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Blinde Wut
Sterne am dunklen Himmelsdach haben seit jeher eine anziehende Wirkung auf ihre Betrachter. Ganze Sommernächte kann man auf Wiesen verbringen, mit oder ohne Fernrohr; den fernen Sonnen Namen geben oder von neuen fantastischen Welten mit ihnen träumen. Sie sind der Ereignisse Spiegel, die einmal vor langer Zeit passiert sind und werden in der Gegenwart zu den selbigen. Hell strahlen sie wie kleine Laternen durch die Dunkelheit und wer genau hinsieht, bemerkt, dass sie sogar ebenso flackern. Sie sind der Zufluchtsort derjenigen, die in die Ferne streben, weil ihre Heimat nichts mehr Vertrautes bietet. Nicht nur diese Flüchtenden, sondern viele haben versucht, nach ihnen zu greifen. Wohl ist es niemandem gelungen. Wie an Idealen, kann man sich wie in einer wolkenlosen Nacht auf hoher See nur an ihnen orientieren. Doch wer gibt dieses Ziel schon kampflos auf, wenn die Schlacht in der Gegenwart die Welt und alle Erinnerungen zerfetzt und vergiftet hat?
„Sterne erlöschen?“, fragte Moran Lamarus ungläubig und wuschelte sich erstaunt durch sein dunkelgraues Haar. Sein rundliches Gesicht wurde von einem Bart der gleichen Farbe überwuchert. Nur zwei kleine bernsteinfarbene Äuglein blickten wachsam auf die Umgebung. Ein weißes ausladendes Gewand vermochte nicht ganz die Folgen von vielem guten Essen verbergen.
„Ich habe heute mehr von ihnen verschwinden sehen, als dass ich Neue zählen konnte!“, erwiderte eine junge Frau aufgebracht. Ihre Mundwinkel zuckten, was ihren feinen Gesichtzügen einen unnatürlich strengen Ausdruck verlieh. Ihre Hände, die von einem schwarzen Leinengewand teilweise verdeckt wurden, verkrampften. Nervös fuhr sie sich mit einer Hand durch ihr langes, braunes Haar.
„Das ist relativ unwahrscheinlich, Elaia. So etwas hat es noch nie gegeben. Warum sollte es auf einmal in Massen geschehen? Und zu welchem Zweck? Ich werde es dir beweisen!“ Mit der rechten Hand wühlte er in der Innentasche seines weißen Gewandes und förderte einen schwarzen Stein zu Tage. Diesen platzierte er vor sich auf ein kleines Tischchen und fuhr mit dem Zeigefinger behutsam über dessen matte Oberfläche. Jäh brach Schwärze aus dem Stein hervor, umhüllte den Magier und Elaia und flutete den gesamten Raum. Kleine Lichter blitzen in der Dunkelheit auf und bildeten kurz darauf das nächtliche Firmament nach. Dann verschwammen sie wieder und bildeten erneut Sterne.
Der Magier zeigte auf ein Gebiet, in dem sich die beiden Bilder unterschieden. „ Siehst du, das hier kam durch die Sternzählungen dieser Nacht hinzu. Es gibt aber keine Stelle, an der Sterne erloschen wären.“
„Aber, Moran, ich habe es doch genau...“, versuchte Elaia verzweifelt entgegenzuhalten.
„Ich denke, du solltest dir diese Nacht frei nehmen“, unterbrach Moran sie in väterlichem Ton. Im fahlen Licht der Sterne sah er alt aus, beinahe so alt wie die Himmelslichter selbst.
Sie öffnete ihren Mund um lautstark zu protestieren, anstatt dessen schloss sie ihn wieder. Ihren Meister von etwas zu überzeugen war unmöglich.
Moran sah verträumt zu den Sternen hinauf und brummte wehmütig: „Wenn wir nicht wären, würde sich niemand für euch interessieren. Was ist aus der Welt bloß geworden?“
Mit einer Handbewegung trieb der Magier die Nacht wieder zurück in den schwarzen Stein. „Benutze doch deine Magie um mir das Gegenteil zu beweisen.“
Elaia schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass ihr braunes, langes Haar wild durch die Luft flog. „Nein, auf keinen Fall! Du bist ja verrückt!“
Nur bei der Erwähnung dieses Wortes wurde die Welt um sie herum ein Stück dusterer. Eine Hitzewelle überrollte sie gefolgt von einem eisigen Schauer.
