Ich kann das nicht mehr! Das arme Mädchen, das arme Kind,“ die Stimme wurde leiser und leiser. „Bitte tun sie etwas, bitte helfen sie ihr, bitte helfen sie ... bitte, bitte ...“
Solo - Marlin
Der Fahrtwind rauscht sanft an Marlins Gesicht vorbei. Lässt sein T-Shirt flattern. Dringt friedlich in seine Gedanken. Manchmal hält er an Kreuzungen. Aber da ist niemals etwas; es gibt nur die Nacht und ihn. Kein Auto traut sich auf die menschenleeren Straßen. Da ist nur der Geruch des Feuers in seiner Kleidung. Überall in ihm. Natalia, Natalia, Natalia. Ihr Bild brennt in seinem Kopf. Reinigendes Feuer. Es verbrennt seine Angst, seine Zweifel. Sein Gestern. Nicht abrupt. Aber das langsame Schwinden lässt ihn - Minute um Minute - mehr das Gefühl haben, er könnte frei atmen. Atmen. Leben.
Nur noch das leise Rasseln der Kette. Das Rauschen der Wellen neben dem Weg, der am Strand entlang führt. Der Geruch ihrer Haare. Das Gefühl ihrer tränennassen Wangen. Überall ist Verständnis. Er fliegt über den schmalen Weg. Es gibt keine Widerstände mehr. Keine Grenzen und Gitterstäbe. Die Nacht umarmt ihn.
Licht dringt aus den Fenstern des Hauses. Marlin kneift die Augen zusammen. Tatsächlich. Hatten sie es brennen lassen? War Victor zuhause? Wohin war Victor eigentlich plötzlich verschwunden? Die letzten Schritte auf die Tür zu. Sein Herz schlägt noch immer ruhig. Keine unterschwellige Spannung, keine Angst. Nur der Wunsch, endlich wieder ihre Stimme zu hören. Behutsam stellt er das Fahrrad neben dem Eingang ab. Schließt noch einmal die Augen und konzentriert sich auf das Geräusch der Wellen. Das Meer ist allgegenwärtig. Er möchte einmal am Meer wohnen. Noch mehr Lieder mit ihm zusammen schreiben. „Natalia,“ flüstert er und lächelt, als er die Klinke nach unten drückt.
Marlin schreitet erbarmungslos in den Raum. Nicht der Hauch von Vorsicht oder Vorbereitung. Er rechnet nicht mit einem Angriff. Nicht hier, nicht in seinem Zuhause. Victors Hand ist in Natalias zerwühlten Haaren vergraben. Marlins Sicht wird für einen Moment schlecht. Er taumelt einen Schritt zur Seite. Wie ein Schlag, der ihn getroffen hat. Wie tausend Schläge, die im Sekundentakt auf ihn niederfahren. Victor steht vor einem der Sofas. Natalia kniet vor ihm. Die Haut an ihren Knien ist rot. Genau wie ihre mit Schweiß gläzenden Wangen, an denen vereinzelt ihre blonden und schwarzen Haare festkleben. Ihre Augen sind wach, bewusst, blitzend. Jedes Detail ein neuer Schlag. Ihre zarte Hand mit den schwarz lackierten Nägeln, die seinen Penis umklammert. Das abgestreifte Kondom auf dem Boden vor ihr. Das Sperma, welches zwischen ihren Lippen hervor quillt. Ihr Kinn hinab fließt. In langen Fäden auf ihre prallen Brüste tropft, die sie Victor krampfhaft nach oben entgegen reckt. Bettelnd nach seiner Berührung. Die andere Hand in seinen Arsch gekrallt, als wollte sie noch mehr aus ihm heraus quetschen. Ein Flehen nach noch mehr Erniedrigung.
Ein schiefes Lächeln stiehlt sich auf Victors Gesicht. Schließlich ein kurzes Auflachen. Sie schaut einige Male zwischen Marlin und Victor hin und her und schließlich nach unten. Victors Stimme reißt ihn aus der Starre. „Du bist ein bisschen spät, um noch was davon abzukriegen. Kannst ja mal fragen, ob sie dich probieren lässt.“
Sie springt auf. Die Badezimmertür knallt. Victor greift nach einer Tequillaflasche auf dem Tisch. Lässt sich auf die Couch fallen. Deutet mit dem Daumen hinter sich in Richtung Badezimmer. „Na komm, wir trinken einen. Die is' eh gleich weg.“
Zwei Schritte. Ein Griff nach dem Tequilla im Regal. Marlin weiß selbst nicht einmal mehr, warum. Ein zweiter Griff nach dem Koffer mit seiner Gitarre. Rennen. Rennen. Rennen.
Die Flüssigkeit brennt in Marlins Hals. Drei oder vier Schlücke? Er zählt nicht. Der Wind wird stärker, kälter. Weht ihm Sand ins Gesicht. In die Augen. Er tritt in den Sand, stolpert, fällt. Sein Gitarrenkoffer springt neben ihm auf. Er packt das Instrument. Schleift es ein wenig hinter sich her durch den Sand. Nimmt es schließlich auf die Schulter. Als er zupackt sieht er den ausgebeulten Fingernagel an seinem rechten Mittelfinger. Wasser schwappt in seine Schuhe. Noch ein Schluck Tequilla. Alles Wasser brennt. Erinnerungen brechen über ihn.
„Marlin, ich darf nicht mehr dein Freund sein.“ Erwins Kopf ragt aus einer gelben Tür. „Frau Grünfelder hat es verboten.“
Marlin streckt die Hand aus, um die Tür noch einen Moment offen zu halten. „Wir können uns heimlich treffen – wenn die Lichter aus sind.“
Tränen fließen über Erwins Wangen, die mit Sommersprossen gesprenkelt sind. „Nein, sie bestraft mich sonst. Ich habe Hunger, Marlin. Ich habe solchen Hunger.“
Wieder ein Drücken an der Tür. Marlin stemmt sich dagegen. „Ich kann dir Brot stehlen. Ich sage, ich war es. Ich lasse mich bestrafen. Ich habe das schon oft gemacht.“
„Nein, Marlin.“
„Bitte!“ Als Marlins Stimme laut wird, fährt Erwin zusammen.
„Marlin, hau ab! Sie darf das nicht sehen.“
„Nein!“
Dir Tür knallt. Ein Stechen geht durch Marlins Mittelfinger, der in der Tür geklemmt wurde. Er schreit auf. Blut fließt seine Hand hinab. Er kauert sich vor der Tür zusammen. Weint. Starrt auf die Splitter seines seines zertrümmerten Fingernagels, die aus der roten Masse ragen. Schwere Schritte. Sein Arm wird gepackt. Es sticht in seiner Schulter, als er mitgeschleift wird. „Du elendes Teufelskind. Jetzt muss ich mich wieder mit dir rumschlagen. Ich hab' eigentlich Feierabend.“
Er stürzt. Die Gitarre prallt auf den Sand. Stößt wirre Töne aus, als würde sie aufschreien. Der Wind fegt über sie Saiten und durch das Schalloch. Wie ein finsteres Lachen. Ein Lachen.
Sie lacht immer. Marlin vertraut niemandem mehr, der immer lacht. Er kann es sehen, als er sich unter der Decke verkriecht. Sich in den Stoff klammert. Sie lacht immer. Niemals Licht, wenn sie kommt. Es sind vier Hochbetten in diesem Zimmer – doch nur er schläft hier. Der fahle Mondschein, der durch das Fenster dringt, erhellt Frau Grünfelders Gesicht. Ihre Falten unter den Augen werfen Schatten. „Du bist eine Seuche – weißt du, warum deine Mutter tot ist?“
Marlin bewegt sich nicht. Sagt kein Wort. „Sie ist tot, weil du lebst. Weil es dich gibt.“
Er hatte ihr so oft gesagt, dass er nichts getan hat. „Aber ich war nicht böse,“ sagt er.
Sie schüttelt den Kopf und lacht. „Was glaubst du, wer du bist?“
Sie zerrt seine Decke von seinem Bett. „Ich lasse nicht zu, dass du stark genug wirst, um deine Perversion auszuleben. Ich werde die Welt vor dir beschützen. Und jetzt lass los, oder du bekommst morgen kein Essen.“ Sie schleudert die Decke in die andere Ecke des Raumes. Packt seinen Arm. „Oh, was hast du denn da gemacht?“ Sie presst ihren Daumen auf die Kuppe seines verletzten Mittelfingers und er schreit auf. Ihre andere Hand schlägt auf seinen Mund. Drückt zu. Sie löst sich von seinem Finger und packt Marlins Hals. „Schrei noch einmal und du stirbst! Willst du sterben, du mieses Stück Dreck? Erzähl' es jemandem und du stirbst. Bevor sie mich kriegen, töte ich dich und wenn sie mich dafür erschießen. Merk' dir das immer. Du bist nirgens vor mir sicher. Nirgens.“
Marlin bekommt nur Luft durch ein Nasenloch, welches nicht ganz von ihrer Hand verschlossen wird. „Niemand weiß, dass du hier bist. Die Aktenfuzzies haben einen Fehler gemacht. Sie denken, du wärst in Holland.“ Wieder Lachen. „Glaub mir, ich finde bald einen Weg, dich zu entsorgen. Bei meiner Schwester kam alle Hilfe zu spät – aber ich werde nicht zulassen, dass du jemandem diese Dinge antust. Ich kann das nicht zulassen. Es ist in dir – ich spüre es ganz genau. Du stinkst danach.“
Er wimmert. Tränen dringen aus seinen Augen. Frau Grünfelder reißt ihre Hand los, als die Tränen sie erreichen. „Ekelhaft,“ speit sie aus und spuckt auf sein Gesicht. „Du bist ekelhaft.“
Stampfend stürmt sie aus dem Raum.
Marlin weint und stiert auf die Metallfedern über ihm, bis die Sonne langsam über den Horizont klettert. Gitterstäbe werfen dunkle Schatten in das Zimmer.
Sein Fuß verliert auf einem Felsen den Halt. Er rutscht ab. Scheppernd schlägt die Gitarre auf. Ein Riss zieht sich über die Kopfplatte. Sein Herz springt, schwenkt jedoch schnell wieder in einen ruhigeren Takt um. Es spielt keine Rolle mehr. Es spielt keine Rolle mehr. Regentropfen treffen auf seine Haut. Sein Gesicht ruht auf kaltem Stein.
„Weißt du, was ganz toll ist?“ Wieder das Lachen. „Ich habe jetzt sechs volle Tage Dienst.“ Das Prasseln des Regens hinter dem Fenster zeigt Marlin, dass es weder hier drinnen, noch dort Draußen etwas Schönes geben kann. „Du wirst so lange in ein anderes Zimmer umziehen.“
Es ist kalt an den Füßen. An einigen Stellen im Keller ist es nass. Er trägt nur seinen Frottee-Schlafanzug. Einzig der fahle Schein einer alten Taschenlampe spendet ein wenig Licht. Unter ihrem Arm hält Frau Grünfelder eine Filzdecke. Obwohl er Angst vor ihr hat, hält er seine Hände verkrampft an ihrem Rock. „Ich möchte wieder in mein Bett.“ Tränen fließen seine Wangen hinab.
