Blind Date
Sie hatte mich eiskalt erwischt. Es war nicht so, daß ich sie irgendwie provoziert hätte, nein, ganz gewiß nicht, denn dafür war meine Angst vor ihr viel zu groß. Doch jetzt saßen wir einander gegenüber. Einfach so. Auch sie respektierte mich auf gewisse Art und Weise, hatte vielleicht sogar Angst, weil ich ihr körperlich überlegen war. Doch davon konnte ich nicht hundertprozentig ausgehen. Sollte ich den ersten Schritt tun, dann konnte ich ihr einfach so zum Opfer fallen. Aus und vorbei. Schon der Gedanke daran ließ meine Schläfen schmerzen. Ich starrte sie an, versuchte, aus ihrer Haltung irgend etwas zu entnehmen, doch ich fand nichts, aber auch wirklich gar nichts.
Der Schweiß rann mir über den Rücken, bitterer Angstschweiß, und ich wagte es nicht, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Ich spürte förmlich, wie die Zeit dahin rieselte, doch ich war nicht in der Lage, vor meiner Gegnerin zu fliehen. Also verharrte ich weiterhin und wartete ab, wann sie den ersten Schritt unternehmen würde, mich angriff. Oder wenn ich nervlich nicht mehr in der Lage war, die Spannung der Situation zu ertragen. Ich wußte, irgendwann würde irgend etwas passieren. Es war nur eine Frage der Zeit.
Während ich meine Blicke starr auf mein Gegenüber heftete, versuchte ich, aus dem Sumpf meiner Erinnerungen die Geschichte unserer Feindschaft heraus zu filtern. Ich dachte lange darüber nach, wie eigentlich alles begonnen hatte. Und es war schwer, jene erste, alles entscheidende Szene heraufzubeschwören. Es war für mich der Schreckenstag meiner frühesten Kindheit, und ich vermag nicht zu sagen, ob diese Erinnerung bewußt ist oder nur auf den Schilderungen darüber aufbaut, die mir meine Mutter später geliefert hat.
Ich war damals wohl im Alter zwischen zwei und drei Jahren, lag in meinem Kinderbett und frönte meinem Mittagsschlaf. Verlangen sie nicht von mir, daß ich mich noch an den Traum von damals erinnere, dafür ist zu viel Zeit verstrichen. Doch ich spüre schon jetzt beim Gedanken daran wieder jenes Kribbeln in der Nase, das mich seinerzeit geweckt hat. Ehe ich die Augen öffnete, fuhr ich mit dem Handrücken ein paar mal über die Nase, und als das nicht von Erfolg gekrönt war, öffnete ich mit der Mühe eines Erwachenden langsam meine schläfrigen Lider. Doch schon Sekundenbruchteile später schloß ich sie wieder. Mein Mund öffnete sich, stieß einen markerschütternden Schrei aus und schloß sich sofort wieder. Ich preßte die Lippen zu einem einzigen dünnen Strich zusammen. Dann hörte ich die herannahenden Schritte meiner Mutter. Schon damals entströmte meinen Poren jener saure Geruch des Todes, geprägt von meiner Angst vor dieser monströsen Spinne. Sie war fast so groß wie mein kindlicher Handteller, und mein Herz raste vor Panik, daß sie mich jetzt, als Strafe für diesen Schrei, sofort töten würde. Endlich nahm ich meine Mutter neben meinem Bett wahr. Ich traute mich noch immer nicht, die Augen zu öffnen. Doch dann hatte das Kribbeln plötzlich ein Ende.
Vorsichtig schaute ich nach oben. Meine Mutter stand da, hatte die Spinne an einem Bein gepackt und ich sah, wie die restlichen durch die Luft ruderten. "Das ist doch nur eine dumme kleine Spinne!" sagte meine Mutter. Mir war, als könnte ich plötzlich in die Augen der Spinne blicken, die angsterfüllt zu meiner Mutter aufsahen. Dann war die Spinne plötzlich aus meinem Blickfeld verschwunden, meine Mutter stampfte mit dem Fuß fest auf und ich hörte ein knirschendes, mahlendes Geräusch. Sie hatte die Spinne zertreten. "So, und jetzt schlaf schön weiter, mein Junge!" sagte sie und strich mir mit der Hand übers Haar. Doch an ruhigen Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken.