„Du solltest endlich über den Vorfall hinwegkommen.“
Elaia nahm sich zusammen, setzte ihre Maske der Unbeschwertheit auf und rollte mit den Augen: „Jaja...aber Moran, ich bin mir wirklich...“
Moran hob seinen rechten Zeigefinger vor den Mund: „Ruh dich aus. Morgen wird die Welt wieder anders aussehen.“
Sie nickte wiederwillig, obwohl es in ihrem Inneren, wie in der untersten Hölle brodelte und verließ das Arbeitszimmer von Moran Lamarus, dem Herrn des Nachtfalkenschlosses.
Anstatt sich aber in ihr Schlafgemach zu begeben, stieg sie wutentbrannt die Treppe des Hauptturm im kleinen Schlösschen bis zur obersten Plattform hinauf. Wie konnte Moran an ihren Sinnen zweifeln? Sie brauchte keine Ruhe!
Ein eisiger Wind wehte ihr entgegen, als sie aus den schützenden Mauern trat. Graue Wolken jagten vorbei. Würden sie sich zusammenrotten, würde es regnen – oder vielleicht sogar schneien.
Trotz der Kälte, war sie nicht alleine dort oben. Vay, ein weiterer Schützling Morans trotze dem Wetter, stand an der Brüstung und blickte einsam in die Tiefe. Seit seiner Ankunft auf dem Schloss hatte er kaum ein Wort mit anderen gewechselt. Meist reagierte er nicht einmal auf die Anwesenheit anderen Menschen, lebte irgendwie in einer Welt, die er sich aus seinen eigenen Gedanken und Erinnerung konstruiert hatte. Er hatte einmal das Zimmer neben Elaias bewohnt und sie konnte sich noch zu gut an die Schrei nachts aus seinem Raum erinnern. So, dass seine Alpträume nun auch zu den ihrigen geworden sind. Lieber wollte sie sich nicht vorstellen, welcher Teufel sein Leben in dieser Welt zerstört hatte, dass er sich in eine andere zurückziehen musste.
Elaia stelle sich neben ihn an das steinerne Gelände, trommelte mit den Zeigefingern darauf und blickte hinab auf die Erde, die Hunderte von Metern unter dem Luftschloss vorüber zog. Ob dort unten wohl jemand die selbe Entdeckung wie sie gemacht hat? Wie würde er nun handeln?
„Du hast es auch bemerkt, nicht?“, flüsterte plötzlich jemand neben ihr. Elaia zuckte erschrocken zusammen und blickte Vay mit großen Augen an. Er redete, mit ihr! Wie immer war sein blondes Haar ungekämmt – erinnerte ein bisschen an einen streunenden Hund. An seinem äußerst mageren Körper flatterten abgetragene Kleindungstücke im Wind, die so ganz und gar nicht zusammenpassen wollten. Nicht einmal zwei gleiche Stiefel trug er. Er war sozusagen die leibhaftige Hölle für seine Kleiderstück.
„Du, du hast es auch bemerkt, nicht?“, wiederholte er mit Nachdruck. Sein Blick weilte immer noch irgendwo in der Ferne.
„Ja...“, erwiderte sie und wieder keimte Wut in ihr empor.
„Dann musst du mir helfen“, erklärte er weinerlich.
„Moran sagt, es sei nur Einbildung“, sie ballte unwillkürlich ihre Hände zu Fäusten und schlug auf die Brüstung. Dieser Besserwisser!
Vay gab ein tiefes Knurren als Antwort. „Ich werde dir das Gegenteil beweisen.“
Abrupt drehte er sich zu Elaia um. Verunsichert wich sie einen Schritt zurück.