„Wirst dich dran gewöhnen müssen. Schließlich bist du ein Tier. Tiere leben so.“ Sie reißt seine Hände los und stößt ihn in eine Ecke. Hinter ein Gitter. Wimmernd rennt er in ihre Richtung. Ihr Fuß trifft in seinen Bauch. Sein Gesicht schlägt auf den Boden. Er zieht die Beine an. Schnappt nach Luft. Weint. Ihre spinnenhafte Silhouette holt aus. Lässt die aufgerollte Decke auf ihn niederfahren. Er stößt kurz die Luft aus. Nicht schreien. Bloß nicht schreien. „Na, willst du die Decke haben?“
Marlin antwortet nicht. Sie beugt sich zu ihm herunter. „Ich hab' dich was gefragt – willst du die Decke haben?“
„Ja,“ presst Marlin halb geflüstert heraus.
„Warum ist deine Mutter tot?“ Es war immer der gleiche Tonfall in ihren Fragen.
„Ich weiß ... “
„Nein!“ Sie stößt ihn an. „Sie ist tot, weil du lebst. Warum ist deine Mutter tot?“
Marlin antwortet nicht. Der Schmutz unter seinem Gesicht bildet mit seinen Tränen einen schmierigen Film. „Gut, ich habe es versucht. Dann eben keine Decke.“
Sie zieht ein Gitter zu. Ein Vorhängeschloss klickt. Später wird Marlin seine Umgebung ertasten und feststellen, dass er seine Beine in liegender Position in keine Richtung ganz ausstrecken kann.
„Warum ist deine Mutter tot?“
„Weil ich lebe.“
Ein Napf, der im Schein der Lampe glänzt, wird durch die Stäbe geschoben. Er trinkt daraus, wie er es bei den singenden Hunden in dem Zeichentrickfilm, der immer in Erwins Zimmer läuft, gesehen hat.
„Was muss man mit dir tun?“
Sein Mund möchte die Worte formen. Etwas in ihm wehrt sich. Er schlägt die Hände vors Gesicht. Versucht nichts mehr zu sagen. Sein Bauch schmerzt.
„Na, magst du nicht doch etwas zu essen?“
Sie steckt ein Stück rohes Fleisch durch die Stäbe. Das Fett darauf glänzt. Marlin packt zu, doch Frau Grünfelder ist schneller. Zieht ihre Hand zurück in die Schwärze. „Nicht so schnell,“ lacht sie. „Was muss man mit dir tun?“
Seine Augen heften an dem Fleisch. Können sich nicht davon losreißen. Er streckt die Hände danach aus. Fährt durch die Gitterstäbe. Sie weicht zurück. Blendet in sein Gesicht. „Los, du gieriges Tier, sag es!“
„Man muss mich töten!“
Ihr Lachen ertönt, als sie das Fleisch durch die Stäbe wirft.
Der schleimige Klumpen klatscht auf den Boden. Marlin fährt mit dem Finger darüber. Sticht leicht hinein. Weich. Feucht. Immer mehr Spucke fließt in seinem Mund zusammen. Er stopft das rohe Fleisch so weit in seinen Mund, wie er kann und beißt. Beißt und saugt. Seine Zähne können es kaum zerkleinern. Dreck knistert, als er kaut. Als er fertig ist, fährt er mit der Zunge immer wieder über die Stelle auf dem Boden, auf die das Fleisch gefallen war, bis er allen Saft aufgeleckt hat. Er lächelt über den Geschmack des Fleisches.
Marlin verliert das Gefühl für die Zeit und die Welt. Er liegt in einer der Ecken. Sein Mageninhalt fließt ihm aus dem Mund. Rinnt warm über seinen Körper. Er ist zu schwach, um sich noch zu bewegen. Er findet es schön, wie warm es ist. „Man muss mich töten.“ Er findet es schön, dass er jetzt einschläft.
„Mit so einer Lebensmittelvergiftung ist nicht zu spaßen, Frau Grünfelder.“
„Ja, der arme Junge hat die ganze Nacht über gebrochen. Ich konnte kein Auge zu tun.“
„Sie haben richtig reagiert, ihn gleich hier her zu bringen. Er isst sonst aber auch nicht so viel, oder?“
„Nein, er gehört eher zu den weniger hungrigen, Herr Doktor – ich muss ihn oft zwingen, mittags aufzuessen.“
„Nun legen sie sich erst einmal hin – sie haben genug für ihn getan. Sie sind sehr liebevoll zu ihren Kindern.“
„Sie sind alles, was ich habe.“
Er schützt den brennenden Joint mühsam vor dem langsam einsetzenden Regen. Wie besessen inhaliert Marlin die Luft. Pustet sie auf das Meer hinaus. Ein schöner Joint ist das, wie er findet. Es hatte lange gedauert, ihn zu bauen. Das Papier ist mit Honig bestrichen. Ungesund, aber man kann es zu besonderen Anlässen mal machen. Er hatte ihn in einem Etoui mit sich getragen. Ein Joint für Natalia und ihn. Der Rauch Schmeckt süß. Und süß sind auch die Bilder, die er aus seinen Gedanken formt. Er läuft mit Natalia ein wenig ins Meer hinaus und sie reichen den Joint hin und her. Waten, bis sie bis zu den Oberschenkeln im warmen Wasser stehen. Er benetzt seine Finger mit Wasser, um anschließend über ihren weichen Rücken zu streicheln, der noch ganz trocken ist. Ihre Gänsehaut zu fühlen. Er versinkt mit Natalia in Wellen und bunten Phantasien, als der Joint fertig geraucht ist. Ihr Trugbild verschmilzt mit dem Nebel aus regen und Gicht.
Er wirft den brennenden Rest des Joints weiter in Richtung See und durchschreitet die Baumgrenze. Dünne Zweige schlagen an das Holz der Gitarre.
Seine Füße finden einen wackligen Halt auf der Oberfläche des toten weißen Baumes. Er schaut auf seine rechte Hand. Denkt sich, wozu eine solche Hand fähig sein kann. „Ich bin kein Biest,“ flüstert er. Tränen vermischen sich mit Regen. Wellen knallen gegen den Baum. „Ich bin anders als er!“ Der anlaufende Sturm verschluckt seine Schreie. Spritzendes schäumendes Wasser steigt vor ihm empor. „Ich werde nicht wie er.“ Marlin umklammert den nach oben ragenden Ast, um nicht umzufallen. Er blickt auf die Gitarre in seiner Linken. Stützt sich mit ihr ebenfalls auf dem Baum ab. Er flüstert: „Nichts ist anders. Vorbei.“
Er hebt die Gitarre weit über den Kopf. Hört den Regen gegen das Holz schlagen. „Yeah!“ Seine Hand fährt hinab. Der Widerstand ist sehr viel kleiner, als er erwaret hat. Ein kurzes Bersten und auseinander springen. Die Splitter des Korpus hüpfen in die Wellen, die geradezu danach schnappen. Marlin blickt auf den abgetrennten Hals in seiner Hand. An den Saiten hängt noch der Steg und ein kleines Stück der Kopfplatte. Der Wind lässt es tanzen. „Du bringst mir garnichts!“ Seine Hand schleudert den zerbrochenen Rest seiner Gitarre in die aufgewühlte See. „Mir und keinem Anderen!“
Er fördert die halbvolle Tequillaflasche aus einer seiner Taschen zu Tage. Nur noch ein paar Schlücke herunter quälen. Er stiert in die tobende See. Sie reißt sein Gleichgewicht mit sich. Trifft ihn mit einem schlag aus Schwindel. Sein rechter Fuß rutscht. Er fällt nach vorn.
Sein Gesicht ist in aufgeweichten Sand gegraben. Metallischer Blutgeschmack in seinem Mund. Ein Schwall Wasser verschlingt brausend die Welt. Alle Luft, allen Atem. Und gibt sie wieder frei. Peitschend. Kalt. Nass. Nur um ihm kurz Luft zu gewähren. Drückt wieder seine Kehle zu. Er atmet Wasser. Und wieder löst sich die Umklammerung. Er reißt den Kopf nach oben. Saugt die mit Regen getränkte Luft durch den geöffneten Mund. „Lass mich gehen,“ quält er heraus. „Ich will nicht wie er sein. Ich will sterben.“ Husten. Tränen. Doch die See – die Welt - gestattet nicht, dass er einfach zu atmen aufhört. Marlin versteht selbst nicht, warum. Mühsam richtet er sich auf. Stützt sich auf die wackligen Beine. Eine Welle drängt ihn nach hinten. Der Baum trifft ihn knapp unter seinen Schulterblättern. Er dreht sich um. Stützt die Hände auf den mächtigen Stamm. Wasser hat sich in das tote Holz gesaugt. Marlins ungebremste Schläge pressen es heraus.
„Ich bin nicht wie er!“ Sind es überhaupt noch Worte, die er schreit? Oder nur schrille Töne in einer Sprache aus Wut?
Jeder Schlag gegen den alten Stamm erhellt ein Fragment des Gewesenen.
Links!
Victors Haar hängt weit herab - wie schwerer schwarzer Stoff. Er greift Marlins Zeigefinger, führt ihn auf die dritte Saite von oben. Zweiter Bund. Mittel- und Ringfinger darunter. Victors Augen funkeln durch glänzende schwarze Strähnen. Ein silbernes Glitzern deutet sich im tiefen Blau seines Blickes an. Ein Licht, dem Marlin wie bessesen nachjagt. „Jetzt drück runter und schlag.“
Der Stahl schneidet in die Fingerspitzen. Mühsam zieht Marlin das Plektrum über die Saiten. Das Licht in Victors Augen Blitzt für einen Moment auf. Sein Lächeln wird breiter. „Yeah, das war ein A! Glückwunsch – du kannst Gitarre spielen.“
Rechts!
„Hattest du mal ne' Freundin?“ fragt Victor und reißt ein Foto von der Pinnwand über seinem Schreibtisch. Marlin weiß, dass er trotzdem seinem Spiel zuhört. Es ist für Victor ein Automatismus, der ein Leben lang perfektioniert wurde. Es ist das letzte Foto – blank stiert ihm die Wand entgegen. „Blöde Frage, hm?“
Während er auf Marlin zugeht, versenkt er das Bild in seinem Mülleimer. Bei den anderen Fotos von ihr. Dunkelblonde Locken. Grüne Augen. Die letzten Augen und Locken, die je an seiner Wand hängen durften.
