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Blind

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01.06.2012
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Blind

Caro warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Graue Wolken hingen über den Dächern der Stadt, vielleicht würde es bald schneien. Sie griff nach ihrem blauen Wollschal, den sie sich dreimal um den Hals schlingen konnte und der die Hälfte ihres Gesichts verdeckte. Unter der warmen Wolle musste sie beim Gedanken an den bevorstehenden Tag lächeln.
Ein ganzer Tag nur Leon und sie. Er würde sie in ein paar Minuten abholen kommen und dann würden sie durch die aufgebrachten Menschen, die verzweifelt versuchten, die letzten Weihnachtsgeschenke zu besorgen, durch die Stadt gehen und die Hektik um sich herum gar nicht bemerken, weil sie nur Augen füreinander haben würden, wie immer, wenn sie sich sahen.
Und wenn sie bei Leon angekommen waren, würden sie die Geschenke austauschen und vielleicht einen Film ansehen.
Verträumt sah Caro aus dem Fenster und hoffte, Leons Gesicht mit den Sommersprossen und den braunen Augen, die sie so sehr mochte, auf der anderen Seite der Scheibe zu entdecken, aber sie sah nur die Sternengirlande im Fenster des Nachbarhauses.
"Caro?" Sie fuhr herum und stellte fest, das ihre Mutter hinter ihr stand und sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah.
"Wo soll es denn hingehen?", fragte sie, dabei wusste sie genau, wo Caro hinwollte. Sie wollte ihr doch nur den schönen Tag kaputt machen.
"Zu Leon", murmelte Caro widerwillig in ihren Schal hinein.
"Du warst doch gestern erst bei ihm", erinnerte ihre Mutter sich.
"Ja und? Mama, er ist mein Freund, ich verbringe eben gerne Zeit mit ihm!"
"Und was ist mit Marie?", fragte die Mutter.
"Marie?" Caro sah sie einige Sekunden lang mit gerunzelter Stirn an.
"Marie ist deine beste Freundin, falls du dich nicht mehr an sie erinnerst." In der Stimme ihrer Mutter schwang jetzt ganz deutlich Wut mit. Caro zuckte unwillkürlich zusammen.
"Natürlich erinnere ich mich", antwortete sie trotzig. "Warum, will sie vorbeikommen?"
"Caro, sie kommt doch jedes Jahr vorbei!" Ihre Mutter sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. In ihrem Blick lag Enttäuschung.
Caro stand wie angewurzelt vor dem Fenster. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie hatte es tatsächlich vergessen. Leon konnte sie jetzt nicht mehr absagen, er würde bestimmt wütend sein, wenn sie ihn einfach wieder nach Hause schickte. Vielleicht würde er dann sogar mit ihr Schluss machen. Caro wollte die Beziehung unter keinen Umständen gefährden, sie waren doch gerade so glücklich. Sie würde Marie einfach anrufen, gegen Abend würde sie bestimmt wieder zuhause sein, dann konnte Marie ja noch kurz vorbeikommen. Ja, so würde sie es machen.
"Du verbringst in letzter Zeit sowieso so wenig Zeit mit deinen Freundinnen und auch mit Papa und mir." Die Mutter war näher gekommen. Sie blickte mit traurigen Augen auf Caro hinunter. Sie wollte die Arme um Caro schlingen, aber diese wich zurück, als sie Leon im Fenster bemerkte, der vor ihrem Haus stehen blieb.
Caro griff nach der Tüte, in der ihr Geschenk für Leon lag und stolperte blindlings nach draußen.
"Ich bleib auch nicht so lange!", rief sie in den Flur, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.
"Wie, du bleibst nicht lange?" Leon sah sie mit seinen braunen Augen misstrauisch an.
"Eine Freundin von mir kommt später noch vorbei," sagte sie.
"Ich dachte, wir verbringen den ganzen Tag zusammen." Leon klang so gekränkt, dass Caro ihn erschrocken ansah.
"Ja, machen wir ja auch, ich bleib so lange ich kann..."
"Willst du überhaupt mit zu mir kommen? Hast du dich nicht wenigstens ein bisschen darauf gefreut?"
Caro hatte alle Mühe, Leons schnellen Schritten zu folgen, der vor ihr davonzulaufen schien.
"Natürlich habe ich mich darauf gefreut!", beteuerte sie und sie konnte nicht verhindern, dass sie verzweifelt klang. Leon antwortete ihr nicht.
"Aber wenn du willst, dann bleibe ich bis heute Abend, Marie muss mich ja auch nicht unbedingt heute besuchen!" Fügte sie hinzu, bereute es aber im selben Moment wieder.
Leons Gesicht hellte sich endlich auf. "Bestimmt, und heute machen wir uns einen richtig schönen, gemütlichen Tag, genau so, wie wir es geplant haben!"
Er griff nach ihrer Hand. Caro nickte und bemühte sich, unbeschwert zu wirken und sich nichts anmerken zu lassen. "Marie wird das schon verstehen", dachte sie, um sich zu beruhigen.