„Keine Angst“, beruhigte er sie und das erste Mal fixierten seine Augen die ihren. Sie waren so eisblau, dass Elaia ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Vay hob seine Hände und berührte mit seinen Fingerspitzen sanft ihre Schläfen. Feuer überflutete ihr Gehirn. Farben und Formen explodierten, begannen unter einem kreischenden Geräusch immer schneller und schneller einen tödlichen Reigen um sie. Plötzlich stand alles still und dann fand sie sich auf einer großen Wiese wieder. Es war Nacht. Ein pastellfarbener Mond war aufgegangen und wachte über die schlafende Welt. Neben ihr stand Vay und hielt sie fest. Wahrscheinlich wäre sie sonst zusammengebrochen. „Wo sind wir?“
„In meiner Welt“, erwiderte er ruhig.
„In deiner Welt?!“ Du meinst wohl eher in deinen abstrusen Gedanken, dachte sie ohne es laut zu sagen. Wobei diese beim zweiten Hinsehen ganz malerisch aussahen - eben wie gemalt.
Elaia und Vay befanden sich inmitten einer weitläufigen Steppenlandschaft, die nur von vereinzelten Bäumen und Sträuchern unterbrochen wurde. Dunkelbraune Striche formten sie, wie in einem impressionistisches Gemälde, verflossen mit dem Hintergrund, als wären die Farben noch nicht trocken. Lauer Wind spielte mit ihrem Haar. Es war gerade richtig warm, um Sterne zu betrachten. Kopfschüttelnd blickte sie in den Himmel empor. Die Konstellationen waren ihr unbekannt. Da flackerte ein Teil des Himmels grell auf, veränderte seine Farbe - rot, gelb, grün, rot, weiß - um in absolutem Schwarz zu verschwinden. Als hätte jemand die Sterne mit Deckfarbe übermalt. Verwirrt sah sie zu Vay auf. Ein trauriger Blick huschte über sein Gesicht: „Meine Welt stirbt, weil unsere Sterne sterben.“
„Wie bitte?“
„Du weißt, aus was Sterne sind?“
„Aus Licht, aus Energie, nehme ich mal an.“ Woher sollte sie das wissen!
„Energie ist richtig. Aber woher erhalten sie die?“
„Keine Ahnung?“
„Du arbeitest für Moran, aber weißt das nicht?“ Er lachte leise auf.
„Unsere Erinnerungen werden zu diesen Lichtern. Darum lässt Moran Lamarus uns sie zählen und erforschen. Er will dem Mechanismus, der sich dahinter verbirgt auf die Spur kommen. Was hätte man für Macht, wenn man sich Zutritt zu diesen Sternen und unseren Erinnerungen verschaffen könnte!“ Er zog eine Augebraue hoch: „Ich hätte erwartet, dass du als Magierin von selbst darauf kommst. So wie Erinnerungen Sterne bilden, so lässt doch die Kraft deiner Gedanken Magie entstehen. Ist nicht so verschieden.“
„Ich beschäftige mich nicht mehr mit Magie“, brummte sie bockig und hätte ihm am liebsten ihre Meinung über seine überhebliche Art gesagt.
„Das ist aber unser einziger Ausweg“, entgegnete er und seine Augen suchten verzweifelt die ihren. „Bitte. Wenn die Sterne verschwinden, werden wir zu lebenden Toten, werden wir unserer Menschlichkeit beraubt.“
Sie blickte mit Horror in den Augen zurück und schüttelte entschieden den Kopf: „Nein, ich kann es nicht und konnte es eigentlich noch nie.“ Wieder wurde die Welt ein bisschen dunkler und ihrem Geist entrückt. Als wäre sie nur ein Art Zuschauer in einem abstrusen Schauspiel. Aber einem, bei dem sie nicht aufstehen konnte, auch wenn sie den Zynismus überhaupt nicht lustig fand. Doch fing sie sich sofort wieder.
„Warum, ich dachte...?“, fragte er stirnrunzelnd.
