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Bleibende Spuren

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16.08.2003
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Bleibende Spuren

Jutta ist schon immer pathetisch gewesen, fast ein wenig theatralisch. Jutta war, wie sie war, und wir blieben entsprechend gelassen, als sie damals nach der Trennung von Kevin am Nordseestrand stand und mit versteinertem Gesicht den Wellen verkündete: „Kevins Spuren werden sich für immer durch mein Leben ziehen.“

Andrea und ich sahen uns skeptisch an, Ulf verabschiedete sich kopfschüttelnd in Richtung Auto, Matthias erkannte die Gunst des Momentes und legte tröstend einen Arm um Jutta. Damals ahnten wir nur, dass wir Kevin in den folgenden Jahren nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen sollten, bereits an diesem Tag spürten wir keine bleibenden Eindrücke von Kevin in Juttas Leben. Kevin war weg, genau genommen ging es nur um wenige Wochen, in denen er überhaupt da gewesen war. Ansonsten war alles beim Alten.

Wir gingen zur Uni, fanden unsere ersten Jobs, Ulf und Andrea heirateten, die Männer kamen, die Männer gingen, in Juttas Leben und in meinem, Matthias war einer von ihnen, erst in ihrem, dann in meinem.

Als Kevin schließlich Jutta über den Weg lief, war es Frühjahr. Jutta erzählte mir später, sie kam mit den Gemüseeinkäufen aus dem Bioladen; Kevin trug unter einem Arm seine Bratsche, unter dem anderen seine Notenmappe. Als Kevin Jutta über den Weg lief, dachte jeder, Kevins Spuren waren längst verblasst, überlagert von Matthias’, wenn nicht völlig ausradiert. Ausradiert aus Juttas Gedanken, Gefühlen, ihrem Leben, und somit auch aus unserem.

„Jutta hat Kevin gestern zufällig getroffen, vor dem Bioladen“, erzählte ich Ulf am Telefon.
„Welchen Kevin?“, fragte mich Ulf.

Kevins erste sichtbare Spur war die Bratsche unter der Garderobe in Juttas Wohnung, die zweite ein ständiges Pfeifen aus einem der Zimmer, mal der Radetzkymarsch, mal die französische Nationalhymne, mal etwas mir völlig Unbekanntes. Spätestens als eine zweite Zahnbürste auf dem Waschbecken lag, hatten wir verstanden: Kevin war wieder da, und Kevin wollte bleiben. Kevin, der seine Haare nun etwas länger trug, der Bratsche im Orchester des Musiktheaters spielte, der immer noch überall in der Wohnung halb volle Teetassen stehen, angebissene Äpfel liegen ließ.

„Wie kommt es, dass Kevin wieder da ist?“, fragte ich Jutta eines Samstags, nachdem wir in der Innenstadt einen Schlafanzug für Ulfs und Andreas Tochter gekauft hatten und einen Kaffee in Juttas Küche tranken.
„Wieso?“, fragte Jutta mich verwundert und öffnete eine Dose Kekse. „Hab ich dir doch erzählt, wir haben uns neulich vor dem Bioladen in der Heinestraße getroffen.“
„Und dann?“
„Keine Ahnung. Wir haben uns unterhalten, er hat mir die Einkäufe nach Hause getragen und ist geblieben.“
Ich wartete vergeblich auf die Fortsetzung ihrer Erklärung, irgendeine dramatische Feststellung, Jutta sagte: „Soll ich Milchschaum machen?“ und „Wir hätten doch lieber den Roten nehmen sollen, das Gelb wird farblos an Lisa wirken.“
Die Haustür öffnete sich, er hatte also bereits einen Schlüssel. Kevin schmiss die Sporttasche in die Ecke, schlurfte in die Küche, sagte „Hi“ und nahm sich einen Keks.
„Hi Kevin“, antwortete ich, „Hi“, sagte Jutta, während sie den Aufschäumer in Gang setzte. Kevin setzte Jutta seine Kappe auf den Kopf, küsste sie in den Nacken, Jutta lächelte.
„Ich geh duschen“, sagte Kevin und pfiff Greensleeves beim Verlassen der Küche.

