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Bleibende Spuren
Jutta ist schon immer pathetisch gewesen, fast ein wenig theatralisch. Jutta war, wie sie war, und wir blieben entsprechend gelassen, als sie damals nach der Trennung von Kevin am Nordseestrand stand und mit versteinertem Gesicht den Wellen verkündete: „Kevins Spuren werden sich für immer durch mein Leben ziehen.“
Andrea und ich sahen uns skeptisch an, Ulf verabschiedete sich kopfschüttelnd in Richtung Auto, Matthias erkannte die Gunst des Momentes und legte tröstend einen Arm um Jutta. Damals ahnten wir nur, dass wir Kevin in den folgenden Jahren nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen sollten, bereits an diesem Tag spürten wir keine bleibenden Eindrücke von Kevin in Juttas Leben. Kevin war weg, genau genommen ging es nur um wenige Wochen, in denen er überhaupt da gewesen war. Ansonsten war alles beim Alten.
Wir gingen zur Uni, fanden unsere ersten Jobs, Ulf und Andrea heirateten, die Männer kamen, die Männer gingen, in Juttas Leben und in meinem, Matthias war einer von ihnen, erst in ihrem, dann in meinem.
Als Kevin schließlich Jutta über den Weg lief, war es Frühjahr. Jutta erzählte mir später, sie kam mit den Gemüseeinkäufen aus dem Bioladen; Kevin trug unter einem Arm seine Bratsche, unter dem anderen seine Notenmappe. Als Kevin Jutta über den Weg lief, dachte jeder, Kevins Spuren waren längst verblasst, überlagert von Matthias’, wenn nicht völlig ausradiert. Ausradiert aus Juttas Gedanken, Gefühlen, ihrem Leben, und somit auch aus unserem.
„Jutta hat Kevin gestern zufällig getroffen, vor dem Bioladen“, erzählte ich Ulf am Telefon.
„Welchen Kevin?“, fragte mich Ulf.
Kevins erste sichtbare Spur war die Bratsche unter der Garderobe in Juttas Wohnung, die zweite ein ständiges Pfeifen aus einem der Zimmer, mal der Radetzkymarsch, mal die französische Nationalhymne, mal etwas mir völlig Unbekanntes. Spätestens als eine zweite Zahnbürste auf dem Waschbecken lag, hatten wir verstanden: Kevin war wieder da, und Kevin wollte bleiben. Kevin, der seine Haare nun etwas länger trug, der Bratsche im Orchester des Musiktheaters spielte, der immer noch überall in der Wohnung halb volle Teetassen stehen, angebissene Äpfel liegen ließ.
„Wie kommt es, dass Kevin wieder da ist?“, fragte ich Jutta eines Samstags, nachdem wir in der Innenstadt einen Schlafanzug für Ulfs und Andreas Tochter gekauft hatten und einen Kaffee in Juttas Küche tranken.
„Wieso?“, fragte Jutta mich verwundert und öffnete eine Dose Kekse. „Hab ich dir doch erzählt, wir haben uns neulich vor dem Bioladen in der Heinestraße getroffen.“
„Und dann?“
„Keine Ahnung. Wir haben uns unterhalten, er hat mir die Einkäufe nach Hause getragen und ist geblieben.“
Ich wartete vergeblich auf die Fortsetzung ihrer Erklärung, irgendeine dramatische Feststellung, Jutta sagte: „Soll ich Milchschaum machen?“ und „Wir hätten doch lieber den Roten nehmen sollen, das Gelb wird farblos an Lisa wirken.“
Die Haustür öffnete sich, er hatte also bereits einen Schlüssel. Kevin schmiss die Sporttasche in die Ecke, schlurfte in die Küche, sagte „Hi“ und nahm sich einen Keks.
„Hi Kevin“, antwortete ich, „Hi“, sagte Jutta, während sie den Aufschäumer in Gang setzte. Kevin setzte Jutta seine Kappe auf den Kopf, küsste sie in den Nacken, Jutta lächelte.
„Ich geh duschen“, sagte Kevin und pfiff Greensleeves beim Verlassen der Küche.
Es wurde Sommer, wir radelten an den Rhein, Kevin war stets unser Begleiter, cremte uns den Rücken ein, grillte unsere Würstchen, flocht Jutta Blumenketten und drapierte sie in ihre neue Kurzhaarfrisur. Wir tranken Wein, er trank Bier, musizierte mit Ulf und spielte mit uns Frisbee, schob Lisa durch den Waldpark.
Eines Tages im Herbst, im September oder Oktober, war Kevin dann verschwunden. Ich kann mich nicht an den genauen Tag erinnern, weil es mir zunächst gar nicht auffiel, möglicherweise eine ganze Zeit lang nicht. Jutta verlor kein Wort darüber. Als wir Lisas ersten Geburtstag feierten und Jutta alleine auf dem Balkon stand, auf den Wasserturm starrte und sich weder an unseren Gesprächen beteiligte, noch sich zum Kaffeetrinken zu uns gesellte, fragte ich die anderen: „Weiß jemand, wo Kevin ist?“
„Vielleicht im Bad“, vermutete Ulf, die anderen schauten in die Runde und zuckten die Achseln. Ulf holte frischen Kaffee, jemand packte mit Lisa Geschenke aus, Andrea und ich gingen zu Jutta auf den Balkon. Schließlich fragte Andrea: „Wo ist eigentlich Kevin? Keine Lust auf Geburtstag?“
Jutta schwieg einen Moment, bevor sie antwortete: „Kevin ist doch weg.“
„Wie, weg?“, fragte ich und schob die Balkontür zu, drinnen stürzte ein Turm aus Bauklötzen in sich zusammen.
„Weg.“
„Seit wann?“
„Seit kurzem.“
„Habt ihr euch gestritten? Wo ist er denn hin?“
„Keine Ahnung. Reisende soll man nicht aufhalten, nicht wahr?“
Jutta schob uns sachte zur Seite und ging hinein zu den anderen.
Kevin war weg, ansonsten war alles beim Alten. Draußen wurde es Winter, Lisa begann zu laufen, ich wechselte den Job und Jutta ging es glaube ich nicht schlecht. Am Anfang waren wir oft bei ihr, Andrea und ich, gingen mit ihr ins Kino, joggen, lenkten sie ab, ohne zu wissen, ob das nötig war. Dann ging alles seinen gewohnten Gang.
Eines Sonntagabends, als wir gemeinsam den Tatort schauten, musste ich sie einfach fragen.
„Bist du traurig, dass Kevin weg ist?“
„Wieso?“, entgegnete Jutta und schaute mich nicht an. Einige Minuten später holte sie sich ein Glas aus dem Schrank.
„Willst du auch ein Bier?“, fragte sie, pfiff den Radetzkymarsch und ging in die Küche, irritiert schüttelte ich den Kopf.
„Manche Spuren bleiben, auch wenn sie nicht ständig nachgezogen werden“, sagte Jutta, als sie zurückkehrte. Sie ließ sich auf die Couch sinken. „Und manche Fäden werden wieder aufgenommen, sei es auch Jahre später.“
An diesem Abend sprachen wir zum letzten Mal über Kevin. Dennoch suche ich jedes Mal nach der Bratsche unter Juttas Garderobe, wenn ich ihre Wohnung betrete, und habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass das Pfeifen nicht von ihm stammt.