Er klopft auf das Holz der Gitarre, die auf Marlins Knien liegt. Starrt den schwarzen Lack an. Er stößt ein kurzes Lachen aus. „Das hier ist das einzige, was Gefühle vielleicht wert ist. Frauen können nämlich nicht damit umgehen – ich hab' echt keinen bock mehr. Dreckige Schlampen.“ Er legt sich vor ihm auf den Boden. Das Blau in seinen Augen ist matt. Das Leben rinnt salzig über seine Wangen. Er starrt an die Decke. „Bist gut geworden – mach weiter so, dann geb ich dir noch zwei Jahre und du hast's richtig drauf.“
Marlin blickt auf seine wunden Fingerkuppen. Zwischen den halb abgerissenen Hautfetzen bricht weißes Licht nach außen. Die Saiten leuchten silbern, als Marlin sie anschlägt und zupft. Er ist besessen vom Licht.
Links!
„Marlin, ich möchte, dass du in unserer Band spielst. Greg hat tatsächlich 'nen Drummer aufgetrieben.“ Er grinst. Seine Zähne blitzen. „Irgend so ein Brasilianer – soll wie der Teufel abgehen.“
Sie sitzen sich gegenüber. Die Hälse ihrer Gitarre ragen in die gleiche Richtung. Victor ist Linkshänder. Er angelt nach einem Haargummi auf seinem Tisch und bindet die dicke schwarze Pracht nach hinten. „Also, was ist?“
„Meinst du, ich bin gut genug?“ Marlins Herz hämmert. Hungrig. Besessen.
Victor nickt bestimmt. Jede Bewegung seines Kopfes erleuchtet den Raum mehr. „Kann wohl keiner besser einschätzen, als ich.“
Sie versinken in der Helligkeit, die aus den Instrumenten scheint.
Rechts!
Marlin rennt auf die Quelle zu. Der Strand ist leer gefegt. Weißer Sand brennt unter seinen Füßen. Sonne liegt gleißend auf seiner Stirn. Blau und Weiß, blau und Weiß. In den Wellen steht die Silhouette eines Mädchens. Abgekehrt. Ihre Haare leuchten wie Gold. Es sticht in den Augen, doch er kann seine Blicke nicht davon wenden. Ein Ruck geht durch seinen Körper, als seine Füße platschend in die Brandung treten. Die kühle des Wassers steigt an seinem glühenden Körper hinauf. Seine Gedanken bremsen, wie die schmerzenden Beine eines Läufers. Als seien sie am Ziel. Es gibt nur noch Wasser und Himmel. Unendlich rein.
Sie wendet sich um. Ihr Piercing glänzt auf den rosafarbenen Lippen. Ihre Augen sind geschlossen. Sie streckt ihre Arme nach vorn aus. Packt zu.
Es knackt in seinen Handgelenken. Er schreit auf. Ein kurzer dunkler Blitz. Es ist Nacht, das weiße Holz des Baumes vor ihm. Peitschender Regen. Seine Schreie fahren in den Sturm. Und dann ist er zurück. Möchte seine Augen zukneifen, als Natalia die ihren öffnet. Das weiße Licht fegt alles Blau hinweg. Es zerfetzt seine Pupillen, die er nicht davon abkehren oder verschließen kann. Er schmachtet nach dem erblinden, wenn es nur durch das Licht geschieht. Seine Augäpfel reißen auseinander. Die Szene zerfällt in tausende winziger Teile. Erlischt, verstummt. Zerbricht – ganz so wie seine Gitarre.
Er packt den Stamm an einer Aushöhlung und einem Zweig. Rüttelt und zerrt daran. Tritt gegen das Holz. Stemmt all sein Gewicht dagegen. Ignoriert den brennenden Schmerz in seinen blutenden Händen. Etwas knirscht neben ihm im Sand. Seine Hände verlieren den Halt, als der Baum nachgibt und walzend nach vorn über rollt. Marlins Reaktion ist zu langsam. Seine Schienenbeine und Knie werden kurz nach hinten gedrückt, bevor sie den ganzen Körper mit sich nach unten reißen. Sein Hinterkopf prallt auf das Wasser und schließlich auf harten Sand. Eine Welle nimmt ihm die Sicht auf die Regentropfen, die ihm wie Schläge auf das Gesicht knallen. Der Schmerz explodiert. Er schreit. Das Wasser erstickt es. Der Stamm erstarrt in der Bewegung. Hält seine Füße und ein Schienenbein fest unter sich begraben. Marlin stützt sich auf die Arme. Adrenalin kitzelt unter seinem Brustkorb, als er bemerkt, dass sich seine Füße nicht befreien lassen. Danach eine schnelle Resignation in Form eines friedlichen Lächelns. Er saugt ein letztes beherztes Mal die Luft ein und fällt vor Erschöpfung seufzend zurück ins Wasser. Schließt die Augen. Die Drogen lassen seine Phantasie kreisen. Er findet es schön, jetzt einzuschlafen.
Marlin tanzt auf Natalias Strandfeier. Ein Heer aus nackten Körpern umringt ihn. Sie tanzen um ein Feuer, das flackerndes blutfarbenes Licht über der Szenerie ausgießt. Seine Zunge tastet Zähne an seinem Gaumen, die scharf sind, wie Rasiermesser. Aus seinen Händen sprießen Haare. Seine Fingernägel werden schwarz. Langsam formt sich die Hand zu einer Klaue. Seine Oberschenkel werden breiter und breiter - platzen aus der reißenden Hose. Er schreit auf. Findet sich in einer Masse aus Zähnen, Fell und hungrigen Augen. Die Welt besteht aus Monstern. Es riecht nach faulem Fleisch. Er reißt an den Haaren, die überall aus seinem Körper sprießen. Doch sie wachsen schneller nach, als er sie vernichten kann. Der kochende Ekel lässt ihn laut aufbrüllen. Ein tiefer Schrei, in dem er seine eigene Stimme nicht erkennt. Die Szene erstarrt – nur für einen Augenblick. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Muskeln zum zerreißen Gespannt. Er hat sich zu erkennen gegeben und wird nun dafür bezahlen.
Grunzend stürzen sich die Leiber auf ihn. Schlagen ihre Zähne in sein Fleisch. Ein Spinnenartiges Wesen fegt die Anderen mit langen Gliedmaßen, die mit schwarzem Fell bedeckt sind, bei Seite. Stürzt sich klammernd auf ihn. Stumm schreit Marlin auf. Es jagt einen bepelzten Stachel tief in seinen Brustkorb. Etwas gleitet hindurch. Marlins Schreie werden erstickt, als er spürt, wie etwas Fremdartiges in seine Lungen dringen möchte.
Er reißt die Augen auf. Eine neue Welle verschleiert den Himmel über ihm. Etwas sticht in seiner Brust. Der Atem bleibt blockiert über der Kehle stehen. Der krampfhafte Husten kann das Wasser nicht mehr ausreichend heraus schleudern. Ein letzter Reflex, sich aufzusetzen. Wieder schlägt die Brandung erbarmungslos zu und wirft seinen Kopf zurück auf den Grund. Der lehmartige Sand scheint Marlins Körper schmatzend einzusaugen. Immer kürzer wird das Aufblitzen des Himmels über ihm. Immer schneller türmt sich das Wasser über seinem Gesicht auf. Die Wahrnehmung verengt sich auf ein unscharfes flackerndes Bild auf einer zerrissenen Leinwand. Er schließt die Augen und lächelt.
Ein zweifarbiges Foto seines Vaters dringt in Marlins erlischende Gedanken. Das einzige Foto, was er von ihm kennt. Matt, ausgebleicht. Und doch erschreckend in der Ähnlichkeit des Blickes. Plötzlich stößt Farbe hinein. Marlin sieht sein eigenes Gesicht, doch es erblasst schnell wieder. Wandelt sich in eine andere Form. Die Haare seines Vaters werden pechschwarz. Die Augen verlieren an Dunkelheit. Stieren ihn an. Der Blick umfängt ihn, wie das kalte Wasser über seinem Körper. Sattes helles Blau. Victors schiefes Lächeln tritt auf das Gesicht. Immer wieder bäumt sich der Blick von Marlins Vater in ihm auf. Er steht im Wohnzimmer des Ferienhauses. Natalia kniet vor ihm. Ihre Zunge fährt an seinem Penis hinauf, umkreist seine Eichel. Ihre Hände mit den schwarzen Fingernägeln kneten ihre Brüste, auf denen klebriges Sperma glänzt. Sie fährt damit in ihren Schritt. Schließt die Augen. Reißt ihren Mund stöhnend auf. Führt die nassen Finger in sich ein. Er fährt mit seinem Schwanz so tief in ihren Mund, dass sie unter einem Würgereiz zu zucken beginnt. Ihre Brüste wippen dabei leicht auf und ab. Speichel tropft an ihrem Piercing hinab. Doch sie umschlingt seinen Körper fest mit der anderen Hand. Möchte nicht, dass er zurück weicht. Sie ist versessen auf den Geschmack. Gierig - auf ein Biest.
Eine Hand schlingt sich um Marlins rechten Unterarm.
Die feste Umklammerung ist wie ein Elektroschock, der mit einem kräftigen Schlag auf sein erlahmendes Herz einprügelt. Es zu neuem Tempo antreibt. Marlin wird nach oben gerissen. Gregors Gesicht ist eine Fratze des Entsetzens und der Erschöpfung. Seine bunten Haarsträhnen sind komplett durchnässt. Durch seinen geöffneten Mund dringt keuchender Atem. Seine Wangen glühen. Er muss den ganzen Weg gerannt sein. Marlin hustet. Spuckt Wasser. Der Husten wird so stark, dass es für ein paar Minuten nichts anderes zu geben scheint als das Stechen seiner krampfenden Rippenmuskeln. Gregors Arm ist um seinen Kopf gelegt. Plötzlich hört Marlin seine Stimme. Sie hat keinerlei Ausdruck, weil sie keinen passenden findet. Gregor stammelt einfach die Worte hinaus, während er mit der anderen Hand unter Marlins Bein im Sand zu graben versucht. Macht Pausen, um schwer zu atmen. „Was um Himmels willen machst du hier? Was soll das alles? Bitte, bitte sag es mir.“ Seine Tränen gehen im Regen unter, als er an Marlins Schultern rüttelt. „Sag es mir, verdammt nochmal!“ Er legt seinen Kopf auf Marlins Schulter. „Ich will dir doch nur helfen.“
Marlin starrt für einen Moment auf das Holz des Baumes. Danach geradewegs hindurch. „Ich will dir helfen,“ wimmert Gergor.