„Dachtest... ha! Mein Mann ist durch meine Inkompetenz zu Staub pulverisiert worden und du dachtest, ich könnte es? Ich konnte ihn nicht einmal mehr begraben. Er war einfach nicht mehr da. Weg.“
„Dein Mann ist noch da. Er lebt in den Sternen. Aber wenn sie sterben, wird auch er für immer vergehen.“
„Nein. Nein. Allein beim Gedanken an Magie gerate ich in Panik. Ich sehe immer sein Gesicht vor Augen. Selbst wenn ich es wollte, es würde wieder schief gehen.“ Die Dunkelheit kroch immer schneller aus allen Ecken auf sie zu. Nein, keine Magie, dachte sie verzweifelt.
Vays Blick war wieder in die Ferne geschweift. Nur ein „Bitte“, so leise wie das Rascheln im Wind, entfloh seinen Lippen. Doch Elaia hörte es überhaupt nicht. Sie murmelte: „Sein Gesicht...“
„SEIN GESICHT!“, schrie sie plötzlich, sprang auf und lief wie eine gefangene Wildkatze auf und ab. „Sein Gesicht. Ich kann mich an sein Gesicht nicht mehr erinnern.“
Mit belegter aber entschlossener Stimme befahl sie: „Bring mich sofort wieder in die normale Welt zurück.“
Überrascht nickte er und einen Augenblick später befanden sie sich wieder auf dem Luftschloss. Mittlerweile hatte die Nacht den Tag vollständig abgelöst und die ersten Sterne glitzerten am Himmel.
Sie wollte wenigstens die Erinnerungen an ihren Mann wiederhaben. Nicht das konnte ihr auch noch genommen werden! Ein letztes Mal musste sie ihre Magie einsetzen. Aber was, wenn es wieder daneben gehen würde? Elaia schloss ihre Augen und deute mit dem Zeigefinger gen Himmel. Feine Tropfen vermischt mit Eiskristallen fielen auf sie hernieder. Es dauerte einen Moment. Zu lange hatte sie ihre Fähigkeit nicht mehr benutzt. Dann schoss etwas Silbernes in die Nacht. Es waren ihre Sucher, welche die Ursache mit etwas Glück bald finden würden. Sie wurden heller und heller - verschwand wieder. Ein zweites Mal vollführte sie die Handbewegung. Nun geschah gar nichts mehr.
„Siehst du, ich kann es nicht mehr“, flüsterte Elaia entsetzt.
Vays Augen irrten hilflos umher. „Versuch es,… irgendwie...wenn meine Welt stirbt, ich kann nicht ohne sie!“
Elaia atmete tief ein und wieder aus, dann versuchte sie es noch einmal. Silbernes Licht leuchte auf. Vay sprang in die Luft und ließ einen Freudenschrei ertönen. Einen Augenblick später war es von der Dunkelheit vernichtet worden.
„Nein, nein, nein.“, stammelte Vay.
„Vay, sei ruhig.“, zischte Elaia.
„Aber wenn das nicht funktioniert, dann...“
„VAY!“ Sie konnte seine Anwesenheit nicht mehr aushalten. Er war schlimmer als ein kleines, nerviges Kind.
„Da oben. Hast du es gehen. Zwei Sterne sind verschwunden. Ich habe Angst! Was wenn...?“
Elaia hielt ihren Zeigefinger vor den Mund und plötzlich wurde es totenstill. Vay gestikulierte zwar wie eine tollwütige Waldelfe wild mit den Armen, doch er konnte nicht mehr sprechen. Zufrieden schloss sie wieder ihre Augen und versuchte sich zu konzentrieren – auf den Moment, als sie das erste Mal ihre Gabe gefühlt hatte. Wie Magie erst sanft durch sie hindurch geflossen war und ein leichtes Kribbeln in ihren Fingerspitzen erzeugt hatte. Als warme Welle durch sie hindurchschwappte, zu einer mächtigen Brandung anwuchs und letztendlich ihren Körper zum Bersten brachte.
Ein grelles Licht blitzte auf und stieg gen Himmel. Der davon halb erblindete Vay wurde ruhig. Es gewann an Geschwindigkeit und Helligkeit. Vays Gesicht erhellte ein sanftes Lächeln, doch erstarb es Sekunden später zusammen mit dem Licht. Seine Gesichtzüge verzerrten sich und er schlug mit der bloßen Faust auf den Boden. Im selben Moment erstrahlte das gesamte Himmelszelt in silbernen Glanze. Ganz allmählich verblasste es wieder.
