Bleicher Mond
Bleicher Mond
Tobi und ich hatten es geschafft. Unter den knapp zwei Millionen Teilnehmern waren wir die Gewinner. Karibik, Südsee, Trauminsel, Traumstrand, Traummänner. Dass Tobi mitfuhr, war nur fair, schließlich war es seine Idee. Und ein Teil seines Geldes. Auch wenn Zeit mit mir zu verbringen, sicherlich nicht das Beste für ihn sein würde. Oder für mich. Er nervte mich ständig mit irgendwelchen Sachen und ich war im Gegenzug garstig und patzig, was ihn nicht im Geringsten zu stören schien.
Es sei denn, man blickte tief in seine Augen. Nach jedem Treffer meinerseits konnte man eine kurze Trübung seines Blickes, einen kurzen Schatten entdecken, der sekundenschnell vorüberzog. Ich hatte jedes Mal danach ein schlechtes Gewissen, aber ich wusste mir nicht anders zu helfen, denn er reizte mich jedes Mal aufs Neue bis zum Äußersten.
Wir hatten uns am Flughafen getroffen, mit Gepäck für drei Wochen Paradies. Ich saß im Flugzeug zwar neben Tobi, doch schützte ich vor zu schlafen und Tobi schlief wirklich schnell ein, so dass wenigstens zu Anfang keine schlechte Stimmung aufkommen konnte. Ich beobachtete die Wolken, als ich sicher gehen konnte, dass Tobi schlief. Der blaue Himmel erstreckte sich so weit das Auge reichte. Ich aß und trank eine Kleinigkeit- First Class – und war bester Stimmung. Die Landschaft unter uns zog eilends vorbei. Nach knapp einer Stunde war nur noch Meer zu sehen.
Ich musste wohl eingenickt sein und erwachte, als mich jemand am Arm packte. Ich wollte schon einen genervten, morgenmuffeligen Kommentar machen, als ich seine angsterfüllten Augen sah. Sie waren nur ein Blitzen in der Dunkelheit. Im Flugzeug? Ich war schlagartig wach und schaute mich um. Regen plätscherte an die Scheiben, trommelte gegen das Flugzeug. Blitze durchzuckten den Himmel und grollender Donner folgte. Die dunkle Wolkenwand, nur ab und an zuckend erhellt, wirkte unwirklich und dennoch bedrohlich.
Tobi war kalkweiß. Angstschweiß tropfte von seiner Stirn. Plötzlich Stille. Das Rumpeln und Schütteln des Flugzeugs, das nur langsam in mein Bewusstsein gedrungen war, verebbte schlagartig. Ich brachte Tobi entgegen des guten Rats des Stewards Richtung Klo, in der irrigen Hoffnung, dass es überstanden sei. Das Kreischen von Metall, etwas Hartes schlägt gegen meinen Kopf – Schwärze.
Mir träumte. So schien es. Wasser und Kälte, Sturm und Wind, Wellen und Gischt. Der Meeresgott riss mich empor, nahm mich als Opfer nicht an.
Ich erbrach mich, hustete und spuckte. Der sonnenüberflutete Strand und der Geruch nach Algen und Erbrochenen kämpften sich in mein Bewusstsein. Ich versuche mich zu orientieren. Sand. Neben mir ein Rucksack. Hinter mir Meer. Meilenweit Meer und weißer, feiner Sand. Das Kreischen einer Möwe. In heftigem Verlangen durchsuche ich den fremden Rucksack und finde Wasser. Trinke es halb leer, spüle mir den versalzenen, sauren Mund aus.
Noch benommen mache ich mich samt Rucksack auf den Weg, schwankend. Meine sonnenverbrannte Hand, mit der ich mir über den Mund wische, scheint das einzige Zeichen zu sein, wie lange ich wohl hier schon lag. Als ich, noch nicht ahnend, was ich suche, eine Düne erklimme, sehe ich eine Gestalt im Sand liegen. Mein schmerzender Körper drängt vorwärts. Der Hoffnung entgegen. Hoffnung auf Tobi, der mich zwar nervt, aber den ich kenne. Ich nähere mich dem Mann, der nicht Tobi ist.