„Ich bin das Ergebnis einer Vergewaltigung in einem Parkhaus. Mein Vater sitzt im Gefängnis. Meine Mutter hat sich getötet, als ich drei Monate alt war. Wegen mir.“
Marlin wendet seinen Kopf nach links. Gregors Augen sind weit aufgerissen. Marlin spricht weiter. „Ich bin ein Fehltritt der Evolution. Ich trage es in mir. Von meinem Vater. “
Gregor rührt sich nicht. Marlin blickt auf das Wasser, was ihre beiden Körper erneut umspült. Hustet noch ein paar Male. „Ich darf nicht leben.“ Er schaut Gregor tief in die Augen. Legt eine Hand auf seine Schulter. „Lass mich einfach hier. Ich bin jetzt mutig genug, um es zu tun.“
Gregors Hände krallen sich in seinen Hinterkopf. Er drückt Marlins Stirn an seine eigene. Zwischen seinem abgehackten Atem stößt er die Worte aus. Gerade so laut, dass Marlin sie versteht. „Krieg diese scheiß Drogen aus dir raus.“ Eisiger Wind schüttelt sie. Ihre Körper erzittern. „Zum Teufel, krieg sie aus dir raus. Sie sind der einzige Grund, warum du diesen Bullshit glaubst!“
Marlin greift sachte an sein Kinn. Bewegt ihre Köpfe ein wenig von einander weg. Lächelt. Schaut geradewegs durch Gregor hindurch. „Nein, es ist ok.“
Seine Schultern werden geschüttelt. Gregors Stimme sticht in Marlins Ohren. „Überhaupt nichts ist ok.“ Gregor packt fester zu. „Marlin! Ich kann dir helfen.“
Marlin lässt seinen Kopf im Nacken liegen. Starrt in den fallenden Regen. Eine heranbrausende Welle spielt mit seinen schlaffen Armen. Gregors Umarmung hüllt ihn in sich ein. „Marlin ...“
Gregor umklammert das Handgelenk an Marlins Arm, den er über seine Schulter gelegt hat. Mühsam zieht er den humpelnden Körper neben sich her. Viel mehr ist Marlin nicht mehr. Sein Kopf hängt schlaff herab. „Du hattest so verdammtes Glück,“ zittert Gregors Stimme, „dass dieser elende Stamm dich nicht noch mehr eingeklemmt hat. Wäre es nur ...“
Plötzlich erstarrt der Körper neben ihm. Marlin stemmt die Beine in den Sand. Hebt mühsam seinen Kopf. Seine Augen sind so schwarz wie der Himmel. „Nein,“ flüstert er. „ Ich habe verdammtes Glück, dass es dich gibt. Nur das.“
Sie stehen aufeinander gestützt im Regen. Gregor kann seine erschöpften Arme kaum oben halten. Ein Gefühl hatte ihn hinter Marlin her getrieben. Er hatte das letzte aus seinen vor Schmerz pochenden Beinen herausgeholt.
Victor - 13. August
Sein Lachen war wie ein Schlag auf alles, was ich für wahr und richtig hielt. Ich spürte, wie Marlin darunter zusammenzubrechen drohte. Victor und Miguel saßen neben einander auf einem Sofa. Die Bong vor ihnen qualmte noch. Miguel stimmte für einen kurzen Moment in Victors Gelächter ein, doch verstummte schon nach wenigen Sekunden. Er sprang auf. Hechtete auf uns zu. Seine Augen rasten zwischen Marlin und mir hin und her. „Are you ok? What happened?“
Steinern sah ich in seine Augen. Antwortete auf Englisch, dass er Marlin in sein Zimmer bringen und bei ihm bleiben solle. Eis für das Bein sei in der Küche. Miguel zitterte, so dass die Perlen in seinen Haaren klapperten. Er blickte noch einige Male zurück, als er Marlin in sein Zimmer schleppte.
Victor lag auf der Seite. Sein Grinsen versteinert. Er lachte gepresst. „Was is' denn los? Hat er sich beim Wichsen verletzt? Also, er soll sich nicht beschweren, keine anständige Vorlage gehabt zu haben.“
Sein Lachen erlosch, als ich seine Haare packte. Ihn daran nach oben zerrte. Ich schlug in seine überraschte Fratze. Wieder und wieder. Wenn er versuchte, sich zu schützen, schlug ich seine Arme beiseite. Er hatte nicht meine Wut in sich. War von den Drogen zu sehr mitgenommen, um sich zu wehren. Ich konnte erst aufhören, als das Blut über sein ganzes Gesicht verteilt war und warm an meinen Händen klebte. Erst in diesem Moment begriff ich, dass er noch immer ein Mensch war. Ein Mensch, den ich einmal sehr gemocht hatte. Ich streifte klatschend einige seiner schwarzen Haare von meinen Fingern. Noch niemals vorher hatte ich einen Menschen geschlagen. War das richtig? Es war mir egal. Am liebsten hätte ich noch weiter gemacht.
Victor kauerte vor mir auf dem Sofa. Hielt ein Knäuel aus Verband unter seine Nase, welches sich langsam mit rotem Blut vollsaugte. Er saß dort schon seit geraumer Zeit in dieser Position. Starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Sagte keinen Ton. Ich hatte ihm den Verband aus dem Kasten im Badezimmer geholt. Ihm alles erzählt, was ich gehört und gesehen hatte. „Er hat sich wegen dieser Scheiße fast umgebracht,“ schloss ich ab. „Herzlichen Glückwunsch – ich hoffe, du bist jetzt endlich glücklich.“
Für Minuten saß er einfach nur da. Nahm schließlich den Verband von seinem Gesicht. Ich hätte mich beim Klang der Stimme fast erschrocken, die laut aus Victors Kehle drang. „Was kann ich dafür, wenn er seinen scheiß Illusionen nachjagt?“ Er tupfte noch einmal an seiner Nase. Sie war nicht gebrochen – ich bereute es schon fast. Die Blutung hatte aufgehört. „Wenn's ihn so belastet, dann soll er den Scheiß einfach nicht an sich rankommen lassen. Keine dieser verfickten Bitches ist so eine scheiße wert. Sie sind alle absolut gleich.“ Er setzte sich auf. Starrte in den Raum. Tränen vermischten sich mit seinem Blut. „Die können nicht so fühlen wie er und wollen das auch nicht. Die können damit nicht umgehen – alles, was die wollen ist ein primitiver Prolet, der Stärke markiert, sie durchvögelt und im Idealfall noch Geld heran schafft.“
Ich dachte an Katharina. Mir wurde warm. Beim Gedanken an ihre Grübchen musste ich immer lächeln. „Also bei mir ist das nicht so, Victor.“
Seine Antwort kam schnell. Wie ein vernichtender Schlag. „Pah!“ Er lachte laut auf. „Auch wenn du mir jetzt wieder auf die Fresse hauen willst – sie ist auch nur eine, die du auf meiner Geburtstagsfeier besoffen abgeschleppt und geknallt hast. Das ist die Basis und die Essenz von allem – mehr existiert nicht. Hast halt den Fehler gemacht, sie nicht abzuschieben und sie wird den Teufel tun, sich von dir zu trennen, so lange du bei Extreme Compromise spielst. Das verschafft ihr nämlich in ihrem durchtriebenen Zickenumfeld enormes Ansehen und viel Neid.“ Victor machte eine wegwerfende Geste. „Verlierst du diesen Status – oder sie findet was gesellschaftlich höheres – Peng! Die sind da ganz rational – während du an irgendwelchen Scheiß glaubst und denkst, sie mag dich, weil sie dich ja menschlich so unheimlich toll findet.“
Ich machte mir wirklich einmal die Mühe, mich damit auseinander zu setzen. Ich erkannte, dass die Theorie an vielen Stellen sogar aufging – das bestätigte Victors Erfolg. Es machte mir wenige Probleme, mir vorzustellen, dass es wirklich so sein sollte. War es so, wie es Victor sagte? Ich lächelte.
„Ja Victor,“ sprach ich, „Ich glaube da an ein paar Sachen. Mag sein, dass die nicht richtig sind. Aber ich träume von Dingen. Von Liebe und vielleicht sogar von Revolution und einer besseren Welt. Und ich weiß, dass ich mich auch gleich umbringen könnte, wenn ich damit aufhören würde. Und unsere Musik gleich mit.“
Sein Blick bohrte sich in meinen. Ich fragte: „Wann hast du aufgehört, von etwas zu träumen?“
Er schaute wieder quer durch den Raum. Schindete Zeit, weil er wusste, dass ich es weiß. Aber ich wollte, dass er es sagte und den Schmerz fühlte. „Anna,“ sprach er. Ich sah ihre blonden Locken im Wind wehen. Sah vor mir, wie sie sich immer auf Victors Rücken festklammerte. Seine Augen glitzerten. „Sie war das einzige, was mir jemals etwas bedeutet hat.“
Ich sah sie im Beifahrersitz eines Audi TT nach der Schule davon fahren. Der Junge Manager mit der Designersonnenbrille hinter dem Lenkrad. Wie er sie jeden Tag antrieb, schneller zu machen. Die Gier nach einem schnellen Fick schimmerte durch die dunklen Gläser der Brille. Ich sah, wie Victor sich Tag für Tag zwang, seinen Schulweg so zu legen, dass er auch sehen konnte, wie sie zu ihm ging und aus seinem Leben fuhr. Nur Damit er sie noch einmal für ein paar Sekunden sehen konnte. Denn er hatte sie früher oft stundenlang einfach nur angesehen.
„Hey,“ sagte ich und er wendete seinen Kopf zu mir. „Dass dir diese Sache alles zerstört hat, ist schlimm,“ sagte ich. „Aber du kannst nicht andere kaputt machen, nur weil du darüber einfach nicht weg kommst.“
Victor schlug die Hände vor das Gesicht. Ich sah seine Tränen trotzdem. „Ich will nicht darüber hinweg kommen.“ Er wimmerte. „Ich will einfach nur kalt und stark sein.“
„Siehst du,“ zischte ich. „Und das ist dein verdammtes Problem. Deswegen säufst du dich jeden Abend in den Schlaf. Du kannst vielleicht ein Manager oder Zuhälter, aber kein Künstler in unserer Band sein, wenn du an nichts davon glaubst.“ Ich rückte zu ihm und riss die Hände von seinem Gesicht. Starrte in seine Augen. „Marlin,“ sagte ich und wartete einige Sekunden. „Marlin hat an etwas geglaubt und von vielen Sachen geträumt. Und du hast es ihm heute Abend weg genommen.“ Ich schaute weg, ließ ihn los. „Vielleicht hast du ihm das Wichtigste genommen, was er besaß.“
Victors Augen klebten an mir. Ich erhob mich von der Couch und stampfte in Richtung Treppe. Ohne mich umzudrehen setzte ich nach: „Lass mich mit deiner ekelhaften sozialdarwinistischen Nazischeiße in Ruhe, die du dein Menschenbild nennst. Dann kann ich dir vielleicht verzeihen. Bete, dass Marlin das auch kann. Gute Nacht.“
Ich kaurte auf meinem Bett und weinte. Ich zog die Knie näher an meinen Körper. Sollte ich Katharina schreiben? „Scheiße!“ Stieß ich aus und knallte das Handy auf den Nachttisch. Es würde nichts nützen. Ich schaute auf meine Hände. Sie konnte mir nicht helfen. Wenn ich die Band zerbrechen lies, würde ein Stück von mir mit zerbrechen. Ich zitterte am ganzen Leib.
