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Blinde(s) Vers(t)ehen

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08.12.2004
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Blinde(s) Vers(t)ehen

Blinde(s) Vers(t)ehen

Der Mann, der da auf der Bank saß, wirkte ganz anders als all die anderen Alten, die hier auf den Bänken saßen. Er starrte wie gebannt auf den Marienkäfer in seiner Hand, schien völlig unbeeindruckt von dem ganzen Lärm um ihn herum. Die dröhnenden Autos, die kreischenden Kinder, er schien sie gar nicht zu bemerken. Ich ging nicht oft durch diese Gegend, es hieß, sie sei der Treffpunkt der Gescheiterten und Verlierer. Trostlos, ganz im Gegensatz zu anderen Teilen des Parks, lag sie nahe einer der Hauptverkehrsadern der Stadt, alle, die hier ihre Zeit verbrachten, mussten gescheiterte Existenzen sein, die ihr Selbst wohl nie finden würden. Und da saß nun dieser gebrechlich wirkende Mann, der mich auf eine mir bisher verborgene Weise zu beeindrucken vermochte. Wie gebannt starrte ich eine Weile auf ihn, wollte begreifen, was diese Faszination ausmachte, ich schritt wie von selbst auf ihn zu. Der Mann schien nichts um sich herum wahrzunehmen, er verharrte mit seinem Blick auf dem Tier, das ohne Regung auf seiner Händfläche saß. Die meisten Menschen reden mit Tieren, er tat es nicht. Der Käfer regte sich längere Zeit nicht, ich wendete meinen Blick wieder dem Alten zu, wenig später saß ich neben ihm auf der Bank, unentwegt starrend. Da plötzlich blickte er auf, ohne erkennbaren Ausdruck im Gesicht zwar, aber seine Augen sagten umso mehr. Selbst, wenn er eine Frau in einem aufreizenden Kleidchen gewesen wäre, so hätte ich ihr doch in die Augen schauen müssen. Üblicherweise halte ich die Aussagekraft von Augen für unerheblich, bei den meisten Menschen zeigen sie doch nur, dass sie letzte Nacht zu wenig Schlaf hatten. Üblicherweise! Noch nie war ich gefesselt wie in diesem Augenblick, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich krallte mich an die Sitzfläche der Bank, mein Atem stockte.

Sein Gesicht war durchzogen von Falten. Tiefe Gräben und Furchen, die er wohl gar nicht erst versuchte mit jenen Cremes und Wässerchen zu bekämpfen, die es jetzt selbst für Kinder zu kaufen gab. Während ich in diesen metrosexuellen Gedanken schwebte, fing der wohl alte Mann an, seinen rechten Arm im Halbkreis hin und her zu schwenken. Wie die ebenfalls alten Indianer in Filmen, dachte ich, ich vermisste nur die Pfeife in der Linken. Und: wo war das „How!“, mit dem man seinen Willen zur freundlichen Konversation kund tat? Die Situation wirkte sowieso nicht sonderlich authentisch, denn dieser Indianer sah nicht aus wie ein Indianer. Weder war seine Haut Apachen-rot noch glich sein altes Tweed-Sakko einer selbstgegerbten Büffel-Haut. Ohne Unterlass schwenkte er seinen Arm, ich glaubte an eine Geste des Grußes und reichte ihm, wie in unseren Breiten üblich, die Rechte. Der Alte blickte ein wenig verwirrt auf die ihm zugestreckte Hand, aber wohl zum Zwecke der Völkerverständigung ergriff er sie. Und dies mit einer Kraft, die wiederum einer Rothaut glich. Bald schon war zwischen uns ein inneres Verständnis erwachsen, das es so selbst zwischen meiner Ex-Frau und mir nie gegeben haben mochte. Schweigend, nur einander anblickend, saßen wir dort möglicherweise Stunden, vielleicht nur Sekunden, jedoch geprägt von einer Intensität, die jeder Beschreibung entsagte. Ich konnte die herzliche Wärme des Mannes förmlich spüren, vergessen war die Absurdität des ersten Augenblicks, jetzt konnte ich ihn verstehen. Mit einem Mal, ich war beseelt vom Glück, entzog er seine Hand der meinen und zeigte auf die anderen Alten, dann auf mich und zuletzt tippte er mit dem Finger auf die linke Hälfte seiner Brust. Immer wieder tat er diese Geste, zeigte auch auf umherfliegende Vögel, auf die spielenden Kinder und selbst auf die Bank, auf der wir saßen. Vielleicht sollte diese Geste Ausdruck der im Westen bekannten Indianer-Weisheit „Wir sind eins“ sein, aber bedingt durch sein wortkarges Wesen konnte ich dieses nicht einwandfrei feststellen.