Es wurde Sommer, wir radelten an den Rhein, Kevin war stets unser Begleiter, cremte uns den Rücken ein, grillte unsere Würstchen, flocht Jutta Blumenketten und drapierte sie in ihre neue Kurzhaarfrisur. Wir tranken Wein, er trank Bier, musizierte mit Ulf und spielte mit uns Frisbee, schob Lisa durch den Waldpark.

Eines Tages im Herbst, im September oder Oktober, war Kevin dann verschwunden. Ich kann mich nicht an den genauen Tag erinnern, weil es mir zunächst gar nicht auffiel, möglicherweise eine ganze Zeit lang nicht. Jutta verlor kein Wort darüber. Als wir Lisas ersten Geburtstag feierten und Jutta alleine auf dem Balkon stand, auf den Wasserturm starrte und sich weder an unseren Gesprächen beteiligte, noch sich zum Kaffeetrinken zu uns gesellte, fragte ich die anderen: „Weiß jemand, wo Kevin ist?“
„Vielleicht im Bad“, vermutete Ulf, die anderen schauten in die Runde und zuckten die Achseln. Ulf holte frischen Kaffee, jemand packte mit Lisa Geschenke aus, Andrea und ich gingen zu Jutta auf den Balkon. Schließlich fragte Andrea: „Wo ist eigentlich Kevin? Keine Lust auf Geburtstag?“
Jutta schwieg einen Moment, bevor sie antwortete: „Kevin ist doch weg.“
„Wie, weg?“, fragte ich und schob die Balkontür zu, drinnen stürzte ein Turm aus Bauklötzen in sich zusammen.
„Weg.“
„Seit wann?“
„Seit kurzem.“
„Habt ihr euch gestritten? Wo ist er denn hin?“
„Keine Ahnung. Reisende soll man nicht aufhalten, nicht wahr?“
Jutta schob uns sachte zur Seite und ging hinein zu den anderen.

Kevin war weg, ansonsten war alles beim Alten. Draußen wurde es Winter, Lisa begann zu laufen, ich wechselte den Job und Jutta ging es glaube ich nicht schlecht. Am Anfang waren wir oft bei ihr, Andrea und ich, gingen mit ihr ins Kino, joggen, lenkten sie ab, ohne zu wissen, ob das nötig war. Dann ging alles seinen gewohnten Gang.

Eines Sonntagabends, als wir gemeinsam den Tatort schauten, musste ich sie einfach fragen.
„Bist du traurig, dass Kevin weg ist?“
„Wieso?“, entgegnete Jutta und schaute mich nicht an. Einige Minuten später holte sie sich ein Glas aus dem Schrank.
„Willst du auch ein Bier?“, fragte sie, pfiff den Radetzkymarsch und ging in die Küche, irritiert schüttelte ich den Kopf.
„Manche Spuren bleiben, auch wenn sie nicht ständig nachgezogen werden“, sagte Jutta, als sie zurückkehrte. Sie ließ sich auf die Couch sinken. „Und manche Fäden werden wieder aufgenommen, sei es auch Jahre später.“

An diesem Abend sprachen wir zum letzten Mal über Kevin. Dennoch suche ich jedes Mal nach der Bratsche unter Juttas Garderobe, wenn ich ihre Wohnung betrete, und habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass das Pfeifen nicht von ihm stammt.