Interludium – Stimme
„Wie lange warst du gestern noch bei ihr?“
„Bis um drei oder halb vier.“
„Sie war um acht schon wieder wach, als ich zur Arbeit gefahren bin.“
Lindas Finger klammerten sich sanft um das Handgelenk ihrer Tante, als diese das Buch zuschlagen wollte. In Lindas Augen leuchtete der Wunsch nach einer weiteren Geschichte.
„Bitte Linda, mir fallen die Augen zu. Ich kann nicht mehr – bitte versuch zu schlafen.“ Ihre Finger zupften an der Bettdecke. Streichelten über die wachen leuchtenden Augen des Mädchens.
Es war doch erst die zweite Geschichte. Linda würde noch mindestens drei Stunden wach sein, ehe sie die Erschöpfung so weit übermannte, dass sie dem Schlaf nicht mehr widerstehen konnte. Drei Stunden allein im Dunkeln. Eine glitzernde Träne rollte über Lindas Wange. Verlor sich in einer weißen Haarsträhne. Das Seufzen ihrer Tante drang durch den Raum. Das Buch wurde geöffnet.
Der kleine Zeiger der Uhr stand auf fünf. Der Himmel färbte sich über dem Meer allmählich rot. Das Geschirr vom Abendessen stand in der Spüle. Es war der gleiche Kampf, den Linda jeden Tag mindestens zweimal auszufechten hatte. Ihr Onkel saß vor ihr am Tisch. Pappschachteln klapperten in einem kleinen Körbchen in seiner Hand. Eine Packung wurde von ihrer Tante aufgerissen. Ein Glas Wasser auf die Tischdecke mit roten Blumen gestellt. Eine bunte Kapsel daneben gelegt.
Ihre Tante fuhr mit ihrer warmen Hand durch Lindas Haare. „Bitte Kind. Du kannst besser schlafen, wenn du sie nimmst. Wenigstens diese eine.“
Sie wollte nicht schlafen, wenn es dunkel war. Sie wollte nicht schlafen, wenn Robin nicht auf sie aufpasste.
Linda rückte den Stuhl immer weiter nach hinten, wenn man die Tabletten zu nahe an sie heran legte. Mama hatte diese Dinger auch immer essen müssen. Sie war gestorben. Linda sah die Maschine und die Schläuche. Die tödliche Umklammerung der Fangarme und das Geräusch von fressenden Zähnen an ihren Enden. Sie sah ihre eigenen Haare ausfallen.
Die Augenlider ihrer Tante waren wund gescheuert. Glänzten noch immer. Ihr Onkel erhob das Wort. „Sie muss die Tabletten nehmen, damit die Behandlung anschlägt.“
Ihre Tante wimmerte leise. Ihr Blick verlor sich in den gestickten Blättern und Blüten auf der Tischdecke.
Ihr Onkel rückte auf der Sitzbank näher an ihren Stuhl. Alle Muskeln in Lindas Körper spannten sich. „Du musst die Tabletten nehmen, um wieder sprechen zu können.“
Und was ist, wenn sie überhaupt nicht sprechen wollte? Ihre Finger krallten sich außen an die Sitzfläche des weißen Stuhls. Robin war nicht da, um ihr zu sagen, dass sie wieder sprechen konnte. Sie vertraute niemand anderem. Niemand anders hatte sie je beschützt.
Die Hand ihres Onkels griff nach den Pillen – es war endlich vorbei. Sie atmete bereits entspannt aus, doch etwas Unerwartetes geschah. „Los, nimm sie! Ich will nicht mehr, dass es dir schlecht geht!“ schrie er, so dass ihr auf der Stelle auch Tränen in die Augen schossen. Er streckte die Hand nach ihr aus. Die Tabletten unter ihr Gesicht. Ihr Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Sie hörte das Gebrüll ihres Vaters. Roch den stechenden Alkohol.
„Nein!“ Schrie ihre Tante. „Hör auf!“
Linda riss die Arme nach oben, schützte ihr Gesicht. Der Stuhl stürzte um. Sie flüchtete in die Dunkelheit. Saß auf den kalten Fliesen unter dem Tisch. Die Arme um die Knie geschlungen. Den Kopf darin vergraben. Die schrille Stimme ihrer Tante. Danach ihre Hände auf Lindas Rücken. Ein unaufhörliches Streicheln, welches nicht durch die taube Hülle des gebrochenen Körpers zu dringen vermochte. Der warme Atem löste sich vor Lindas Gesicht in kaltes Nichts auf. „Du musst die Tabletten nie mehr nehmen. Du nimmst sie, wenn du sie nehmen willst. Du sprichst, wenn du sprechen willst.“
Linda spürte die Schritte ihres Onkels, der aus dem Raum stürzte. Das Knallen einer zugeschlagenen Tür irgendwo im Haus ließ sie unter der Umarmung ihrer Tante zusammen zucken.
Drei – 14. bis 17. August
Es gab zweifelsohne Bands, die zu dritt ausgezeichnet funktionierten – die schlechter wären, wenn sie ein zusätzliches Mitglied aufnehmen würden. Es gab sogar Künstler – und damit waren nicht die gepushten Marionetten der heutigen Popkultur gemeint - die allein am besten funktionierten.
Wir standen in unserem Aufenthaltsraum. Victors Finger rasten über das Griffbrett seiner Gitarre. Er spielte gut genug, um einen Solopart und eine Rhythmusbegleitung gleichzeitig abzudecken. Viele Laien hätten nicht einmal mitbekommen, dass es nur eine einzige Gitarre war, wenn er spielte. Gewöhnlich fielen den Leuten bei diesem Anblick fast die Augen aus dem Gesicht. Seine Stimme klang vernichtend. Färbte die Musik der Band kompromisslos in seine Farbe. In eine perfekte saubere Farbe.
Unser Sortiment an Songs, welches ohne Marlins Pert auskam, reduzierte uns. Zwang uns sogar, auf Songs zurück zu greifen, die wir längst aussortiert hatten. Niemand traute sich zu erwähnen, dass wir zu dritt niemals die geplante Zeit des Auftritts abdecken konnten. Ich schielte hinüber zu Marlins Tür. Sie war meistens abgeschlossen. Wirkte wie ein schweres Steintor.
Miguel und ich pushten Victors Energien. Wurden Sklaven eines Frontmannes, zu dessen Ideen eine unheimliche Distanz bestand. Die Schläge auf Miguels trommeln trieben ein dreibeiniges Pferd, das vom Schlachtfeld humpelte, um sein Leben zu retten. Den Reiter hatte es irgendwo auf dem Weg verloren. Man wartete nur noch, bis es stürzte.
Marlin lief jeden Morgen zum Strand. Immer pünktlich um zehn Uhr. Wir schaufelten wortlos einige Cornflakes neben einander am Küchentisch. Tranken zum Schluss die süße Milch aus den Schalen. Dann schaute er mir einmal kurz in die Augen – er benötigte dazu eine Willenskraft, die er wohl stundenlang vorher in sich aufbauen musste. Nickte mir zu. Er tat das, damit ich mir keine Sorgen machte. Ihm nicht folgte. Gegen sechzehn Uhr kam er wieder. Wir grillten meistens am Abend und Miguel stellte ihm dann immer einen Teller mit Steak, Würstchen und einigen Klecksen seiner Lieblingssoßen vor die Tür. Klopfte und entfernte sich. Miguel kannte seine Lieblingssoßen. Genau so, wie er sehr gut um den Streit wusste, von dem ihm niemand etwas erzählte. Marlin holte sich das Essen ein paar Minuten nach dem Klopfen in seinen Raum. Danach klickte es erneut in seinem Schloss. Er bedankte sich jeden Morgen am Frühstückstisch bei mir, wenn er Geschirr und Besteck wieder mit in die Küche brachte und abspülte, obwohl wir eine Spülmaschine hatten. Victors vorsichtigen Versuch, Marlin seine Gitarre zum spielen zu leihen, hatte dieser mit einem ausweichenden Blick, schnellem Kopfschütteln und einer noch schnelleren Flucht nach draußen abgeschmettert. Seit ich Marlin kannte, war nie ein Tag in meiner Erinnerung vergangen, an dem er keine Gitarre angefasst hatte. Miguel erzählte mir eines Morgens von einem flüchtigen Blick, den er am Abend zuvor in Marlins Zimmer geworfen hatte. Von der fertig gepackten Reisetasche auf dem Fußboden.
Jeden Abend in meinem Bett pressten die brennenden Gedanken Tränen aus meinen müden Augen, bis ich davon so erschöpft war, dass ich auf dem blendenden Display des Handys nach Katharinas Namen suchte. Sie fragte mich immer, ob etwas nicht stimmte, weil es meist schon so spät war. Doch ich erzählte ihr, dass alles in Ordnung sei – wir nur lange probten. Ob sie mir glaubte? Ich wollte nur, dass sie von ihrem Tag erzählte. Ob sie etwas gelesen hatte, wie das Wetter und das Essen war und ob es ihren Eltern und Geschwistern gut ging. Ihre Worte verschwanden, doch ihr Klang zog in mich. Umarmte mich und hielt mich fest. Gab mir beruhigende Kraft. Genug Kraft, um zu schlafen und zu glauben, morgen einen Ausweg zu finden – der sich doch nie offenbarte.
Strand
Die Sonne rast Tag für Tag brennend über ihn und den toten Baum hinweg. So schnell, dass sie Marlin bald wie eine flammende Klinge vorkommt, die immer wieder schneidend durch seine Gedanken fährt und nur eine gesichtslose Glut zurück lässt. Er weint nicht mehr, denn alle Bilder haben niemals existiert. Es gibt nichts mehr zu vermissen – genau wie damals, vor der Musik. Es gibt keinen Ast mehr, an den man sich lehnen kann, seit der Baum nach vorn über gerollt ist. Der Stamm stützt sich nur noch mühsam auf das Gemisch aus kleinen harten Muscheln und nassem Sand. Scheint darin zu versinken. Wasser spült um Marlins Knöchel, als er die toten Zweige berührt, um sich an ihnen nach oben zu ziehen. Es kommt ihm so vor, als ob die Wellen den Baum Tag für Tag weiter in die See ziehen würden. Er fragt sich, was wohl unter den glitzernden Reflektionen liegt – weit, weit draußen im Blau. Marlin möchte den Baum begleiten und mit ihm untergehen, wenn das weiße Holz vom Wasser morsch geworden ist.