Anfang zwanzig schätze ich den Liegenden. Ich drehe ihn um, suche nach Lebenszeichen. Spreche ihn an. Er lebt noch, stelle ich fest. Ich flöße ihm etwas zu trinken ein. Fast den ganzen Rest. Aber alleine sein? Er schlägt seine Augen auf. Sieht mich dankbar an. Abwarten. Er braucht einen Moment, bis er völlig bei Bewusstsein ist. Er stellt Fragen. Fragen, auf die ich keine Antworten weiß. Ich bin eine Großstadttucke kein Naturfreak. Ich sage ihm, was ich weiß. Ein Strand, karibisches Wetter. Sein Name ist Paul.
Er beschließt, dass wir weitergehen sollten, uns umsehen. Wir finden einen weiteren Rucksack. Ein gelber Rucksack. Tobis gelber Rucksack. Von ihm selbst keine Spur. Ich habe nie geglaubt, ihn jemals wiedersehen zu wollen, doch jetzt wollte ich nichts Anderes. Wir suchen weiter, doch keine Spur von ihm. Sand geht in dunkelgrauen Felsen über. Zwischen den Felsen ein Rinnsal von Nass. Süßwasser, wie wir erleichtert feststellen. Ich fülle die Flasche aus dem ersten Rucksack. Wir trinken, soviel wir nur können.
Als es langsam dämmert, sucht uns Paul ein Lager. Aus Treibholz entfacht er ein Feuer. Ich danke Tobi im Stillen, dass er Raucher ist und ein immer ein Zippo einstecken hat. Eine Träne stiehlt sich in mein Auge. Wo ist Tobi nur? Wir legen uns hin. Die einzigen Worte zwischen Paul und mir, waren die, als ich ihn fand. Erschöpft schlief ich ein. In Gedanken immer noch bei Tobi.
Am morgen stellten wir fest, dass wir auf einer Insel waren. Ein paar Kilometer weitergegangen, fanden wir Möwen, die sich an meinem gestrigen Auswurf zu schaffen machten. Paul war gesprächig wie ein Backstein. Wir ließen uns nieder und beratschlagten. Paul mit seiner einsilbigen Art und ich, der verzweifelte, oft gehörte Vorschläge machte: Feuer, Wasser, Essen, Rettung. Bis wir gerettet werden, müssen wir wohl hier leben.
Mich durchzuckten Gedanken an all die Klischees im Bezug auf verlassene Trauminseln: Einen Bart wachsen lassen, mit Volleybällen reden oder Freitag treffen. Nun ja, ich hatte wenigstens Paul. Vielleicht wäre ein Volleyball unterhaltsamer. Dieser Gedanke machte mich lachen und ich fing mir einen unergründlichen Blick von Paul ein, der mich verstummen ließ.
Wir gingen in den nahegelegenen Dschungel oder wie immer man diese Ansammlungen von Gewächsen nennen mag und sammelten Früchte ein. Ich brachte so was wie Pfirsiche mit und Paul Kokosnüsse. Wir aßen an Ort und Stelle und machten uns wieder auf Richtung Trinkwasser. Ein paar hundert Meter entfernt, noch auf dem Sand, errichteten wir ein Lager, füllten die Flasche und die Kokosnusshälften mit Wasser. Zwei Handtücher waren unser Lager. Da es auch nachts nicht kalt war, musste das wohl reichen. Ich wusch mich im Meer und Paul suchte Feuerholz, obwohl ich der Meinung war, auch er könnte ein Bad vertragen.
So einen Strand hätte ich mir gewünscht. Ein netter Page, der einen jeden Wunsch von den Augen abliest und vor allem für gefüllte Gläser sorgt. Und Tobi. Stattdessen bekam ich Wasser und Obst, einen griesgrämigen, verschwiegenen Paul, der nur das Nötigste sagte.
Als wir beide im Lager waren, redete ich über die Probleme, Gefahren etc. und fragte nach Pauls Meinung. Der drehte sich um und ließ mich mit meinen Fragen und Sorgen allein. Würde man uns suchen. Würde man uns finden? Wie lange müssen wir es wohl hier aushalten? Wenigstens war Paul ein Medizinstudent und kannte sich in der Natur aus, so dass ich mir keine Gedanken darüber machen brauchte. Ihm das aus der Nase zu ziehen, hatte Stunden gedauert und nicht mal ein Drittel meiner Fragen wurden beantwortet. War er überhaupt im Flugzeug? Wie kam er auf die Insel?