 

Hi Juschi,

beeindruckend, wie du diese unspektakuläre Geschichte so erzählst, dass sie trotzdem in ihren Bann zieht. Einfach ein Stück Leben in seinem Verlauf und seiner Wechselhaftigkeit.
Da bleibt mir gar nicht viel Konstruktives zu sagen außer, dass es mir gefallen hat.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Juschi,

kann mich der Meinung von sim nur anschliessen. Man liest die Geschichte trotz fehlender Überraschungsmomente mit Spannung zu Ende. Sehr schön finde ich, dass Du in der Geschichte am Schluss beschreibst, wie Du in Juttas Wohnung jedes Mal nach der Bratsche suchst und Dich nicht daran gewöhnen kannst, dass es sich nicht um Kevins Pfeifen handelt. Damit hast Du meines Erachtens zwei Sachen abgehandelt, die man am meisten vermisst, wenn ein Mensch nicht mehr da ist: Gegenstände und Eigenheiten des Gegangenen.
Gut gemacht :thumbsup:

was mir bislang aufgefallen ist:

Wir gingen zu Uni, fanden unsere ersten Jobs, Ulf und Chrissie heirateten, die Männer kamen, die Männer gingen, in Juttas Leben und in meinem, Matthias war einer von ihnen, erst in ihrem, dann in meinem.

- Wir gingen zuR Uni
- nach "heirateten" und "in meinem" fände ich Punkte besser, ist aber Geschmacksfrage
- ich fände "die Männer kamen und gingen" eleganter

MfG
palerider

 

Hej Juschi,

der geschriebene Beweis, dass gute Geschichten keinen Höhepunkt, keine knackige Schlusspointe, kein Überraschungsmoment brauchen. Du erzählst aus dem Leben zweier Menschen, die zusammengehören und deren Leben doch nicht immer parallel laufen. Wie einfach. Und wie wahr.
Vielleicht sollten wir alle hin und wieder nach einer Bratsche Ausschau halten.

Sehr gerne gelesen. :)

Liebe Grüße
chaosqueen

 

Hallo ihr drei,

na, das ging ja mal schnell.

Danke für´s Lesen und Loben, freut mich. Ja, ich weiß, mal wieder ohne viel Handlung und Turbulenz, umso schöner, dass es nicht störend wirkt sondern so wie geplant.

@palerider: Herzlich Willkommen hier. Danke für den Fehler, der ist mir irgendwie durchgegangen. Den Rest des Satzes werde ich aber so belassen, Du schreibst ja selbst, dass das eine Geschmacksfrage ist. Trotzdem danke für die Vorschläge.

@chaosqueen: Interessant, dass du den Eindruck hast, diese Menschen würden zusammen gehören. Keine Ahnung, ob dem so ist. Und vielleicht geht es nicht nur um die sichtbaren Bratschen, sondern gerade um die Spuren, die sich unter keine Garderobe stellen lassen.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Juschi,

eine richtig tolle Geschichte, die du so normal und unspektakulär geschrieben hast, dass sie mich absolut faszinierte. Deine Personen leben. Deine Personen reden wie Menschen und handeln wie Menschen. Die Handlung ist klug konzipiert, deine Worte unterwerfen sich dem einen Ziel, sie behutsam zu entfalten. Ja, da ist eine Handlung, das habe ich ganz bewusst geschrieben.

Hat mich echt begeistert, denn es zeugt von Können, Alltäglichkeit so interessant, unterhaltsam und lebensecht einzufangen. Nur an einem einzigen kleinen Punkt geriet ich kurz ins Stocken:

Spätestens als eine zweite Zahnbürste auf der Badezimmerablage lag

Bin ich zu pingelig?

Egal, ich empfehle mich ... nee, dich!

Grüße von Rick

 

hallo juschi

also:

der sim meinte, mir würden deine geschichten gefallen. und als ich just heute eine lesen wollte, hatte der rick auch schon eine empfohlen. das nenn ich teamwork!

also geb ich dir hier auch noch mal ein mega fettes Lob für diese geschichte, hoffe mal, das du noch aktiver benutzer von kg.de bist, und lese bald bestimmt mehr von dir.

das eine geschichte gut ist, merkt man beim lesen dann, wenn man gar nicht mehr weiß, ob man sich gerade im hauptteil, noch am anfang oder schon am ende befindet, wenn man gar keine lust mehr hat, auf rechtshreib - und stilistische Fehler zu achten, das analytische, mit dem man hier ja von natur aus an die sache geht, ausgeschaltet wird, und nur noch ließt, sich dann sogar noch ärgert, das es vorbei ist.

und das war hier bei mir so.

also sim: recht gehabt. besten dank.

und beste güße

 

Tolle Geschichte.
Du hast einen wunderbaren Erzaehlstil.
Liebe Gruesse
filzi

 

Ja, hat mir in ihrer Einfachheit auch sehr gut gefallen, die Geschichte. Was soll man mehr dazu sagen?
Grüße, Rodion.