Kurz darauf leuchte ein Punkt am Himmel auf und ein Blitz fuhr in der Ferne zu Boden.
„Meine Sucher haben etwas gefunden.“, erklärte Elaia tonlos. In ihrem Inneren herrschte ein Gefühlschaos. Erleichterung auf der einen Seite, Angst vor dem Kommenden auf der anderen Seite und mitten drin suhlte sich unsinnige Angst in Dreck und Schmutz wieder Magie benutzt zu haben. Ihre linke Hand vollführte eine kunstvolle Bewegung und aus der Brüstung der Turmplattform barst einen Durchgang an einen fremden Ort. Auf der anderen Seite konnte sie die schwarzen Schatten grüner Riesen erkennen.
„Komm“, sagte sie zu Vay und schritt durch das Tor. Er sah ängstlich auf die andere Seite, doch folgte ihr ohne Widerworte.
Die Pforte führte an den Rand eines Waldes auf eine große Lichtung. Über dieser glitzerte ein silberner Schein. Vay zeigte stumm darauf. Elaia nickte und wies ihrerseits auf den dunkeln Umriss eines Gebäudes, der drohend in den Himmel ragte. Als sie näher kamen, erkannten sie die Mauern einer kleinen Sternwarte. Teile des Mauerwerks waren eingefallen. Die Natur versuchte, den Lebensraum zurückzugewinnen. Um Elaia’s Hände schlängelten sich Blitze und brachten die Luft zum Knistern. War sie stark genug, möglichen Gegnern die Stirn zu bieten, schoss es ihr durch den Kopf. Hätten sie möglicherweise erst Moran verständigen sollen?
Mit Hilfe ihrer Magie öffnete sie geräuschlos die Eingangstür. Nirgends in dem Gebäude brannten Lichter. Der schwache Schein des Mondes erzeugte lange, spitze Schatten. Ein leichter Windzug strich durch den Raum und brachte getrocknete Pflanzen, die an der Decke hingen, zum Rascheln. In der Ferne klagte ein Wolf, ein zweiter antwortete. Da gellte ein Schrei hinter Elaia. Vay war wie leblos in sich zusammengesackt war. Elaia wirbelte herum und schmetterte eine Energiewelle in den Raum, gefolgt von mehreren Blitzen. Elaia spürte, wie die Welle gegen irgendetwas prallte und es eisern umschloss. Stille folgte. Vay rappelte sich mühsam wieder auf. Elaia erschuf mehrere Kugeln aus purem Licht, die durch den Raum tanzten. Sie enthüllten eine jüngere Frau mit blonden Haaren, die auf einem Sessel saß. Dunkle Bänder aus Magie hielten sie in ihm fest. Ihre Körperhaltung war verkrampft, ihre Gesichtszüge zu einer Fratze entstellt.
„Lasst mich frei“, zischte sie wie Zittergeist.
Elaia schüttelte den Kopf und fragte emotionslos: „Zerstörst du die Sterne?“
„Ja. Aber selbst mein Tod wird euch nicht helfen. Es ist ein Virus, das sich von Stern zu Stern fortbewegt“, erwiderte die Person schrill lachend, als wäre sie der Teufels höchst persönlich.
Oh doch, dein Tod würde mir zumindest Befriedigung geben, dachte Elaia und erschreckte sich gleichzeitig über diesen brutalen Gedanken. Laut sagte sie: „Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du schaffst es, den Prozess umzukehren oder du wirst meine ganz persönliche Hölle erleben. Im zweiten Fall wirst du dir wünschen, der Tod möge dich holen!“, Elaias Hand zuckte und ein winziger Rinnsal Blut rann aus den Nasenlöchern der Frau.
„Gefällt dir das?“, fragte Elaia lauernd. Sie hatte nicht vor, die Frau zu töten, aber sie musste diese zumindest gewaltig einschüchtern.