Sein schlafender Körper hob und senkte sich im Takt seines Herzens. Ich gestattete mir den Luxus, ihn mir genauer anzusehen. Sein goldgebräunter Teint, auf dem sich die letzten Strahlen der Sonne fingen. Sein lockiges, leicht ausgebleicht wirkendes, blondes lockiges Haar. Im Gegensatz zu mir, der sich mit Sonnencreme aus dem Rucksack bis obenhin zukleistern musste und dessen Sonnebrand gerade mal ansatzweise verheilt war, musste er sich darum keine Sorgen machen. Er war schön anzusehen. Passte hierher ins Paradies. Bis auf seine stille Art, die mich irritierte.
Ich schlummerte ein und träumte. Ich sehe eine Insel im bleichen Licht des vollen Mondes. Ich hatte die Insel nie von oben gesehen, doch erkannte ich sie sofort als unsere Insel. Auf einer Lichtung im Dschungel brennt ein Feuer. Ich rieche Rauch und Schweiß. Das Trommeln nackter Füße auf lehmigen Boden ist zu hören. Die hohen, schrillen Stimmen von Flöten sind zu hören. Die schwarzen, tanzenden Männer sind mit Zeichen übersät, die ich nicht kenne. Doch ihre Bedeutung ist irgendwie fast greifbar, entzieht sich mir jedoch. In der Mitte tanzt ein weiterer Mann, umringt von den schwarzen Tänzern. Er ist ebenfalls nackt, sein Gesicht jedoch als Einziges unter einer Maske verborgen. Er ist kalkweiß, mit einem roten, glänzenden Zeichen bemalt. Ein Zeichen, das auf jedem Teil seines Körpers gemalt wurde.
Außerhalb des Kreises stehen Musikanten, blasen in das Holz vor ihren Lippen. Ich trete in den Kreis ein. Der Maskierte bleibt stehen und sofort kehrt Stille ein. Kein Trommeln, kein Flöten. Ein Messer blitzt. Blut ergießt sich auf den Maskierten. Mein Blut.
Paul schüttelte mich wie wild. Schweißgebadet, Panik in den Augen erblickte ich sein Gesicht. Und hinter ihm den bleichen zunehmenden Mond . Paul nahm mich spontan in die Arme. Sprach tröstende Worte. Nur ein Traum, murmelte ich beschwörend. Spürte die Wärme seines Körpers und versuchte, das Wissen, welches mir zuteil wurde, zu leugnen. Ich erkannte den Körper, der mich hielt. In meinem Traum war es der Körper des Maskierten.
Ich schüttelte mich, löste mich von Paul, ging spazieren. Ich murmelte etwas von Haien und Wasser und Ertrinken. Es stellte ihn zufrieden, hoffte ich. Wir arbeiteten den ganzen Tag. Mit Messern aus der Schweiz hergestellten Steinwerkzeugen, einigen Ästen aus dem Dschungel und viel Schweiß, errichteten wir eine kleine Hütte. Ich verdrängte das schaurige Gefühl des Traumes, bekämpfte das Gefühl, er könne wahr sein. Harte Arbeit und Schweigen half dabei sehr.
Am Abend gab es wieder Früchte und Wasser. Wir hatten ein Bassin für Wasser angelegt, aus Blättern und Harz, einen Kochtopf aus Kokosnuss und Stein improvisiert und einen erklecklichen Vorrat an Feuerholz für unser ständiges Rettungsfeuer angelegt.
Am Abend fragte ich Paul nach dem Flugzeug, was er gegessen hatte, wie er rausgekommen war. Er küsste mich unvermittelt, flüsterte ein Danke und legte sich schlafen. Ich war verdutzt. Und viel zu müde. Ich schlief ein, obwohl ich es nicht vorhatte. Traumloser Schlaf.
Als ich erwachte, war Paul weg. Ich stand eiligst auf, schaute mich angestrengt um: Nichts. Nicht mal Fußspuren im Sand. Mein Misstrauen wuchs. Keine Antworten, sein Verschwinden, der Traum. Als ich fast schon der Panik nahe war, kam er aus dem Dschungel gelaufen. Er trug Früchte bei sich und einen Strauß der schönsten Blumen, die ich je gesehen habe. Ich freute mich so über die Blumen, dass ich meine Gedanken vergaß- vorerst.