 

Hallo Rick, Aris, filzi und Rodion,

auch euch herzlichen Dank für eure Rückmeldungen, freut mich. Schön, dass es mir gelungen ist, diese alltäglichen Geschehnisse ansprechend zu erzählen und die Personen lebendig geworden sind.

@Rick: Ja, hast du Recht, werde ich mir was anderes einfallen lassen für die Formulierung. Danke auch für die Empfehlung - das passiert interessanterweise immer bei den Geschichten, bei denen man es nicht erwartet hat.

@Aris: Ja, aktive Benutzerin schon, wenn auch leider nicht mehr so viel Zeit zum Lesen, Kommentieren und erst Recht nicht zum Schreiben. Aber ich arbeite dran und bis dahin findest du genug Älteres von mir.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Hallo Juschi,

ich kann mich den Lobeshymnen den anderen auch nicht ganz anschliessen und sehe es ähnlich wie Nachtschatten.
Der Stil hat mir sehr gut gefallen, auch die Stimmung die du gerade damit erzeugst. Dafür ein großes Lob.
Auch inhaltlich hat es mir gut gefallen, das was du damit sagen möchtest, hat mich sehr berührt.
Meine Kritik zielt auch in Richtung der Charaktere - die könnten für meinen Geschmack noch etwas tiefer, lebendiger sein. Momentan finde ich sie noch zu austauschbar.

Liebe Grüße, Bella

 

Hallo Nachtschatten, hallo Bella,

das ist schön, dass ihr mich wieder zurück auf den Boden holt. ;) Danke sowohl für euer Lob bezüglich des Erzählstils, als auch die kritischen Worte in Sachen Inhalt bzw. Prots.

Hm. Lebendig sollten eigentlich zumindest Jutta und Kevin werden. Schade, dass das bei euch nicht angekommen ist. Mal sehen, ob ich da noch die eine oder andere Eigenschaft und Details ergänzen kann. Die anderen sind natürlich absichtlich blass, die Erzählerin hat nur die Funktion einer Beobachterin. Teilweise waren allgemeine Beschreibungen (Studium, Jobs, Heirat) auch bewusst dazu gedacht, die Alltäglichkeit auf der einen und das Besondere durch Kevin auf der anderen Seite deutlich zu machen.

Liebe Grüße
Juschi

 

Ich muss mich da noch einmal zu Wort melden, weil ich die Kritik von Bella und Nachtschatten einfach nicht verstehe. Was heisst "austauschbar"? Mit wem "austauschbar"?.

Ich finde, dass Jutta allein im ersten Absatz so klar und deutlich beschrieben wird, das es eigentlich keiner weiteren Ergänzung bedarf, WAS sie für ein Mensch ist. Eine wirklich klare und gute Beschreibung eines Charakters.

Und Kevin wird fein und behutsam charakterisiert, man erfährt Kleinigkeiten über ihn, Nuancen, einer, der immer auf der Durchreise ist vermutlich, und ich habe ihn als Figur auch so verstanden, dass die anderen ihn eher nur aus der Distanz kennen und beschreiben, weil eigentlich keiner so ganz genau weiß, wer er ist. Ich fand es gut, ihn durch seine Bratsche zu skizzieren, durch angebissene Äpfel, halb ausgetrunkene Tassen, er bleibt etwas geheimnisvoll, wirkt cool und lässig und ist als Typ genau passend beschrieben. Eben nicht zu ausführlich.

Das ist gerade das starke an dieser Geschichte! Juschi, wehe du änderst etwas daran, dann zerstörst du dieses grandiose Gleichgewicht in deiner Beschreibung und dann ziehe ich meine Empfehlung zurück (war nur ein Spaß!).