Wer war jener Mann, der es bis jetzt noch nicht fertiggebracht hatte, verbal aktiv zu werden? Ging er davon aus, dass ich, durch sein Verhalten geradezu genötigt, eine gezwungene Unterhaltung beginnen, deren Thema womöglich sie selbst sein würde? So war der Indianer also gepolt: er wollte durch seine sonderbare Art Aufmerksamkeit und Interesse anderer wecken, solche Interessenten jedoch dann mit seinem andersartig unfreundlichen Auftreten auflaufen lassen. Ohne etwas gesagt zu haben wirkte der Alte schon abweisend und kühl, die anfängliche Faszination war nur Trug gewesen, jetzt da ich es besser wusste, nun, da ich diese wahrlich billige Masche durchschaut hatte. Auf diese Weise hatte er sein Spiel schon mit vielen unbescholtenen Menschen getrieben, die mit guten Absichten zu ihm kamen. Sicherlich unterschiedlich motiviert, aber alle von ihm auf die gleiche Weise zurückgewiesen. Wie ich waren sie auf die anfängliche, nun selbstverständlich nicht mehr präsente Faszination, die der Alte wohl glaubte auszustrahlen, hereingefallen, hatten sich neben ihn gesetzt, um dann letztendlich in Selbstzweifel getrieben zu werden von diesem berechnenden Opa - obschon diese Begrifflichkeit sicher nicht zutrifft, denn ein Vater, geschweige denn ein Großvater war dieser Mensch sicher nicht . Ich stand auf, sah ihn noch einmal mit dem mir bestmöglich boshaftesten, düstersten und gemeinsten Blick, der meinen Gefühlen jedoch nicht gerecht zu werden vermochte, an, und mich überkam die Gewissheit, dass der Marienkäfer nicht freiwillig, sondern tot auf seiner Klaue lag!
Dann ging ich Meinen Weg.

 

Wilkommen bei kg.de, Fabianelli!

Ich interpretiere das mal so, dass der Mann (wie es einem sofort vorkommt) taub ist.
Aber er ist ein faszinierender Mensch, doch der Erzähler ist ein Mensch ohne Verständnis, der die Dummheit vieler Menschen ausstrahlt, sich jedoch auch bemühen will auf andere zuzugehen, usw.
Natürlich kann man es auch anders interpretieren, ohne jedoch die Auffassung des Erzählers anzuerkennen.

Was ist die Botschaft dieser Geschichte?
Ich bin mir nämlich nicht sicher, aber ich glaube da steckt noch etwas dahinter...

MfG,
Hancock

 

danke erstmal für die stellungnahme, hancock. wie du schon sagtest, geht es in der geschichte um die allgemeine verblendung, die in unserer gesellschaft alltäglich ist. und da hast selbst du gerade deinen beitrag dazu geleistet, indem du selbstverständlicherweise davon ausgehst, der alte mann sei taub. warum? geschrieben steht das nirgendwo. der alte ist andersartig, aber selbst nach unseren maßstäben ist er nicht unfreundlich. der erzähler interagiert hier nicht mit dem alten mann sondern mit dem, was er für den alten hält. gewissermaßen reder er mit seinen klischees, denn alles, was er in der geschichte als tatsache darstellt sind in wahrheit nur vorurteile. selbst im ersten teil, als er noch fasziniert ist vom alten, ist diese faszination unbegründet. das kann man auch auf den Alltag abstrahieren, denn alles, was polarisiert erfreut sich heute größter beliebtheit( z.B. BigBrother, Dieter Bohlen etc.). die ganze geschichte ist eine anhäufung von vermutungen, vorurteilen und trugschlüssen. würde mich über kritik etc. freuen,
mfg, fabianelli

 

Hallo Fabianelli,

ich fand deine Geschichte zu Anfang recht interessant und habe überlegt welchen Zweck der Alte mit seinem Schweigen verfolgt. Leider hat mich der Rest nicht wirklich beeindruckt, die offensichtlichen Unterstellungen und Vorurteile waren mir besonders im letzten Abschnitt viel zu dick aufgetragen.
Allerdings muss ich sagen das mich das Thema der Geschichte insgesamt doch angesprochen hat.

Fazit: Schöner Gedanke eine Geschichte nur durch Vorurteile funktionieren zu lassen, aber etwas zu viel des Guten.

Gruß
nighty

 

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