Mit der in goldenes Papier gehüllten Fotocollage zwängte Marie sich zwischen Mänteln und Taschen hindurch in die vollbesetzte Bahn.
Die Türen glitten zu und die Haltestation mit all den Menschen, bunten Plakaten und gefliesten Mauern zog an ihr vorbei.
Düfte unzähliger Parfüms vermischten sich in der stickigen Luft und sie wurde gegen die dicken Winterjacken der ungeduldigen Passagiere gepresst, die hofften, in der Innenstadt noch die letzten Weihnachtsgeschenke ergattern zu können.
Trotz all dem Getümmel blieb sie ganz ruhig. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie an den Tag dachte, der ihr bevorstand. Ein Tag mit Caro, ihrer besten Freundin. Endlich mal wieder nur sie zwei, wie jedes Jahr an diesem Tag. Es war schwer geworden, sie zu treffen, seit sie mit Leon zusammen war. Sie war nur noch selten zuhause und sie rief nicht mehr so oft an wie früher, selbst sie über ihr Handy zu erreichen, war nicht immer einfach, denn wenn sie mit Leon unterwegs war, wollte sie natürlich nicht von Anrufen gestört werden.
Aber Marie wusste, dass Caro sie nicht vergessen hatte, dass sie ihr genauso wichtig war wie vorher und das sie schon auf sie wartete. Caro kannte sie jetzt schon so lange und sie hatte ihr in all den Jahren immer wieder gezeigt, dass sie Marie brauchte.
Sie drückte das Geschenk schützend gegen ihre grüne Daunenjacke, als die Türen der U-Bahn aufglitten und Menschen aus und einstiegen. Noch zwei Stationen, dann war sie da.
Selbst in der vollgestopften U-Bahn, spürte Marie, dass heute Heiligabend war. Es waren die hektischen Blicke der Menschen, die sich fragten, wie sie all die Geschenke bis zum Abend auftreiben sollten, hier und da ein Lächeln, von denen, die sich darauf freuten, ihre Familien endlich wiederzusehen und die Gewissheit in den Köpfen Aller, dass heute ein ganz besonderer Tag war.
Zum zweiten Mal öffneten sich die Türen. Nur noch eine Station.
Heute Abend würde all die Hektik verflogen sein. Heute Abend würde alles still sein. Aber die Hektik gehörte zu diesem Tag dazu. Alle liefen verzweifelt umher und nicht wenige wünschten sich, dass Weihnachten in diesem Jahr einfach ausfallen würde aber am Abend war alles still, am Abend war alles gut.
Marie spürte, wie das Geschenk langsam schwerer wurde und ihren Arm zu Boden zu ziehen schien. Erwartungsvoll sah sie zum Fenster hinaus, an dem das dunkle Mauerwerk vorbeizog, doch plötzlich wurde es wieder hell, wartende Menschen, bunte Werbeplakate und gelbe Fliesen erschienen. Marie ließ sich vom Strom der aussteigenden Menschen treiben und fand sich wenig später neben der U-Bahn inmitten fremder Gesichter wieder.
Das Geschenk noch immer fest an sich gepresst, bahnte sie sich ihren Weg ins Freie. Es hatte angefangen zu schneien. Sie streckte den Kopf hoch zum Himmel und sah die winzigen Schneeflocken langsam auf sich zukommen. Ihr Atem hinterlies neblige Wolken in der kalten Luft und sie ging über den belebten, mit Schnee bedeckten Platz, an dessen Ende sie in eine schmale Gasse einbog, die Straße, in der Caro wohnte.
Ihr Haus war ein kleines, altes Reihenhaus mit einem blassgelben Anstrich. Eingeengt stand es in der Mitte der Straße, deutlich kleiner als all die anderen Häuser , als müsse es sich vor etwas verstecken.
Sie streckte ihre vor Kälte zitternde Hand aus und klingelte. Nichts regte sich. Sie klingelte ein zweites Mal. Normalerweise hörte man Caro schon nach dem ersten Klingeln die Treppe hinunterpoltern, aber heute blieb es still. Sie warf einen kurzen Blick durch das Fenster. Es brannte Licht. Sie klingelte zum dritten Mal.
Endlich hörte sie Schritte und setzte ein freundliches Lächeln auf, um Caro zu begrüßen, aber in der Tür stand nicht sie selbst, sondern ihre Mutter.
„Ähm, Hallo... ich wollte zu Caro,“ sagte Marie etwas verwirrt.
„Hallo Marie, Caro ist bei Leon, tut mir leid,“ sagte sie. Ihr Blick glitt an ihr hinunter und blieb an dem Geschenk hängen. „Du kannst es ihr ja morgen oder übermorgen vorbeibringen. Willst du kurz reinkommen, um dich ein bisschen aufzuwärmen?“ Marie hörte Mitgefühl in ihrer Stimme. Es tat ihr leid, dass sie den ganzen Weg hergekommen war und jetzt allein hier draußen in der eisigen Dezemberluft stand und auch Marie konnte ihre Traurigkeit kaum verbergen.
„Nein danke, das ist wirklich nicht nötig, ich fahre wohl besser wieder heim. Frohe Weihnachten,“ brachte sie mit einem riesigen Kloß im Hals heraus, bevor sie sich umdrehte und durch die schimmernden Schneeflocken zurück zur U-Bahn Station ging.
Das erste Mal seit zehn Jahren würde dieser gemeinsame Tag ausfallen, weil Caro ihn lieber mit Leon verbrachte, als mit ihr. Sie hatte ihr nicht einmal gesagt, dass sie heute nicht zuhause war, dabei wusste sie doch, dass sie jedes Jahr zu Besuch kam und sie hatte sich doch auch immer darauf gefreut.
Es fühlte ich so grausam an, vergessen worden zu sein, von dem, den man selbst nie vergessen wollte.
Um Marie herum liefen noch immer all die hektischen Menschen, es schein, als sei die gesamte Stadt auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken. Trotzdem fühlte sie sich, als wäre sie allein auf dem riesigen Platz. Ein einsames Mädchen, das ein in goldenes Papier gehülltes Geschenk über einen Platz voller Menschen schleppte.

