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Blick aus dem Fenster

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15.10.2001
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Blick aus dem Fenster

Das Glas der Scheibe ist vom Fliegenschiss, Staub und den Atollen aus vertrockneten Regentropfen stumpf geworden; vom Fensterbrett blättert die Farbe ab.
Über der Strasse wiegen sich die Tannen in der Spätsommerbrise. Es wird nun erst gegen halb sieben Uhr morgens hell. Die Luft ist kühl aber klar. Gegen zehn Uhr haben sich die letzten Wolken verzogen und ein eisiges Blau liegt über der Stadt; die Sonne ist längst hinter den Dächern.
Drinnen mischt sich der Moder mit Teegeruch. Auf dem Sims steht ein Kaktus Wache; es ist ein Erbstück, von wem hat die alte Frau vergessen. Sie ist unsichtbar, bestenfalls, dass der Store gelupft sei, könne man von unten erkennen.
Die Tannen verschwimmen. Gleichmäßige Gevierte schwarzer Garagendächer werden ihr gewahr. Sie blinzelt. – „Seit wann sind dort Garagen“? – Obwohl der Baulärm der letzten Wochen ihr jeden Tag den Nachmittagsschlaf geraubt hattte.
Im Fensterglas spiegelt sich der weiße Rand des Saums am Kragen ihrer Bluse, darauf ein Fleck. Sie nimmt sich vor sich umzuziehen und die Bluse zu waschen und vergisst es.
Die Tannen gibt es nur noch in ihrer Phantasie. „Wenigstens haben sie den Ahornbaum“, vor ihrem Fenster, „stehen lassen.“ Dessen Ränder färben sich bereits herbstlich.
Dabei hatte sie voriges Jahr noch geschimpft, als die Blätter im ersten Graupel matschig den Gehsteig bedeckt hatten. „Weggeschnitten“ gehöre er endlich „ein für allemal“, hatte sie jedem gesagt der auf den Hauseingang zugeschritten war.
Hinter den Garagen hob jetzt die Brücke der Umgehungsstrasse den Verkehr in hohem Bogen vorüber. Hatte man auch diese neu gebaut? Fuhr dort nicht etwa der Wagen ihres Sohnes? – Rot, wie der, den ihm sein Vater zum achtzehnten Geburtstag gekauft hatte. – Kam er sie etwa besuchen? Sie wartete. Eine Stunde, eineinhalb, der Tee war längst kalt, zwei Stunden.
Auf dem Gehsteig lagen schon wieder die Blätter des Ahornbaumes. Der Besen stand im Abgang zum Fahrradkeller. – Es würde ihr sicher nicht schaden, sich ein wenig zu bewegen.

Robbie Kammer sieht die Apokalypse; ein Potpourri aus sinnlosen Eindrücken. Das einzige von Bestand darin ist jenes „Schscht – Schscht“.
Sein Vater auf den Fließen der U-Bahn liegend, unfähig sich zu bewegen. – „Schscht“. – Eine geschlossene Tür, – „Schscht“, - Blut. Eine Kneipe. Die feindseligen Blicke der Leute. – „Schscht“. – Dann wieder sein Vater der auf der Kloschüssel einer offenen Toilettenkabine sitzt. Die Menschen defilieren vorbei und betrachten ihn wie eine Monstrosität. – „Schscht“. – Robbie möchte ihm helfen, spürt die Ohnmacht. – „Schscht“ – Ein wages Brummen schwillt an zu einem Donnergrollen. - Er ist erlöst, wirft sich herum. Lichter drehen sich. Er sitzt in einem Karussell, stöhnt. Ihm wird übel. Das Grollen verliert sich. – Schscht. – Er lauscht.
Das Fenster ist gekippt, der stete Verkehr auf der Umgehungsstrasse ist die Flut in der Brandung. Die Lamellen der Jalousie stehen quer. Er lächelt im Sonnenschein. Die Übelkeit legt sich. Er liegt am Strand. Fremde Stimmen erzählen von exotischen Dingen.
Mit einem Mal ist der Strand überfüllt. Um ihn herum ein Wald von Beinen, die über ihn hinwegsteigen. Sie treten ihn in den Unterleib und er kann nichts dagegen tun.
Die Stimmen beginnen zu knarzen. – Schreien! Er wirft sich nach der anderen Seite. Es ist wieder still. – „Schscht“! – Er blinzelt.
Im gleißenden Licht des Tages zerfallen die Bilder augenblicklich zu Asche. – „Schscht“. Draußen donnert ein Laster vorbei. –„Schscht“. – Jemand fegt den Gehsteig. –„Schscht – Schscht“! – Und auch ohne aus dem Fenster gesehen zu haben, weiß er wer das ist.
Die Zudecke ist ein einziger Knoten und im Zimmer stinkt es wie im Hofbräuhaus vor der Klotür.