Jahrelang begleitete mich die Spinne in meinen Träumen. Und immer wieder sagte sie den selben Satz: "Du hast es zugelassen, daß SIE mich getötet hat!"
Diese eine Begegnung im Kindesalter war der Grundstein unserer distanzierten Feindschaft gewesen. Im Jugendalter dann entdeckte ich die Macht, die ich trotz meiner enormen Angst über diese Untiere hatte. Ich fing sie mit einem Glas ein und stellte sie in die pralle Sonne, ich übergoß sie mit Benzin und zündete sie an, nun, immer wieder weidete ich mich an ihren Todeskämpfen. Ich nahm Rache für das Träume meiner Kindheit. Ich war den Spinnen gegenüber niemals feindlich eingestellt, nein, ich wollte sie schlicht und ergreifend vernichten, sie gänzlich ausradieren, für immer aus meinem Gesichtskreis verbannen. Doch so oft ich auch eine von ihnen unter dem Absatz meines Schuhes zerquetschte, in Brand steckte, vertrocknen ließ, mit kochendem Wasser übergoß oder einfach ein Bein nach dem anderen ausriß, immer wieder begegneten mir neue Artgenossen in allen Variationen und Größen.
Kein Mensch wußte darüber bescheid, daß ich solch panische Angst vor einer Berührung mit diesen Tieren hatte. So war es dann nicht verwunderlich, als ich eines Tages bei der Arbeit meinen Chef ziemlich schockierte. Er war stets darauf bedacht, daß der Teppichboden im Büro gepflegt und sauber aussah. Und außer ihm und mir arbeitete dort niemand. Gut, beizeiten kam seine Frau und gab etwas in den Computer ein, doch die wenigen Stunden, die sie im Büro verbrachte, zählten wohl kaum.
Um also den Anforderungen meines Arbeitgebers gerecht zu werden, sammelte ich jedes Konfetti, jeden Fetzen Papier vom Teppichboden auf, einfach alles, was das Gesamtbild von einem gepflegten Büro und einem renommierten Unternehmen beeinträchtigen konnte. Und dann passierte es eines Tages. Ich hatte eine sehr schlimmer Nacht hinter mir gehabt. In meinen Träumen war ich selbst in einem Spinnennetz gefangen, und je mehr ich mich zu befreien versuchte, um so fester legten sich die Fäden um meinen Körper. Und dann stand SIE mir gegenüber, die Mutter aller Spinnen, so unvorstellbar groß und grausam, mit neun gelblich verschwommenen Augen und gifttriefenden Geifern. Ich schrie meine Angst hinaus, und der Ton, den meine Stimmbänder herauspreßten, ließ mich aus diesem unglückseligen Schlaf erwachen.
Ich wagte es nicht noch einmal, in das Reich der Träume zurückzukehren, ich wollte SIE nicht noch einmal sehen, in ihrer abscheulichen Herrlichkeit. Also griff ich zu meiner altgedienten Bettlektüre und versuchte, die Zeit bis zum Sonnenaufgang mit Lesen zu verbringen. Doch jedes Knistern in den Ecken, jedes Knacken im Vorhang, das kleinste Rascheln und der leiseste Windhauch ließen mich erschauern. Ich fand kaum eine Minute, in der ich nicht irgendwo ein Geräusch vernahm. Heute denke ich, daß mir wohl dieser grausame Traum zu sehr in den Knochen steckte, so daß ich sogar noch Phantomgeräusche vernahm. Also knipste ich jedes Licht und jede Lampe an, die ich in meinem Schlafzimmer hatte, ja, ich holte sogar noch die Stehlampe aus dem Wohnzimmer, um Licht in diese düstere Angelegenheit zu bringen.