„Aufhören.“, befahl Vay. Er ging vor der Frau in die Hocke. „Was bringt es dir, wenn du die Sterne und uns zerstörst?“
„Weil ihr es verdient habt. Was brachte es früher allen, mich zu verhöhnt zu haben, nur weil ich blind bin? Was hat es allen gebracht, mir detailliert zu erzählen, wie schön die Sterne sind, obwohl ich es nicht hören wollte? Bald werden alle meine Qualen teilen dürfen und sehen, wie ich mich fühle!“
Vay stand auf und sagte entschieden: „Alle? Ich werde dir zeigen, was deine Wut anrichtet.“
„Ha, wie? Ich bin blind. Zu dumm es zu verstehen?“
„Du wirst sehen.“ Blitzschnell war Vay an sie herangetreten und hatte ihr seine Finger auf die Schläfen gelegt.
Beider Blicke trübten und richteten sich allmählich in die Ferne. So wie Elaia es schon so oft bei Vay gesehen hatte. Elaia näherte sich misstrauisch der Blinden. Sie hatte sehr feine Gesichtszüge und eine helle Haut. Ihre grauen Augen waren von tiefen Falten umgeben, ihr Mund schmal. Als würden Tonnen von Leid auf ihm lasten. Elaia wollte diesem zierlichen Wesen solch Taten nicht zutrauen. Doch erinnerte sie selbst nur zu schmerzhaft, wie das Leben selbst den strahlensten Engel zu Fall bringen konnte. Nur der Fall dieses Engels könnte ihr aller Ende sein.
Einen Augenblick später regte sich die Blinde wieder. Vay sagte bedächtig: „Ich denke, du kannst sie nun freilassen.“ Elaia betrachtete die Frau skeptisch, aber folgte seinem Wunsch mit einem „Wie du meinst.“
Die Blinde stütze ihre Ellbogen auf ihre Knie und bette darauf ihren Kopf. Beinahe unmerklich zitterte sie am gesamten Körper. Blonde Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie seufzte und sagte: „Was für ein blinder Schwachkopf ich bin. Habe immer nur Dunkelheit gesehen, nie Licht, obwohl es eigentlich immer da war.“ Sie richtete sich langsam wieder auf. Ihre toten Augen blickten schmerzvoll in die Welt, die ihr für immer verschlossen war. „Ich muss mein Virus attackieren, wenn es von einem Stern auf den nächsten springt. Mit einer gezielten Energiekonzentration kann ich es ausschalten.“
„Wenn du willst, können wir dich danach an einen Ort mitnehmen, an dem sich alles um Sterne dreht. Ich denke, Moran, das ist unser Leiter, würde sich freuen und dir vergeben“, schlug Vay vor. Elaia nickte innerlich. Was auch immer diese Frau alles erlebt hatte, bei Moran würde es ihr sicherlich gefallen und vielleicht würde sie mit der Zeit den Schrecken vergessen. Etwas vollbringen, dass sie noch nicht geschafft hatte, was aber nicht bedeutet, dass es nicht andere schaffen konnten.
Traurig schüttelte die Blinde den Kopf: „Die Vernichtung des Virus wird mein Leben fordern - alles hat seinen Preis“, leise fügte sie hinzu, „... und diesen habe ich mir wohl verdient.“
„Keiner hat so etwas verdient. Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte Vay aufgebracht.
„Nein“, schüttelte sie mutlos den Kopf und begann sich zu konzentrieren. Vay stand hilflos vor ihr und trat von einem Fuß auf den anderen. Schließlich überwand er seine Scheu und umschloss mit seiner rechten Hand vorsichtig die ihre. Ein Lächeln erhellte kurzeitig ihr Gesicht, dann entfernte sich ihr Geist wieder. Allmählich wurde es kälter in dem Raum. Der Atem der drei bildete kleine weiße Wölkchen. Elaia merkte, wie etwas Dunkles an ihrer Magie zu zerren begann. Sie zog eine Augenbraue hoch und blockierte diese Macht. Plötzlich sackte die Blinde in sich zusammen.