Die Wissenschaft sagt, sie wisse,
- Und habe dafür Beweise -,
Zum einen Teil besteht der Mensch aus Pisse
Und zum anderen aus Scheiße.

Es fielen ihm nur die letzten beiden Zeilen des Sprüchleins ein, als der Regen eines endlosen Strahls die fahlen Waden nässte. Nachdem er auch die zweite bestätigt sah, ließ er sich Badewasser ein.
Gegen halb zwei Uhr ist er wieder auf dem Damm und AC/DC plärrt durch die Wohnung. – „Scheiß Oktoberfest“, murmelt er, die Zigarette in der einen, die Schläfen mit der anderen Hand knetend.
Unten schwingt sich der alte Finke aufs Fahrrad: „Wohin der immer will?“ Denkt er. „Entweder er holt den Kaffeezucker würfelweise aus dem Supermarkt, oder er fährt sich irgendwo beschweren“.

„Ich möchte hiermit Antrag stellen,
Dass die Hunde nur noch Montags bellen,
Und dass der Winter dieses Jahr
Bereits im Juli war.
Ferner hätte ich gerne für mein Steuergeld,
Dass der Dienstag auf einen Samstag fällt.
Außerdem wäre gar nicht schlecht,
Bekäme ich künftig immer Recht.
Aber egal wie Sie entscheiden,
Eine Klage lässt sich nicht vermeiden.
Denn die Beschwerde um jeden Dreck,
Ist mein einziger Lebenszweck.
- Ich kann nicht anders, weil ich muss,
Mit freundlichem Gruß.“

Bon Scott hat den letzten Krächzer getan, die CD ist zu Ende.
Unten branden wieder die Stimmen auf. Frau Hotzenplotz schiebt sich ums Hauseck, den Dackel an der Leine. Man muss sich wundern, dass sie entgegen der Erdrotation vom Fleck kommt.
Frau Huber, die sich mit dem Besen mittlerweile bis zum Nachbareingang vorgearbeitet hat, begrüßt sie überschwänglich.
»Ja Frau ... – äh ... – Hotzenplotz, - na, schon wieder da vom Friedhof«?
»Ja, und jetz’ war ich auch gleich noch im Supermarkt«. Sie zerrt den Hund an der Leine von der Grünfläche weg.
„Herrchen im Himmel“, mag der denken, „ vor fünf Jahren noch hätte ich sie dafür zerfleischt“. Heute hängt das Kreuz durch, wie eine Wäscheleine und die Wampe schleift auf dem Asphalt und es ist noch nicht einmal eine Genugtuung, ihr unters Bett zu pinkeln, weil das im Gestank der Wohnung ohnehin nicht mehr auffiele.
Robbie beschließt bei seinem Nachbarn zu klingeln, der ebenso Schichtarbeiter ist, wie er. Diesem würde er dann erzählen, dass er gestern auf der Wiesn gewesen sei und keinen Schimmer mehr habe, wie er nach Hause gekommen sei. „Kenn’ ich“, würde der sagen, „kenn’ ich“. Und sie würden sich zuprosten und Bon Scott würde noch ein Liedchen anstimmen.

Livin’ easy, livin’ free
Let’s drink to the lowly of birth
Askin’ nothin’, leave me be
Let’s drink to the salt of the earth.
Don’t need reason, don’t need rhyme
Empty eyes gaze at strange beauty shows
Going down, party time
We’ve got the choice of cancer or polio