Die Hände des Mädchens finden einen halt an zwei kleinen Stummeln abgebrochener Äste. Sie steigt hinauf und stellt sich hin. Ihr Haar flattert in langen hellen Strähnen um ihren Körper. Es ist nicht, wie die Tage davor. Am ersten Tag hatte sie die Geste der Gitarre in die Luft gemalt und Marlin aus den verständnislosen Augen angefunkelt. „Sie ist kaputt,“ hatte er gesagt. Seitdem klettert sie zwar immer noch neben ihm auf den Baum, doch blickt einfach nur stumm in die Wellen. Kein Anlehnen mehr. Keine Regung auf dem Gesicht. Kein Lächeln und kein Weinen. Nur ein denkender nach innen gerichteter Blick. Der leere Himmel gespiegelt in den Augen, unter denen sich tiefe dunkle Ränder entlang ziehen. Sie schläft nicht mehr. Sie kommt jeden Tag gegen elf Uhr, bleibt bis um eins, kommt um zwei zurück und geht, wenn es kurz vor vier ist. Doch nicht heute. Sie steht auf dem Stamm und lässt ihren Blick nicht von ihm. Marlin sieht sie an. Ihre Beine zittern unter dem weißen Kleid. Sie hält sich nur schwer in einem wackeligen Stand. Ein Lachen huscht über ihr Gesicht und sie nickt. Marlin streckt ruckartig seine Arme nach ihr aus, als sie links vom Stamm hinab springt. Platschend kommt sie im seichten Wasser auf. Noch bevor Marlin fragen kann, ob alles in Ordnung ist, stapfen ihre Füße aus der Brandung und sie rennt in Richtung Wald. Nasse Abdrücke im Sand zurück lassend.
Akustikgitarren sind keine schweren Instrumente, doch als sie auf den Strand zurückkehrt, geht sie leicht gebeugt unter dem Korpus, der auf ihrer Schulter ruht. Sie hält den Hals mit beiden Händen fest umklammert. Der Aufkleber einer schwarzen Vogelsilhouette auf dem Holz wippt beim Gehen auf und ab. Marlin reißt seinen Blick von ihr. Starrt auf das Wasser, welches ihn glitzernd blendet.
Pochend schlägt das Holz der Gitarre auf den Baumstamm. Sie klemmt das Instrument zwischen einigen Zweigen notdürftig fest, damit sie beide Hände benutzen kann, um auf den Stamm zu klettern.
Sie zieht sich hoch. Ihr Gesicht ist gerötet, sie atmet schwer. Ihre Füße mit den weißen Sandalen balancieren auf Marlin zu, während sie die Gitarre vor sich hält. Sie streckt ihre Arme nach Marlin aus. Er bleibt regungslos sitzen und schaut auf das Wasser. Sie stößt ihn mit dem Instrument leicht gegen die Schulter. Marlins Hände spannen sich. Die Prozedur wiederholt sich einige Male. Ihre Hände zittern bereits, weil die Gitarre so schwer in ihnen wird.
Marlin wendet seinen Kopf zu ihr. Ihr Kleid ist bis zu den Knien durchnässt. Auch ihre Haare haben an den Spitzen im Wasser gehangen und es in einigen kleinen Flecken an das Kleid weiter gegeben.
Seine Gesichtsmuskeln sind verkrampft. Seine Fäuste geballt. „Warum?“ presst er heraus. Verliert seine Blicke wieder in der weiten der See. „Das ist genau so sinnlos, wie der Rest von mir.“
Der Korpus schlägt auf das Holz. Ihre Haare fliegen vor ihre Augen, aus denen einige glitzernde Tränen dringen. Sie schlägt den Kopf nieder und schluchzt. Ihre Lippen zittern. Öffen sich, schließen sich. Formen unsichtbare Worte.
Langsam hebt sie ihren Kopf. Ihre Augen tasten über ihn. Über seinen erstarrten Körper und das abgekehrte Gesicht. Sie stürzt auf die Knie und zieht immer wieder schnell die Luft ein.
Marlins Kopf zuckt kurz in ihre Richtung, doch er zwingt sich, weiter geradeaus zu blicken. Die Wellen rauschen auf ihn zu. Ganz so, als wollte die See ihn von sich drücken. Die Sonne sticht in seinen Augen. Schließlich blickt er nach links. Das Mädchen klammert sich an die Gitarre. Presst den Kopf an das Holz. Sie kneift die Augen zusammen, von denen dünne Tränenbäche abfließen.
Seine Hände legen sich um ihre. Die Finger des Mädchens sind kalt. Er wartet, bis sie nicht mehr zittern.
„Die wurde ja schon ewig nicht mehr benutzt.“ Marlin fährt mit den Fingerspitzen über die rostigen Saiten. Schlägt einen Akkord. Es klingt wie ein tiefes Jauchzen. Seine Finger umschließen vorsichtig die Mechanik. Drehen. Die Saite quietscht unter dem erhöhten Zug und Linda schlägt die Hände vor die Ohren. Marlin lehnt sich zurück und hält den rechten Arm zum Schutz zwischen sein Gesicht und die Saiten. „Na, wenn das mal gut geht.“ Vorsichtig dreht er weiter. Immer damit rechnend, dass die schreiende Saite im nächsten Moment reißen und gegen seinen Arm schnappen könnte.
Es klingt wie ein letztes Ächzen, als Marlin die tiefe E-Saite schließlich auf den richtigen Zug bringt. „So,“ flüstert er und bringt seine Hände in Position. Zupft ein langsames Riff, doch stoppt abrupt. Überrascht blickt er auf, als er – trotz der abgenutzten Saiten - die Klarheit und Kraft hinter den Tönen bemerkt. Er schaut zu Linda hinüber. „Ist 'ne gute Gitarre. Deine?“
Es fühlt sich an, als ob seine Eingeweide zerreißen, als sie den Kopf fallen lässt und leise wimmert. Tränen fallen auf das sonnengetrocknete Holz. Sie schüttelt heftig den Kopf. Marlin streicht vorsichtig über ihre Stirn. Sie zuckt vorerst vor der Bewegung zurück, bewegt sich dann jedoch wieder seiner Hand entgegen. Sie krabbelt vorsichtig auf ihn zu. Legt ihren Kopf an seine Schulter. Er streichelt ihre Wange und flüstert zu ihr: „Ich lasse dich nicht allein.“ Sie reibt ihren Kopf an ihn. Ihr Atem wird langsamer. Auf Marlins Gesicht formt sich ein Lächeln. Das erste seit Tagen. Er spürt Tränen in seinen geschlossenen Augen, als er den Hals der Gitarre umklammert.
Marlis Fingerspitzen malen Linien auf das Holz, als sie durch die dicke Schicht aus Staub streichen. Das Instrument fühlt sich seltsam vertraut in seinen Händen an.
Marlin legt seinen Kopf nach links. Spürt Lindas Haare an seiner Wange. Stellt sich vor, wie ihre Stimme wohl klingen mag. Ihre Stimme. Sie hatte niemals gesprochen. Die Musik wird nicht länger von seinen Händen kontrolliert.
Die Töne reißen Marlin und Linda in den langen Traum zweier Vergangenheiten. Einen Alptraum, der sich jeden Tag und jede Sekunde in ihnen wiederholt. Ein Meer aus Bildern, die all das sind, was sie „Ich“ nennen. Die Angst brennt in jedem Atemzug. Droht, sie unter sich zu begraben. Doch da ist noch die Berührung ihrer Köpfe. Der Beweis, dass der Weg sein Ende hier am Meer gefunden hat, ohne sie im Gestern zu verschlingen. Die Straße verfließt in der Weite, die sich lockend vor ihnen ausspannt. Über allem liegen die Töne, die durch das Dunkel geleitet haben. Die Melodien aus Robins Zimmer. Die Melodien, die schon damals aus Victors Gitarre zu Marlin gedrungen waren, als er ihre Sprache noch nicht verstand.
Für einen Moment existiert kein Gestern mehr. Sie sitzen auf dem weißen Stamm. Öffnen die Augen und blicken versessen ins Blau. Linda blinzelt noch einige Male, bevor ihre Augen geschlossen bleiben. Marlin spürt die reine Luft in seiner Lunge. Spürt die Sonne auf seinen Fingern, die sich ständig in Bewegung befinden. Er versteht nicht, was in der Ferne auf ihn wartet. Linda seufzt leise im Schlaf und schmiegt sich so eng an ihn, dass er Schwierigkeiten hat, überhaupt noch die Bünde auf dem Griffbrett zu erreichen, weil sein Arm schon fast an seinem Körper anliegt. Ihr Atem verbindet sich mit seinem. Er versteht nur, dass es gut ist, dass er neben ihr auf diesem Baumstamm sitzt. Dass er auf dieser Gitarre spielt. Dass es schlecht wäre, wenn es ihn jetzt nicht geben würde. Er ist versessen auf noch mehr Atem, der nach dem Meer schmeckt, noch mehr Sonne und die nächste Welle, die an das Holz des Baumes prallt. Er kann nicht erwarten zu sehen, wie die Sonne den Horizont berührt und die Sterne über ihm tanzen lässt. Morgen, übermorgen, nächstes Jahr. Wie wird sich Lindas Lachen anhören? Wie wird sich das Lachen seiner Kinder anhören?
Die Musik schenkt ihm eine Antwort, die er noch nicht begreifen kann. Er weiß nur, dass sie richtig ist.
Er weiß, dass es richtig ist, zu leben.
Die Musik aus der Gitarre ist lange verstummt. Marlin streichelt wieder und wieder über Lindas Stirn. Flüstert ihr manchmal zu, damit sie im Traum nicht vergisst, dass er noch da ist. Seine Haut hat von den langen Stunden mit ihr einen dunklen Ton angenommen. Selbst nach dem ersten Tag, an dem er über ihren Schlaf gewacht und der Sonnenbrand ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte, war er niemals auf den Gedanken gekommen, sie einfach allein zu lassen. Er lächelt, als sie zaghaft die Lider öffnet und blinzelt. Wie hatte er sie nur all die Tage allein lassen können? Und jetzt muss er es schon wieder sagen: „Ich kann leider morgen und übermorgen nicht kommen. Schaffst du es, auch ohne mich einzuschlafen?“
Wenn sie lächelt, strahlt ihr ganzes Gesicht. Er sieht sich in ihren Augen. Sie nickt. Ihre Stimme ist zart. Nicht ganz so hoch, wie er erwartet hat.
„Es ist so schön, dass du nicht mehr traurig bist.“
Generalproben – 18. und 19. August
Wir hatten knappe fünfundzwanzig Minuten zusammen. Ich las die Liste mit den Songs, die wir spielen würden so lange, bis die Worte alle Bedeutung verloren hatten. Wir saßen auf den Sofas. Miguel und Victor nippten beide an einem Bier. Ich hatte meinen Bass mit mir genommen. Spielte wieder und wieder die Riffs des Liedes „Schism“ von „Tool“. Victor schüttelte seinen Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Greg, kannst du bitte was anderes spielen, als den Psychokram? Wenn ich an das Video denke, werd ich zum Freak.“
Wir hatten fünfundzwanzig Minuten Musik – zwanzig weniger als vorgesehen. Niemand sprach.