 

Hallo Windrose,

Deine Protagonistin ist enttäuscht, weil sie sich auf ein Treffen gefreut hat, dass für ihre Freundin belanglos geworden war. So würde ich Deine Geschichte zusammenfassen. Ich sehe das eher als Fragment und nicht als Geschichte. An folgenden Stellen würde ich ansetzen:

Es war schwer geworden, sie zu treffen, seit sie mit Leon zusammen war.
Wie wäre es, wenn Du das mit ein paar kleinen Szenen zeigst?

Aber ich wusste, dass sie mich nicht vergessen hatte, dass ich ihr genauso wichtig war wie vorher und das sie schon auf mich wartete.
Woher weiß sie das? Kannst Du mir (als Leser) das zeigen? Wie wäre es, wenn Marie zweifelt?

Ähm, Hallo... ich wollte zu Caro,“ sagte ich etwas verwirrt, als ich den irritierten Blick ihrer Mutter bemerkte.
„Hallo Marie, Caro ist bei Leon, tut mir leid,“ sagte sie. Ihr Blick glitt an mir hinunter und blieb an dem Geschenk hängen.
Vielleicht trifft Caro auf ihre Mutter bevor sie zu Leon geht. Wie reagiert Caro, wenn ihre Mutter sie dran erinnert, dass Marie doch jedes Jahr kommt? Wie reagiert Caro auf eine Frage der Mutter, was sie denn dieses Jahr Marie schenkt? Hier kannst Du Caro so richtig zappeln lassen.

Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, das Liebe blind macht, blind für Alles andere, sogar für das, was einem früher am Wichtigsten war. Es fühlte ich so grausam an, vergessen worden zu sein, von dem, den man selbst nie vergessen wollte.
Diese Bewertung möchte ich als Leser nicht so direkt vorgegeben kriegen. Stattdessen könntest Du noch mehr von der Enttäuschung zeigen. Steht sie nur auf dem Platz herum? Oder streicht sie Caros Telefonnummer aus ihrem Adressbuch? Oder schickt sie ihr das Buch zusammen mit einer bissigen Weihnachtskarte? Oder wirft sie es einfach weg? Oder geht sie zu Leon und knallt es Caro vor die Füße?
Das reicht an Beispielen.

Insgesamt sind da einige Stellen, wo Du einfach etwas hinstellst, was Du auch an Deinen Charakteren zeigen kannst. Aber die darfst Du selbst finden. Wenn Du Deinen Charakteren mehr Luft gibst, hast Du ein paar schöne Konflikte für die Geschichte: Marie - Caro, Caro - Mutter, vielleicht auch Caro - Leon. Hier gibt es viele Möglichkeiten. Ich bin gespannt, was Du draus machst.

Frohes Fest
Peter

 

Hallo Peter Franke,

vielen Dank für deinen Kommentar, durch ihn habe ich erkannt, dass eigentlich noch sehr viel mehr in der Geschichte steckt und das ich sie noch deutlich verbessern kann.
Ich denke, ich werde auf jeden Fall das Gespräch zwischen Caro und ihrer Mutter am Anfang der Geschichte einfügen.

Ich wünsche dir einen guten Start ins neue Jahr.
Viele Grüße von Windrose

 

Hallo Windrose,

die Szene zwischen Caro und der Mutter hat der Geschichte gutgetan. Allerdings solltest Du überlegen, ob Du für den ursprünglichen Teil bei der Ich-Perspektive bleiben willst. Der Wechsel der Erzählperspektive mitten in der Geschichte führt zu einem Bruch, der mich als Leser erstmal aus der Bahn wirft.

Die Wut der Mutter kommt für mich auch etwas plötzlich. Das wirkt auf mich sehr aufbrausend. Entspricht das dem Charakter der Mutter, so wie Du ihn haben willst? Weiter unten rückt sie ja damit raus, dass Caro in ihrem Augen zuviel Zeit mit Leon und zuwenig mit ihren Eltern verbringt. Den Konflikt hast Du gut gewählt. Auf der einen Seite zieht die Mutter, auf der anderen Seite zieht Leon. Und Caro mittendrin im Spagat. Es bleibt noch offen, ob die Mutter hier in erster Linie an sich denkt und die Marie nur als Hebel benutzt, um Caro von Leon zu lösen.

Aber gucke Dir erstmal die Sache mit der Erzählperspektive an. Wenn Du durchgehend aus der allwissenden Position heraus erzählst, dann kannst Du leicht auch mehr vom Innenleben der Mutter zeigen, wenn Du möchtest.

Gruß

Peter

 

Hallo Peter Franke,

Freut mich, dass du die Szene zwischen Caro und ihrer Mutter gut gelungen findest.
Nachdem ich über deinen Tipp nachgedacht habe, die gesamte Geschichte aus der allwissenden Position heraus zu erzählen, ist auch mir aufgefallen, dass der Text so flüssiger und angenehmer zu lesen ist.
Ich habe also die gesamte Geschichte aus der allwissenden Position heraus geschrieben.
Zu Caros Mutter: Du hast recht, sie wirkte doch sehr wütend und aufbrausend, das ist mit im ersten Moment gar nicht so stark aufgefallen. Ich habe den ein oder anderen Satz im Gespräch mit Caro verändert und denke, dass sie jetzt nicht mehr so aufbrausend, sondern eher entäuscht wirkt.
Es ist schön, das Caros Problem, ein Leben zwischen Familie, Freunden und ihrem Freund zu leben und dabei möglichst niemanden zu vernachlässigen, für dich deutlich wurde.
Danke für deinen Kommentar.
Viele Grüße von Windrose

 

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