We’re on the highway to hell

Männer glauben ständig , es gehe ihnen etwas durch die Lappen. Sie drehen die Musik laut auf, damit sie ja gut ’rüberkommt. Sie saufen zuviel, damit es auch ja Wirkung zeigt. Sie brauchen potente Wagen, um nur ja möglichst überall gleichzeitig sein zu können. – Und sage nicht einer, das sei nicht so, der als Kind jenes Taschenmesser für am besten befunden hat, dem die meisten Funktionsteile eingebaut waren. – Natürlich ist man heute schlauer und man weiß inzwischen, es kommt auf die Härtung und Länge der Klinge an.
Von unten her riecht es lecker nach Essen herauf. – Entweder Spaghetti mit Schinken-Sahnesoße oder gekochter Spargel. Man einigt sich auf Pilze in Rahmsoße, dazu Schweinemedailons mit Spätzle. Aber der Geruch ist bald vom Zigarettenqualm getilgt. Beide haben an diesem Tag bislang noch nichts anständiges gegessen. Robbie ein Stück Kuchen, der Nachbar einen Zipfel Wurst.
Bald sind sie prall wie die Gummibälle und reden von der Neuen unten. Der Nachbar hat sie bisher nur einmal gesehen, vom Fenster aus, als sie aus dem Haus ging. Schlank, blondes Haar, hochhackige Schuhe, Minirock. Robbie hat ihr ’mal die Tür aufgehalten, als sie, um vier Uhr Morgens, erheblich angetrunken von einem Mercedes ausgestiegen war. Der Wagen war weitergefahren, - Stoff für Spekulationen.
Sie hat einen Sohn, von vielleicht drei Jahren, um den sich offenbar die meiste Zeit ihre Eltern kümmern. Ihr Vater ist es auch, der für sie einzukaufen scheint. Der Nachbar nennt ihn nur „Plastiktüte“, weil er ihn nur mit zwei Tüten in der Hand kennt. Es ist ein reservierter, älterer Herr, der zum Rauchen auf den Balkon geht.
Ein weiterer älterer Herr wohnt neben der Hotzenplotz, der alte „Walton“. Auch jener heißt in Wirklichkeit nicht „Walton“. Der Nachbar hat sich diesen Namen einer Fernsehserie entliehen, der, wie allen amerikanischen Produktionen, die Darstellung der Rechtschaffenheit zur Karikatur gerät. Außerdem hat der Name eine phonetische Ähnlichkeit zu dem Pseudonym.
Die beiden Trinker im vierten Stock wissen wer gemeint ist, wenn sie davon reden. Die CD ist wieder zu Ende, das Gespräch im Überdruss erstorben. Von der Strasse her hören sie Herrn W. sagen: »Aber Frau Huber, was kehr’n s’ denn die ganze Zeit? Da is’ doch nix«! Und sie ist froh, sich mit jemanden über abgefallenes Laub unterhalten zu können.

[ 10.07.2002, 22:41: Beitrag editiert von: Gerhard ]

 

Du bringst die Trostlosigkeit und Banalität des Alltags sehr gut rüber. Allerdings fehlt für meinen Geschmack noch die klare Linie, die den Text zu einem Ganzen zusammenfügt. Trotzdem: eindrucksvoll, die Bilder sind deutlich und die Stimmung kommt sehr gut rüber. Weiter so!
Gruß,

chaosqueen

 

Hallo Gerhard,

obwohl dem Text die durchgehende Linie fehlt, liest er sich gut und wirkt spannend. Die offene Form ist sicher gewollt. Es ist eine freie Montage von unterschiedlichen Wahrnehmungen, aber auch unterschiedlichen Textsorten. In gewisser Weise haben Leute wie Alfred Döblin auch so geschrieben.

Aber irgendwo muss dann doch auch Absicht und Ordnung erkennbar werden, oder sagen wir eine Intention des Autors. Die Bilder sind großartig, vor allem im ersten Abschnitt, der aus der Perspektive eines alten Menschen geschrieben ist. Zum Beispiel der Satz "Auf dem Sims steht ein Kaktus Wache". Etwas geziert klingt dagegen der Satz "Gleichmäßige Gevierte schwarzer Garagendächer werden ihr gewahr." Hier, meine ich, sollte man nach einfacherem Stil trachten.


Und auch die Frau am Ende, die froh ist "sich über abgefallenes Laub unterhalten zu können", sollte klarer in die Erzählung eingebaut werden. Es ist wohl die Frau vom Anfang gemeint.

Viele Grüße!

Hans Werner

 

hi Gerhard!
jetzt hab ich doch noch eine KG von Dir gefunden. noch dazu eine alte. Ist jetzt zwar so zu sagen Off-Season, aber das macht ja nix.