Miguel schaute auf seine Armbanduhr. „Wo ist Marlin?“
Ich schreckte hoch. Wir hatten den ganzen Tag geprobt. Hatten wir ihn vergessen? Victor nahm einen großen Schluck Bier und schaute nach unten. Ich griff mir in die Haare. Wo war er? „Dreck,“ sagte ich. Meine Hand riss das Handy aus meiner Tasche. Zitternd scrollte ich durch das Telefonbuch. Drückte auf seinen Namen. Das Bild der Reisetasche aus Miguels Erzählung schnürte mir den Atem ab. Es stach in meiner Brust, als ich an den Morgen des Tages dachte. Die vergessen geglaubte Erinnerung der knallenden Haustür, die ich im Halbschlaf gehört hatte, sprang aus meinem Unterbewusstsein hervor. Es fuhren nur so früh am Morgen und noch einmal gegen zweiundzwanzig Uhr Züge in Richtung unserer entfernten Heimatstadt.
Mit jedem Piepen des Freizeichens schlug mein Herz schneller. Nach dem fünften Mal verstummte es, bevor das schnellere Signal einsetzte. „Er hat mich weg gedrückt.“
Victor massierte seine Schläfen. „Scheiße,“ flüsterte er.
Ich war im Begriff aufzuspringen, als die Vordertür aufgerissen wurde.
Marlin stand im Eingang. Er trug eine Gitarrentasche in seiner Rechten. Ich war paralysiert. Konnte mich nicht bewegen. Für endlose Sekunden stand er einfach dort. Musterte jeden von uns mit einem durchdringenden Blick.
Auf Marlins Züge stahl sich ein vorsichtiges Lächeln. „Was glotzt ihr so? Hab ich in der Nachbarstadt gekauft – die Busse fahren vielleicht scheiße.“ Er legte die Tasche auf den Boden und öffnete den Reißverschluss. Er grinste und förderte eine schwarz lackierte Gitarre ans Tageslicht. „Das ist 'ne Stagg – war auf vierzig Euro runter gesetzt. Mordspreis! Hab die neulich für hundert irgendwo gesehen.“
„Ne Stagg?“ war das einzige, was ich heraus bekam.
Miguel brach neben mir in wildes Lachen aus, sprang auf und stürmte auf Marlin zu. Dieser empfing ihn mit geöffneten Armen. Schaute mich über Miguels Schulter weiter an. „Ja Mann, ich weiß. Aber ich hatte grad' nicht die tausendvierhundert Euro für 'ne Ovation Elite in der Tasche.“
Schließlich konnte auch ich aufstehen und auf ihn zugehen. Ich griff an Miguels Kopf vorbei und legte meine Hände auf Marlins Schultern.
Marlin sprach weiter: „Wird wohl nichts mehr mit 'nem neuen Song, aber ich hab' wenigstens ein Instrument zum üben. Für den Auftritt muss ich mir dann wohl Eine leihen.“
Ich wagte es nicht, den Song über Natalia zu erwähnen. Für mich zählten keine Kritiken mehr, die uns schlecht dastehen ließen, weil wir nichts Neues brachten. Für mich zählte nur das Bild von vier Freunden auf einer Bühne. Extreme Compromise.
Eine Stimme erhob sich im Hintergrund. So dünn und unsicher, wie ich sie nie gehört hatte.
„Doch, wir können es schaffen,“ sagte Victor. „Ich bastel schon seit drei Tagen an 'nem Song.“
Wir wendeten unsere Köpfe. Seine blauen Augen hatten sichtlich Probleme, unserem Blick stand zu halten. Er schaute nur Marlin an. „Aber ich brauch' deine Hilfe. Wenn du es noch willst. Wenn du mir verzeihst, meine ich.“
Marlins lächeln erlosch. Wir nahmen unsere Arme von ihm. Er tat einige Schritte auf Victor zu. Er humpelte noch ein wenig, wegen des verletzten Fußes. Nickte zögerlich. „Versuchen wir's,“ sagte er. „Fangen wir gleich an.“
Es gab kein Händeschütteln und keine versöhnenden Worte. In Marlins Augen glimmte immer wieder eine Spur von Hass, als er Victor betrachtete. Als er die ersten Riffs und Textpassagen hörte. Als er Victor sagte, dass es gut war, aber einige Stellen nannte, die man verbessern müsste. Als sie wieder zusammen lachten. Als sie zusammen anstießen, bevor sie Bier tranken. Selbst als sie kurz vor fünf Uhr am Morgen einen Joint in unserem Vorgarten hin und her reichten und der aufsteigenden Sonnenglut dünne Rauchschwaden entgegen hauchten, jagten immer wieder Schauer von Schmerz über Marlins Gesicht.
Wir schliefen nur vier Stunden, denn uns rannte die Zeit davon. Die Riffs und Akkordfolgen des Liedes wiegten mich in den Schlaf, begleiteten mich durch die Träume und weckten mich wieder auf. Eine Art magnetischer Wirkung zog uns um zehn Uhr im Wohnzimmer zusammen. Wir aßen nur in unseren kleinen Pausen von maximal zehn Minuten. Uns war vollkommen klar, dass die kleinste Verzögerung den Plan ruinieren konnte. Von uns ergriff das fanatische Verlangen Besitz, das jeder Künstler kannte, der einmal einer Vision nachgejagt war, die langsam vor ihm zum Leben erwachte. Einen Traum lebendig werden lassen – ihn vor sich wachsen zu sehen. Keine bloße Phantasie – eher ein mächtiges Werkzeug aus Botschaften, das in den richtigen Händen Gedanken verformen konnte. Es machte mich süchtig.
Gegen dreizehn Uhr stand ich mit Miguel zusammen und stimmte einige Schlagzeugparts im Pre-Chorus mit denen auf meinem Bass ab. Wir versuchten jede Sekunde mit Energie zu laden.
Victor und Marlin saßen auf einem Sofa. Kritzelten Verse auf das Papier eines Schreibblocks. Rational arbeiteten sie ihre Ängste und tiefsten Empfindungen ab. Versuchten sie in die Form zu pressen, ohne sie zu zerstören. Immer wieder nahmen sie ihre Gitarren und sangen die Parts. Sortierten wertlose Emotionen aus. Erbarmungslos ehrlich. Das Lied handelte von Freundschaft, die auseinander brach.
Die Melodie absorbierte uns. Wir wurden das Lied.
Als wir einen neuen Probedurchgang starteten, klopfte es an der Tür. Ich legte meinen Bass auf ein Sofa, machte ein paar Schritte und presste die Klinke herunter. Eine Frau mit blonden Haaren blickte mich an. Ich schätzte sie auf mitte dreißig. Ich wollte sie schon fragen, ob sie sich nicht in der Tür geirrt hatte, als sie sagte: „Guten Tag. Wohnt hier ein Marlin?“
Ich nickte und zog die Augenbrauen zusammen. „Ja, er ist da hinten. Kommen sie doch ... “
Sie ließ mich nicht zu Ende sprechen, sondern drängte sich einfach an mir vorbei. Lief auf die drei jungen Männer zu. „Marlin?“ fragte sie in die Runde.
„Ja?“ fragte Marlin und lehnte seine Gitarre gegen einen Stuhl.
Die Frau sah ihn an. Ihr Mund zitterte. In ihren Augen glänzten Tränen. „Ich bin Lindas Tante.“
Marlin erwiderte nichts. Sie sahen sich nur endlose Sekunden an. Stotternd sprach sie weiter. „Sie, sie hat gestern das erste Wort seit Jahren gesprochen. Sie hat ein paar Sätze von dir erzählt, und …“
Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper der Frau. Sie rannte auf Marlin zu und schlang ihre Hände um seinen Hals. Tränen flossen ihre Wangen hinab. Immer wieder das Wort „danke“, als sie ihn so fest umarmte, dass ihm fast die Luft weg blieb.
Wir Anderen drei blickten uns nur fragend an. Als sie gegangen war, schirmte sich Marlin gegen jede Frage wortlos ab. Wir respektierten es.
Erst spät am Abend – als die letzten Verse des neuen Liedes und das letzte Outro des dreiviertelstündigen Probedurchganges gespielt waren – bewegten sich Marlins Augen langsam auf jeden Einzelnen von uns zu. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht. Seine Stimme kratzte ein wenig vor Heiserkeit. „Darf ich euch von der Frau von vorhin erzählen?“ Die Lieder dröhnten noch immer in unseren Köpfen. Marlin schaute ins Leere.
„Ja, natürlich.“ traute ich mich schließlich zu sagen. In Wirklichkeit hatte ich schon den gesamten Nachmittag darauf gebrannt.
Marlin nickte versunken ließ sich schlaff auf eines der Sofas fallen. Er berichtete von Ihrer und von unserer Rettung. Ich wünschte, ich hätte Linda irgendwann einmal dafür danken können.
Strand
Das Intro der beiden einsetzenden Gitarren, das aus den Verstärkerboxen dröhnt, zerrt an der ruhigen Stimmung, die die vorherige Band in ihrer Show aufgebaut hat. Leute Applaudieren und erheben sich von Decken und mitgebrachten Liegestühlen. Starren auf die vier jungen Männer, von denen die meisten noch nie etwas gehört haben. Abrupt verstummen die drei Saiteninstrumente. Für den Bruchteil einer Sekunde hört man das sanfte Rauschen der Brandung. Miguels Hände fahren auf die Trommeln herab. Die Bewegungen werden in der Geschwindigkeit, in der er den Break schlägt, fast unsichtbar. Alle Herzen halten für diese Sekunden an, um schließlich zusammen mit den drei anderen Instrumenten in den Song zu rasen.
Eine Welle aus Jubel verschlingt alle Gespräche. Victors Finger huschen über die Saiten der Akustikgitarre, die an einem Gurt vor seiner Hüfte hängt. Die jagenden Töne aus seinem Solo sind wie Funken, die in eine Lache aus Benzin fallen. Marlins Stimme fegt schreiend über sie hinweg. Der Sand entzündet sich unter den Füßen der Menge aus knapp fünfhundert Leuten. Gregor schließt seine Augen und fühlt jedes Instrument um sich. Reitet auf den Wogen des Beifalls, der in seine Ohren dringt, wann immer in ihren Liedern eine Pause Zeit zum atmen lässt.