Doch die Schatten brachten mir erneut Angst. Gewöhnliche Gegenstände zeichneten sich als unheimliche Schemen an den Wänden ab, und in jedem Schatten konnte eine von ihnen verborgen sein. Es vergingen kaum zehn Minuten, da lag ich schweißgebadet da und wußte nicht mehr ein noch aus. Also packte ich meine Kleidungsstücke und flüchtete hinaus in die letzten Schatten der Nacht. Natürlich konnte ich auch hier nicht vor den Spinnen sicher sein. Der einzige Ort, von dem ich mir genügend Schutz versprach, war mein Auto. Von der Angst in einem abnormalen Wachzustand katapultiert, setzte ich mich hinters Steuer und fuhr. Einfach so. Planlos und ohne Ziel. Drei Stunden lang umkreiste ich die Stadt. Keine Menschenseele war zu dieser späten - oder frühen - Stunde unterwegs. Alle lagen sie in ihren Betten und wahren IHR und IHREN Artgenossinen gnadenlos ausgeliefert.
Endlich fand ich eine Bäckerei, die schon sehr früh geöffnet hatte und bei der ich frühstücken konnte. Die Angst hatte an mir gezehrt, und mein Magen knurrte wie ein Kettenhund. Nach einem ausgiebigen und ermüdenden Frühstück schleppte ich mich dann zur Arbeit. Meinem Gesicht waren die Strapazen der Nacht scheinbar nicht anzusehen. Und selbst wenn, dann hätte ich meinem Chef niemals die Wahrheit sagen können. Warum? Weil er mich ausgelacht hätte, darum. So geschah es dann bei der Arbeit, daß ich einen Fussel auf dem Teppich sah. Wie gewöhnlich wollte ich ihn aufheben und im Papierkorb deponieren. Doch kaum hatte ich dieses Ding zwischen meinen Fingerspitzen, da begannen sich plötzlich Beine zu bewegen.
Ein schriller Schrei kam über meine Lippen und mein Chef fuhr in seinem Sessel zusammen. "Was hast Du denn?" fragte er, doch ich mußte ihm die Antwort schuldig bleiben. Indessen hatte sich die Spinne unter meinem Schreibtisch verschanzt, irgendwo ganz hinten, wo ich sie nicht erreichten konnte. Ich stand Todesängste aus, sobald ich jenem Teil meines Arbeitsplatzes den Rücken kehrte. Ich war mir irgendwie sicher, sie würde mich hinterrücks anfallen, sobald ich ihr den Rücken kehrte. Unzählige Tippfehler schlichen sich in mein ansonsten makelloses Schriftbild ein, jede Sekunde drang neuer Schweiß aus allen Poren meines Körpers und mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkasten.
Jeden Augenblick konnte sie hervor gekrabbelt kommen, sich unter meinem Hosenbein verbergen, mir irgendwelchen Schaden zufügen, dessen Ausmaße ich mir gar nicht ausmalen wollte. Natürlich konnte ich mich niemanden anvertrauen, weil ich mich niemals wegen solch einer Sache der Lächerlichkeit preisgeben wollte. Schließlich hatte meine Widersacherin kaum drei Zentimeter Körperdurchmesser, einschließlich der Beine. Es war eine Sache zwischen ihr und mir. Und allein dieses Bewußtsein machte mir klar, daß ich jeden ihrer Angriffe von vornherein wahrnehmen würde. Ich war mir zwar nicht im geringsten im Klaren darüber, wie sich diese Art von Wahrnehmung gestalten konnte, doch ich wußte, wenn es soweit war, dann würde ich es mit Sicherheit zur Kenntnis nehmen.
Der Arbeitstag ging also reibungslos zu Ende. Sie hatte gemerkt, daß ich ihr in diesem Fall überlegen gewesen war. SIE war die Welt der Spinnen, und ihre Waffen bestanden aus unzähligen Variationen einer Armee von krabbelnden gefährlichen schaffte ich es, eine Bresche in ihrem Verteidigungswall zu schlagen, einen kleinen Triumph gegenüber dieses unvorstellbaren Heeres zu erzielen.