Ich muß sagen, normalerweise mag ich keine ; im Text... finde ich meist schlechten Stil. Aber hir passen sie zur Stimmung des Textes. Seltsame Erfahrung... ;)

Sie ist unsichtbar, bestenfalls, dass der Store gelupft sei, könne man von unten erkennen.
mag an mir liegen, aber: warum hier indirekte Rede? wessen Rede?
Wenigstens haben sie den Ahornbaum“, vor ihrem Fenster, „stehen lassen“.
Coole Formulierungsvariante. Einzige Anmerkung: den Punkt am Schluß noch innerhalb der ""
auf den Hauseingang zu geschritten war.
zugeschritten
Rot, wie der den ihm sein Vater zum achtzehnten Geburtstag gekauft hatte.
wie der, den ihm...
Robbie Kammer sieht die Apokalypse;
der ganze Absatz gefällt mir richtig gut. Ein ungewöhnlicher Umgang mit Sprache, und ein schönes "Nicht"-Bild, das Du schaffst. ;)
Und auch ohne aus dem Fenster gesehen zu haben, weiß er wer das war.
"war" finde ich ein wenig verkehrt hier...besser "ist" , oder? Du berichtest doch mehr "live vom Set", oder nicht? und er hört doch grad, wie sie fegt...
„Wohin der immer will“?
das ? innerhalb der ""
so auch alle anderen Satzzeichen dann jeweils...
„Entweder er holt den Kaffeezucker würfelweise aus dem Supermarkt, oder er fährt sich irgendwo beschweren“.
cooler Gedankengang!
Man muss sich wundern, dass sie entgegen der Erdrotation vom Fleck kommt.
noch einer... schön, schön!

reden von der neuen unten.
von der Neuen

von einem Mercedes ausgestiegen
aus einem M. ausgestiegen / gestiegen

Sie hatte einen Sohn, von vielleicht drei Jahren, um den sich offenbar die meiste Zeit ihre Eltern kümmerten. Ihr Vater war es auch,
warum hier Vergangenheitsform?
Versteh ich noch nicht ganz

insgesamt hat Dein Text trotz der Trostlos-Stimmung, die Du zT aufbaust, viele humorvolle oder sartirische Elemente! Gefällt mir sehr!
DIE Frage des Stils... ja, manchmal greifst Du hoch in die Sprachkiste, aber das macht eigentlich nichts. Dieser Text verrtägt es meiner Meinung nach.
Hat mich sehr gefreut, auf diese KG gestoßen zu sein! vor allem sprachlich hat sie eine Menge zu bieten.
Lieben Gruß,
Frauke

 

Ja da schau her,

hat doch tatsächlich jemand meinen alten Blick aus dem Fenster wieder ausgegraben und ihn dann auch gleich noch so zerpflückt. - Danke dafür -. Aber lass mich kurz darauf eingehen:

Zitat I: "Wessen Rede?" - Niemandes Rede, - ihre Gedanken: Sie IST unsichtbar (- da ist sie sich sicher), bestenfalls, dass der Store gelupft sei, könne man von unten erkennen (- das nimmt sie dagegen nur an).

Zitat II & VII: Hab' ich inzwischen gelernt, - Danke! - Wenn dies auch nicht unbedingt immer der Fall sein muss, - zumindest für mein Sprachgefühl nicht.

Zitat III: - Verdammte Rechtschreibreform -, ich hatte gedacht, das hätte sich geändert?? - Offenbar nicht, werd's in Zukunft nicht mehr so machen.

Zitat IV: - Flüchtigkeitsfehler, vielen Dank für den Hinweis. Das kommt auch daher, weil ich immer heilfroh bin, wenn ich den letzten Punkt unter eine Geschichte setzen kann. Ich nehme mir dann zwar immer vor, das ganze beizeiten zu korrigieren, aber irgendwie ist das noch nie passiert.

Zitat V, VIII & IX: *Verbeug*

Zitat IV: - Logikfehler -, verdammt, hast recht. Ich dachte ich hätte sie bereits aufhören lassen zu kehren, aber sie hat ja wieder angefangen.
Auch der Punkt im letzten Zitat (# XII), fällt irgendwie in diese Kategorie.

Zitat X: - Hast wieder recht. Aber ich dachte mal irgendwas von Ausnahmeregelungen diesbezgl. gehört zu haben.

Zitat XI: - Endlich -; hier gefällt mir meine Version besser, aber vermutlich kommt das daher, weil ich für gewöhnlich bayerischen Dialekt rede und da sagt man das dann eher so, wie ich es geschrieben habe.

Noch einmal: VIELENVIELENVIELEN DANK, für deine (aber natürlich auch für die der anderen) Kritik. Allerdings irgendwie habe ich jetzt Skrupel, das auszubessern jetzt hier auf dieser Seite, schließlich wissen dann die nachmaligen Leser gar nicht, was mit deinem Kommentar gemeint ist. - Werd's aber trotzdem tun -, (Yes, I did learn!) überlest ihn einfach. - Vielleicht hät' ich das am Amfang schreiben sollen.

Schöne Grüße jedenfalls, aus München,

Gerhard

 

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