Wir sammelten Holz und überlegten uns, wie wir unser Nahrungsangebot aufstocken konnten. Die Tatsache, dass Paul seit dem Morgen eine blaue Speedo trug, lenkte mich in meinen Gedanken etwas ab, Ich schaute immer wieder verstohlen auf seinen prall gefüllten Schritt und musste Gedanken verdrängen, die in dieser Situation völlig unwillkommen waren. Paul baute eine Angel aus Holz, Draht und Schnur. Der Rucksack war zwar nicht mehr zu gebrauchen, aber das war nicht so tragisch. Wieder einmal bewunderte ich sein Geschick. Ich kochte Wasser ab und füllte es zum Kühlen in die Kokosnüsse und die Flasche. Er ging Angeln und ich bewachte das Feuer.
Allein mit meinen Gedanken. Erschreckenden und Gedanken über eine blaue, gut gefüllte Speedo. Ich ging schwimmen, um die Gedanken im salzigen Nass zu ertränken. Ich hatte zwar keine Badehose, aber dafür eine Taucherbrille gefunden. Ich gab mich völlig leichtsinnig dem Vergnügen hin. Das herrliche, warme klare Nass. Die kleinen Tierchen im Wasser. Beim Tauchen entdeckte ich plötzlich etwas Glitzerndes. Ich tauchte auf, holte neu Luft und schwamm hinab zu dem Glitzern.
Stolz wie Oskar zog ich einen blanken Metallhelm aus dem Wasser. Er war nicht angegriffen von Rost. Ein Topf, dachte ich mir und ließ die Frage, wie ein solcher Helm hierher kam, links liegen. Ich klaubte das Futteral aus dem Helm und konnte Paul, der vom Fischen zurückkam, einen blanken Topf präsentieren. Mit einem dümmlichen Grinsen, hielt ich ihn ihm entgegen. Doch irgendwie schaute er den Topf nicht an, den ich auf Brusthöhe hielt. Er schaute tiefer und seine Speedo beulte sich aus. Ich flüchtete in die Hütte und zog mir etwas an. Wir verloren kein Wort darüber. Ich aus Scham und er, weil er Paul war.
Wir brieten die Fische am Stock und schwiegen uns an. Paul hatte sogar noch Wurzeln mitgebracht, aus dem nahen Dschungel. Ich versuchte mein Glück aufs Neue und fing an über das Flugzeug zu sprechen. Doch die Zweifel wurden weggeblasen. Kaum dass das Wort Flugzeug meinen Mund verließ, stürzte er sich auf mich und küsste mich, wie ein Ertrinkender. Ich spürte die Ausmaße seiner Erektion auf meinem Oberschenkel. Ich war nur noch Körper und genoss sichtlich das sinnliche Treiben, das er mir bescherte. Zufrieden glucksend schlief ich nach dem Essen und einer weiteren Runde Zärtlichkeiten ein.
Der nächste Tag verlief rasant. Wir liebten uns, Paul jagte einen Hasen, wie liebten uns, ich holte Holz, wir liebten uns, gingen schwimmen. Ich lag mit dem Rücken auf dem Handtuch und hielt die Augen geschlossen. Paul erhob sich und ging Austreten. Ich schaute in die Sterne, sah den vollen, bleichen Mond. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Eine Vorahnung. Plötzlich sah ich ein Blitzen von Weiß. Ich stand auf und sah vor mir einen schwarzhäutigen Mann mit einem Speer. Ich wollte losrennen, als mich von hinten ein weiterer in die Mangel nahm. Innerhalb kürzester Zeit war ich überwältigt.
Gefesselt zwangen sie mich, ihnen zu folgen. Mir wurde schlecht und ich machte mir irrigerweise Sorgen um Paul. Fragte nach ihm. Keine Antwort, nur ein weiterer grobe Stoß, der mich weitergehen ließ. Ich wurde auf eine lehmige Lichtung geführt. Sie trichterten mir eine übelriechende Flüssigkeit ein.
Die Musik beginnt. Der volle Mond hüllt die Insel in bleiches Licht. Licht, das so fahl ist wie der Knochenmann. Blut spritzt auf seinen Körper. „Das letzte Mal“, hört man ihn schwören, „das letzte Mal.“