Die Scheinwerfer hüllen die Band in heißes orangefarbenes Licht. Marlins Wangen glühen. Schweiß glitzert auf ihnen – er muss kurz vor dem verdunsten sein. Marlin schließt seinen Gesangspart ab. Sein zerrissener schwarzer Schuh – einer seiner „Glücksschuhe“, wie Gregor wusste - erhebt sich von den Brettern und fährt wieder hinab, als würde er ein Insekt zertreten. Victor lächelt, als er die Geste bemerkt. In der Originalversion des Songs legt Marlin an dieser Stelle mit einem Fußschalter einen anderen Effekt auf seine elektrische Gitarre. Victors Stimme erhebt sich über den Strand. Marlin und Gregor wandern gemeinsam an den vorderen Rand der Bühne. Schlagen rücken an Rücken die Saiten ihrer Instrumente. Sie starren über die springende Menge, hinter der sich die See aufbäumt. Die Lichter einiger einsamer Schiffe leuchten in der Weite. Gregor und Marlin baden in den Zurufen, den Blicken und den antreibenden Gesten. Ihre Haare fliegen im Rhythmus des Songs durch die schwüle Nachtluft. Marlin springt zwei Schritte zurück und hechtet vor sein Mikrofon. Seine Stimme fährt in Victors Gesang wie ein Dämon, der die Seele eines Berserkers besetzt.
Gregors Finger führen die tausendfach einstudierten Bewegungen aus. Zupfen und bändigen die vier dicken Basssaiten. Seine drei Freunde sind neben ihm in die Knie gegangen. Das Solo ist stets der letzte Part ihrer letzten Zugabe – seit sie zum ersten Mal zusammen auf einer Bühne gestanden haben. Die Tänze werden langsamer. Der Jubel erstickt die Ruhe. Acht Hände erheben sich, um ihn aufzufangen.
Einer nach dem Anderen wendet sich um, um zu gehen. Marlin bleibt als Letzter zurück. Sein Blick ist hungrig. Mindestens ebenso hungrig, wie die Menge, die ihm Rufe nach Zugabe entgegen schmettert. Gregors Schritte stoppen. Er blickt über die Schulter. Erkennt, wie sich Marlins linke Hand um den Hals seiner Gitarre schließt.
Das Intro eines Songs, der nie wieder gespielt werden sollte, gleitet den Wellen entgegen. Reißt alles mit sich, was ihm auf seinem Weg in die Tiefe in die Quere kommt. Miguel und Victor richten ihre Augen auf ihre Instrumente. Gregors Hände halten sie zurück. Er schüttelt den Kopf. Marlins Augen sind geschlossen. Die Menge wie erstarrt.
In der Schwärze seiner Gedanken sieht er Natalia durch die versteinerten Gestalten schreiten. Er wartet angestrengt auf einen Blick von ihr – doch ihre Augen sind in der Weite fixiert. Sie geht bis hinunter zur Brandung, die sich müde um ihre Füße legt. Schließlich läuft sie weiter den Strand hinauf, bis sie von der Dunkelheit verschlungen wird.
Outro
„Erzähl mir von deinem Bruder, Linda.“ Marlins Hand streichelt durch ihr Haar. Wind wirbelt es durcheinander. Das Licht lässt ihn seine Augenlider zusammen kneifen. Linda schluchzt neben ihm. Atmet einige Male schnell aus und ein. Marlin beugt sich zu ihr herunter. „Hey,“ sagt er mit weicher Stimme. Marlins Knie versinken im feinen warmen Sand und seine Augen sind auf gleicher Höhe mit Lindas Gesicht, über dessen zarte Haut eine dünne Träne rollt. Immer wieder weichen ihre Blicke den dunklen Augen aus, bis sie schließlich daran hängen bleiben. Sich festhalten. Sie umschließt Marlins Kopf mit ihren Armen. Er spürt die Tränen auf ihrer Wange. Ihre flüsternde Stimme scheint in der warmen Brise fast unterzugehen. „Er war genau wie du. Er hat gespielt, wie du.“
Sie tun die letzten Schritte durch das Wäldchen. Marlin biegt ein paar Zweige zur Seite, damit Linda leichter hindurch gehen kann. Sie hechtet auf den Strand und schaut kurz zu ihm zurück. Ein überraschtes Glänzen liegt in ihren wässrigen Augen. „Er ist noch weiter rein gerollt!“ sagt sie und deutet mit ihren dünnen Fingern der rechten Hand auf den weißen Baumstamm. Ihre Linke legt sich in Marlins Hand. Die Wellen zerren schäumend an dem mächtigen Gerippe. „Komm, setzten wir uns nochmal hin – ich trag dich über das Wasser,“ sagt Marlin und Kniet sich hin, damit Linda auf seine Schultern klettern kann.
Sie legt vorsichtig eine dünne Hand auf seinen Rücken. Reißt den Kopf noch einmal zu dem Baum herum und schließlich wieder zu ihm zurück. Ihre Haare tanzen vor ihren Augen. Sie schüttelt mit dem Kopf. „Lassen wir ihn lieber gehen,“ sagt sie. Marlin blickt für einige Sekunden schweigend auf den Stamm. Eine Welle kracht an das Holz und lässt rauschendes Wasser empor fliegen.
Er legt den Kopf ein wenig schräg und nickt. „Ja, du hast Recht.“
Ein Lächeln stielt sich auf Lindas Züge und sie tritt von einem Fuß auf den anderen. Sie sieht ihm nicht in die Augen. „Trägst du mich trotzdem?“
Marlin lacht entspannt und macht eine heranwinkende Geste. „Klar, trag ich dich.“
„Konzert – 20. August,
… Ich sah Marlin dabei zu, wie er die letzte Strophe des Liedes spielte. Meine Hände zupften den Basslauf in der Luft mit. Aber es war nicht unser aller Song. Wir drei anderen hatten kein Recht, ihn jetzt mit ihm zusammen zu spielen. Wir hätten ihn zerstört. Die Schreie aus dem Publikum umschlossen den letzten ausklingenden Akkord. Marlin drehte sich um, ohne sich noch einmal zu verbeugen – ohne noch einmal ein Dankeschön an das tobende Publikum zu richten. Sein Kopf war nach vorn gebeugt. Ein paar Tränen hatten sich mit dem Schweiß gemischt. Der Jubel und die Rufe nach immer mehr Zugaben züngelten um ihn wie Feuer, das an trockenem Holz nagte. Er lief in unsere Arme.
„Oh Mann, das war der Wahnsinn,“ schrie ich und schüttelte seine Schultern.
Miguel wuschelte seine Haare. „Marlin, du bist der King!“
Victors Mimik war wie versteinert. Er schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung?“ war das einzige, was er zu Marlin sagte. Miguel und ich verharrten in unseren Positionen. Langsam hob Marlin den Kopf.
Seine Blicke trafen Victors Augen. Sie sahen in sich hinein. Marlin nickte. Als er sich nach uns anderen umschaute, lächelte er.
Victor atmete laut aus. „Unglaublich, was aus dir geworden ist. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne dich auf eine Bühne zu gehen.“ Sagte er. Ich horchte auf. Victor machte keine Komplimente – wir wussten das alle und hatten uns eigentlich damit abgefunden, immer „ noch verbesserungswürdig“ zu sein. Ein langer Handschlag und ein endloser Blickaustausch mit Marlin folgten seinen Worten. Der Name unserer Band wurde gebrüllt, als sich die nächste Gruppe – Jade Sun aus England, der „main act“ - an uns vorbei auf die Bühne schob. Ein Lächeln stahl sich auf Marlins Gesicht. „Danke.“
Auch Victor gestattete sich jetzt einen freudigen Gesichtsausdruck. „Du wolltest ja nicht mehr mit feiern kommen. Ich hoffe, du hast dir das jetzt noch mal anders überlegt. Die sind ausgerastet – was meinst du, was passiert, wenn du da jetzt rein gehst!“
Marlin nickte. Sein Lächeln löste sich ein wenig auf. Er stützte die Gitarre vor sich auf den Boden. „Ja, so krass wie heute war’s noch nie. Ob’s je wieder so geil wird?“
Wir schwiegen. Wir waren in einer abgeschlossenen Zelle aus Stille. Kein Applaus und kein Zuruf drang mehr zu uns durch. Marlins Augen irrten umher, als würde er irgendetwas suchen. Ich konnte Natalias Bild in ihnen fast sehen …“
Gregor stößt ein genervtes Seufzen aus und fährt mit zitternden Fingern durch seine bunte Haarpracht. Die letzte Seite in seinem roten Tagebuch ist bis auf den letzten Zentimeter beschrieben. Er kritzelt die Worte „fast sehen.“ hochkant neben den Text.
„Ich hasse es,“ flüstert er und schaut in die dunklen Augen von Miguel, der ihm direkt gegenüber sitzt. Marlin und Victor schlafen – die Köpfe an die Fensterscheibe des Zugabteils gelehnt. „Immer wenn man noch so viel zu sagen hat, ist’s alle.“ Noch ein Seufzen.
„Kann man nichts machen,“ sagt Miguel. Ein Lächeln huscht über Gregors Gesicht, als er seinen Akzent hört. Das Radio unter ihrem Sitz spielt „Mr. Tambourine Man“ von „Bob Dylan“.
Gregor sachte im Rhythmus des Liedes mit und sieht zu, wie nun auch Miguel die Augen zufallen. Die letzte Nacht hat an ihnen gezehrt. Echos von tausend Stimmen irren durch Gregors erschöpfte Gedankenbahnen. Die Fans, die Leute vom Radio, die Feier – „du lieber Gott, die Feier,“ denkt Gregor und schmunzelt … und natürlich Marlin. Marlin – Gregor streift sein Gesicht vorsichtig mit einem Blick. Bildet er es sich ein, oder lächelt Marlin im Schlaf? Die Erinnerungen an gestern legen sich wie ein beruhigender Balsam auf Gregors rasende Gedanken. Der Zug wird langsamer und hält schließlich an. Es ist ein Zwischenstopp, doch kein Bahnhof ist weit und breit zu sehen. Gregor späht durch das Fenster auf einen Strand, der nicht weit von der Strecke entfernt liegt. Keine Menschen sind auf den Dünen auszumachen. Nur tanzende rote Mohnblumen in saftigem Gras umgeben von feinem goldenen Sand und weicher Brandung. Er spürt sich an der Grenze einer neuen Etappe, die irgendwo in der verblauten Ferne weit hinter den Wasserflächen aus tanzenden Wellenbergen zu liegen scheint. Doch nicht mehr heute. Heute ist Frieden. Er liest noch einmal ein paar Zeilen aus dem Tagebuch. Marlins Lied erklingt in jedem Wort des Textes. „Ob’s je wieder so geil wird?“
Gregor gähnt und bemerkt, wie nun auch seine Augenlider schwerer werden.
Er beobachtet die weißen Schaumkronen auf dem Wasser und die wiegenden Grasbüschel. Irgendwo in der letzten Strophe des Songs bleiben seine Augen geschlossen. Er spürt noch gerade so, wie sich der Zug sanft in Bewegung setzt.
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Take me disappearin' through the smoke rings of my mind,
Down the foggy ruins of time, far past the frozen leaves,
The haunted, frightened trees, out to the windy beach,
Far from the twisted reach of crazy sorrow.
Yes, to dance beneath the diamond sky with one hand waving free,
Silhouetted by the sea, circled by the circus sands,
With all memory and fate driven deep beneath the waves,
Let me forget about today until tomorrow.
- Bob Dylan
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