Aber mich würde mal wirklich konkret interessieren, gegen wen oder was Jutta und Kevin (und nur auf die kommt es ja an) austauschbar (?) wären. Vielleicht kann ich das durch etwas konkretere Erklärung besser verstehen und gleich auch noch etwas lernen. Danke.

Grüße von Rick

 

Hallo Nachtschatten,

nein, es ist völlig ungefährlich, ich kritisiere bella und dich ja nicht, sondern hinterfrage lediglich eure Kritik, weil ich sie nicht verstehen konnte. Mir bringt es wertvolle Einsichten, wenn das, was ihr bemängelt habt, noch etwas genauer erklärt wird - deshalb dachte ich: Frag einfach mal nach!

Wir werden da wohl auch nicht auf einen Nenner kommen. Was du z. B. zu der Charaktersierung Kevins schreibst, sehe ich tatsächlich gänzlich anders. Es wird für mich deutlich, dass die Erzählerin diesen Kevin kaum kennt. Sie weiß nicht mal, wie alt er genau ist. Insofern ist es folgerichtig und korrekt, ihn nur anhand seiner Eigenarten zu beschreiben, und die sind wirklich gekonnt und treffend gewählt.

Die Figur Juttas wird durch den ersten Absatz als recht plastischer Charakter eingeführt und im Lauf der Geschichte mit kleinen, fasten nebensächlichen Hinweisen immer intensiver geschildert. Das sind scheinbar Nebensächlichkeiten, die ich ebenfalls sehr geschickt platziert sehe.

Das zu den Personen.

Darüber hinaus behaupte ich mal, dass die Figuren zwar eine Rolle spielen, klar, aber dass es in der Geschichte um etwas mehr geht, als nur darum. Das hat mir schon allein der Titel verraten. Es geht um die Eigenart bestimmter Beziehungen, um das Unergründliche, wie Menschen damit umgehen und um diesen schleichenden Prozess, dass derjenige, der bleibt, immer etwas von dem annimmt, der geht. Schön auch in der Kritik von palerider so beschrieben.

Mich hat es deshalb interessiert, warum bella und du noch mehr Tiefe bei den Prots vermisst habt. Zumal man bei vielen anderen Geschichten (ich weiß, wovon ich rede!) oft Kritiken liest, die den Autoren raten, sich in seinen Schilderungen und Charakterzeichnungen etwas zurückzunehmen. Juschis Geschichte war für mich eine echte Offenbarung, was das betrifft. Aber Geschmäcker glücklicherweise verschieden. So soll es ja auch sein. Und es ist eine spannende Angelegenheit zu verfolgen, wie unterschiedliche Texte reflektiert werden. Das ist das, was ich mir unter einem gut funktionierenden Forum vorstelle! In diesem Sinne

Love & Pace

Grüße von Rick

 

Hallo nochmal Rick und Nachtschatten,

hey, jetzt wird´s spannend, super. Und ich als Autorin habe fast das Gefühl, dass ich dazu gar nichts weiter sagen kann. Nicht, weil es mich nicht interessiert, ganz im Gegenteil, sondern weil es auch nur eine subjektive Einschätzung ist, so wie ich es empfinde.

Dennoch: Ich habe in etwa das beabsichtigt, was Du, Rick, formulierst. Die Erzählerin hat keinen Bezug zu Kevin, erzählt nur aus der Distanz, ist fast schon erstaunt, was dort geschieht. Kevin ist tatsächlich nicht greifbar, ich hatte allerdings gehofft, dass er gerade als so jemand dennoch plastisch wird und die Charakterisierung dafür reicht. Was ich allerdings bedenklicher finde, ist Juttas Person, weil es sich ja bei ihr um eine langjährige Freundin handelt. Ich könnte jetzt zitieren, an welchen Stellen ich ihre Theatralik verdeutlichen wollte, aber das zählt nicht, wenn es bei dir, Nachtschatten, nicht angekommen ist. Ich gebe allerdings gerne zu, dass mir die subtilen, impliziten Beschreibungen und Charakterisierungen meist lieber sind und wir hier möglicherweise einfach andere Vorlieben haben.