Ich bin mir bis heute noch nicht im klaren darüber, wie SIE soviel über mein Privatleben hatte erfahren können, doch ich vermute, daß ihre Spione mir auf Schritt und Tritt aufgelauert haben. Und eines schönen Tages flatterte mir ein Brief ins Haus. Ich muß gestehen, ich hatte schon immer Schwierigkeiten, eine Frau, eine Freundin, einfach eine Partnerin zu finden. Und weil mich die lange Zeit der Einsamkeit beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte, kam ich vor kurzem auf die Idee, mich per Kontaktanzeige auf die Suche zu machen. Und es kamen Antworten! Nun gut, eigentlich nur eine einzige, doch in der stand alles, was ich von Anfang an zu lesen gehofft hatte. Nur die Bedingungen über unser erstes Rendezvous hatte ich nicht in meiner Hand. Es war von einem Blind Date die Rede. Ort und Zeit standen schwarz auf weiß in diesem Brief, und mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst machte ich mich auf den Weg zu dieser Diskothek, von der ich zuvor niemals gelesen, ja, nicht einmal etwas gehört hatte.
Von außen machte dieses Gebäude einen äußerst seriösen Eindruck, und als ich eintrat war ich sofort von der vorherrschenden Atmosphäre fasziniert. Die Koordination von Beleuchtung, Spiegeln und Möbeln vermittelte einen Eindruck von absoluter Perfektion. Alles war aufeinander abgestimmt, nichts schien irgendwo fehl am Platze zu sein.
Also folgte ich meinen Instruktionen und erkundigten mich beim Barkeeper nach meiner ominösen Verehrerin. Er wies mich auf eine kleine Treppe nach unten hin, die meinen Blicken bisher entgangen war, und ich machte mich gemischter Gefühle auf den Weg in die ungewisse Tiefe. Etwa drei Minuten und zwanzig Stufen später stand ich vor einer großen schwarzen Tür. In goldenen Lettern stand darauf: "Bitte eintreten ohne anzuklopfen!" Also trat ich ein - in einen äußerst stilvoll eingerichteten Raum: Dunkelblaue Teppichböden, Tapeten in Altrosé, und edle dunkle Sitzmöbel verliehen dem Raum ein mehr als gepflegtes Aussehen.
Plötzlich riß sich mir die Türschnalle aus der Hand. Ich hörte, wie von außen (oder im Inneren der Tür) ein Riegel vorgeschoben wurde und bekam es mit der Angst zu tun. Ich preßte mich gegen die Wand. Der Kragen meines Hemdes wurde mit einem mal beklemmend eng, wieder einmal flutete mir der Schweiß in Strömen über Stirn und Rücken, und mein Magen war ein einziger Klumpen der Angst.
Hektisch jagten meine Blicke an den Wänden entlang. Kein Fenster, kein Gitter eines Lüftungsschachtes war auszumachen. Die Atmosphäre meines Rendezvous störte mich mehr und mehr. Und plötzlich glitt die Rückwand des Raumes zur Seite. Ich erblickte nichts als eine abgrundtiefe Schwärze. Dann machte ich ein Geräusch aus. Es war, als würde feines Metall über Stein schaben. Aus der unheimlichen Stimmung wurde schließlich gnadenlose Angst. Ein eisiger Schauder durchfuhr mich, ich begann am ganzen Körper zu zittern. Dieses Geräusch... Es war, als würde etwas gewaltiges auf mich zukommen. Die Töne klangen so riesig und dennoch irgendwie sehr fein. Und endlich sah ich SIE, die Krönung meiner Alpträume, eine Spinne von der Größe eines Kleinlasters. Ihre langen behaarten Beine trugen ihren fetten runden Leib immer näher an mich heran. "Setz dich!" Es war irgendwie seltsam. Sie sagte es nicht zu mir, nein, ich hörte die Stimme in meinem Kopf. Sie sagte es in mir. Und ich gehorchte.
"Wage es nicht, Dich zu bewegen!" Spott schwang in ihren Worten mit und ich verspürte ein Gefühl tiefsten Ekels. Und so sitze ich nun seit wer weiß wie langer Zeit ihr gegenüber. Meine Muskeln schmerzen von der starren Haltung und die Kleidung klebte mir am Leib. Noch immer warte ich das etwas passiert, IRGEND etwas, doch sie läßt sich Zeit. Und ich weiß nicht, was ich jetzt noch tun kann.