Hm. Auf jeden Fall hat mich eure Diskussion nochmal nachdenklich gemacht, auch wenn ich im Moment das Gefühl habe, dass es so wie es ist stimmig ist. Schön, dass ihr euch mit der Geschichte auseinandersetzt, ich werd es auch nochmal tun.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Diese Geschichte ist ein bißchen schlampig geschrieben, und das sowohl in der Form als auch vom Inhalt her. Schon der erste Satz ist zum Beispiel völlig überflüssig, denn er faßt zusammen, was die gleich anschließend beschriebenen 3 Episoden aus Juttas Leben erzählen – das wirkt auf mich, als ob du, Juschi, deinen eigenen Worten nicht glauben würdest, und deswegen das Gesagte belegen mußt.

Ich habe aus Neugierde dann trotzdem weiter gelesen und bin nicht enttäuscht worden, trotz manchem Wirrwarr und Mißachtung jeder Form wie zum Beispiel diesem:

Als Kevin schließlich Jutta über den Weg lief, es war im Frühjahr, Jutta erzählte mir später, sie kam mit den Wochenendeinkäufen aus dem Tengelmann, Kevin trug unter einem Arm seine Bratsche, unter dem anderen seine Notenmappe – als Kevin Jutta über den Weg lief, dachte jeder, Kevins Spuren waren längst verblasst, überlagert von Matthias’ und Jörgs, wenn nicht völlig ausradiert. Ausradiert aus Juttas Gedanken, Gefühlen, ihrem Leben, und somit auch aus unserem.
So was Konfuses habe ich selten gelesen, ich wundere mich, wieso bisher noch niemand darüber gestolpert ist. :D

Um es kurz zu sagen: Die Geschichte besticht durch ihre lakonische Sprache und durch den Stil: Sie wirkt als ob jemand sie mündlich und fast ohne Punkt und Komma erzählte, und du Juschi, hast sie so aufgeschrieben wie gehört.

Die Geschichte ist übrigens das schönste Alltag, die auftretenden Personen gibt es, will sagen, sie sind alle genauso glaubhaft gezeichnet wie der rote Faden Kevin-Jutta – was will man mehr? Jedenfalls verstehe ich in diesem Zusammenhang den Vorwurf der Austauschbarkeit nicht.

Dion

 

Hallo Rick,

ich möchte mich hier Nachtschatten anschliessen. Vor allem Jutta fand ich austauschbar. Gegen was? Gegen irgendeinen beliebigen anderen Charakter. Ich finde nicht, dass es jemanden charakterisiert, dass er manchmal etwas theatralisch reagiert. Wer tut das nicht manchmal? Das macht doch keinen Menschen aus, finde ich.

Liebe Grüße, Bella

 

Hallo zusammen,

hach, das gefällt mir richtig gut, dass hier eine richtige Diskussion zur Geschichte entsteht. Danke, Dion, für deine Rückmeldung, danke, Bella, fürs erneute Melden. Wie bereits gestern geschrieben bin ich etwas unsicher bezüglich der Charakterisierungen, denke aber eigentlich weiterhin, dass sie so gelungen sind.

@ Dion: Deinen Vorwurf der teilweise wirren Sätze und der überflüssigen Sätze müsste ich an die namenlose Erzählerin weiterleiten, denn genau so wie ich es geschrieben habe sollte es auch wirken. Möglicherweise auch genau die Sätze, die du als "schlampig" empfindest, wobei ich dem Vorwurf widersprechen muss, wenn ich Schlampigkeit mit fehlender Sorgfalt gleichsetze. Dann schon eher Unvermögen oder Absicht. :D Aber wenn ich dich richtig verstehe, hat es dir ja gefallen, schön.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Juschi schrieb:
Deinen Vorwurf der teilweise wirren Sätze und der überflüssigen Sätze müsste ich an die namenlose Erzählerin weiterleiten, denn genau so wie ich es geschrieben habe sollte es auch wirken.
Kompliment, Juschi, das ist eine der besten Ausreden, die ich bisher in diesem Forum gelesen habe. :D

Was ich mit Schlampigkeit meine:

Jutta legte irgendeine Opern-CD auf, ich wusste gar nicht, dass sie so etwas besaß.
Komma zwischen auf und ich ist zuwenig, da gehört ein Semikolon oder ein Gedankenstrich hin.

und Jutta ging es glaube ich nicht schlecht
Da fehlen eindeutig 2 Kommas.

„Willst du auch ein Bier?“, fragte sie, pfiff den Radetzkymarsch und ging in die Küche, irritiert schüttelte ich den Kopf.
Auch hier ist das Komma zwischen Küche und irritiert zuwenig.

als sie nach der Trennung von Kevin am Nordseestrand stand, wir machten den Ausflug um sie abzulenken, und mit versteinertem Gesicht den Wellen verkündete
Gedankenstriche anstelle von Kommata.

„Wie kommt es, dass Kevin wieder da ist?“, fragte ich Jutta eines Samstags, als wir in der Innenstadt einen Strampler für Ulfs und Chrissies Tochter gekauft hatten und einen Kaffee in Juttas Küche tranken.
Okay, man versteht, daß die Frage beim Kaffee in Juttas Küche gestellt wird und man davor in der Stadt einkaufen war, aber trotzdem muß ich fragen, warum das so umständlich in einem Satz gesagt werden muß? Sage mir bitte nicht, daß ich mich mit dieser Frage an die Erzählerin wenden soll! :D

Bella schrieb:
Vor allem Jutta fand ich austauschbar. Gegen was? Gegen irgendeinen beliebigen anderen Charakter. Ich finde nicht, dass es jemanden charakterisiert, dass er manchmal etwas theatralisch reagiert. Wer tut das nicht manchmal? Das macht doch keinen Menschen aus, finde ich.
Du irrst hier, Bella, Jutta reagiert nicht nur manchmal theatralisch, sondern durch die ganze Geschichte hindurch – vorletztes Beispiel: „Manche Spuren bleiben, auch wenn sie nicht ständig nachgezogen werden“ -, und die umspannt einige Jahre, so daß man annehmen kann, daß sie sich das nie ändern wird. Diese Theatralik ist eine Eigenschaft, die nicht so häufig anzutreffen ist, aber es gibt sie, keine Frage, vor allem bei Frauen – vielleicht findest du Jutta deswegen austauschbar. :D
Okay, das war jetzt ein bißchen Spaß, denn natürlich wird Jutta nicht nur durch diese Theatralik bzw. Pathetik charakterisiert, sondern auch durch ihr demonstrativ nach außen getragenes Unbeteiligtsein in Bezug auf Kevin. Obwohl sie und Kevin ein Paar sind, zeigt sie keine Reaktionen bei seinem Kommen, Verschwinden und Wiederkommen, und dieses Nichtreagieren ist das genaue Gegenteil zu den Sprüchen, die sie immer auf Lager hat. Sie hört Opern und pfeift, was Kevin gepfiffen hat, aber auf direkte Fragen mimt sie die Coole. Sie hat was von gespaltener Persönlichkeit, ohne daß das gleich pathologisch wäre, aber eben genug, daß sich Freunde um sie sorgen machen.

Das alles zeigt deutlich: Jutta ist nicht austauschbar, schon gar nicht gegen einen beliebigen Charakter.

Dion

 

Hallo Dion,

danke für die Konkretisierung der "Schlampigkeit", damit kann ich mehr anfangen, auch wenn ich dir nicht bei all deinen Vorschlägen zustimme. Einige Anregungen greife ich allerdings gerne auf.

Ansonsten kann ich nur abermals feststellen, wie spannend ich eure Diskussion und die Tatsache, wie unterschiedlich die Charaktere ankommen, finde.

Liebe Grüße
Juschi

 

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