„Was ist passiert? Hat sie es geschafft?“, fragte Vay leise. Eine Spur von Hoffnung, aber auch Trauer war in seiner Stimme zu erkennen.
Elaia fühlte einen Moment nach ihren Suchern, welche die Zerstörung des Virus wahrnehmen würden und murmelte: „Nein, sie ist nie so weit gekommen“. Blitzartig beschrieb sie mit ihrer linken Hand einen Kreis in der Luft. Innerhalb des Bruchteils eines Augenblickes leuchtete der Kreis auf und breitete sich wellenförmig aus. Das gleißende Licht enthüllte einen schwarzen Schatten der hinter dem Sessel der Blinden stand. Es war Moran Lamarus. Ein verblüffter Ausdruck war auf sein Gesicht getreten. Er riss eine Arme hoch um einen Gegenzauber auszuführen. Zu spät. Elaia zeigte auf ihn und wie von einer gewaltigen Faust wurde er gegen die Rückwand des Zimmers geschleudert; riss zwei Stühle, eine Blumenvase samt Inhalt und einen Teppichvorleger mit und zerstörte beim Aufprall jede Menge Service. Doch dieses sollte ihm kein Glück bringen. Elaia schloss ihre Hand und hob sie ein wenig an. Ebenso wurde Moran in die Luft gerissen.
„Warum hast du sie aufgehalten?“, flüsterte Elaia fassungslos und verstand die Welt nicht mehr.
Vay rannte wie ein Stier auf ihn zu und schlug ihm mitten ins Gesicht. Moran jedoch lachte nur, während ihm Blut das Kinn hinunterlief.
„Vergesst es. Nun ist es zu spät. Helft mir lieber und lasst mich frei. Verwechselt das hier nämlich nicht mit primitiver persönlicher Rache. Seht ihr es denn nicht?“
„Sehen was nicht?“, runzelte Elaia die Stirn und fragte sich, ob der Tag sich wohl anders entwickelt hätte, wenn sie mit dem anderen Fuß als erstes aufgestanden wäre.
„Die Oberflächlichkeit der heutigen Gesellschaft! Eine schöne Erinnerung wird einfach durch eine andere ersetzt. Mir nichts dir nichts. Alles muss schöner, größer, besser sein – wird aber nur zu einem grauen Einheitsbrei. Den Wert des Einzelnen haben die da draußen verloren!“
„Und du wirst sie wieder auf den rechten Weg führen, in dem du ihnen die Vielfalt nimmst?“, kommentierte Elaia.
„Höre ich da Ironie? Ja, das werde ich. Lange habe ich zugesehen, hätte es nie selbst initiiert, aber diese Chance ist einmalig. Das müsst ihr doch verstehen.“
„Du, du bist verrückt“, entfuhr es Vay.
Moran lachte laut auf. „Nicht mehr als ihr, meine Lieben. Nicht mehr als ihr.“
Elaia musterte Moran einen Augenblick. Viel hatte sie von ihm gehalten. Hatte in ihm sogar ein bisschen einen Vater gesehen. Einen Menschen, der im ideellen Sinne eigentlich immer Recht hatte. Genau dieser Mann war der Verblendetste von allen! Sie setzte sich auf den Boden und schloss die Augen. Wieder trat die Welt ein bisschen in den Hintergrund und ließ ein Gefühl, schlimmer als Schmerzen in siedend heißem Öl, hervorbrechen. Eine Leere, die doch alles füllte. Fernab von Trauer und Enttäuschung. War sie solch Gefühlen überhaupt noch fähig? Wo waren sie hin? Auch verschwunden? Da gab es nur einen Ausweg. Vay fragte ängstlich: „Was wird das?“
„Ich bringe das Werk der Blinden zu ende.“ Es ging ihr leichter über die Lippen, als sie es sich vor einem Moment vorgestellt hatte. Womöglich, überlegte sie, konnte sie die Konsequenzen auch nicht bewusst genug realisieren.
„Dir ist klar, dass du dabei sterben wirst?“, fragte Moran belustigt. Ein grüner Schein umhüllte ihn. Er versuchte sein Gefängnis zu zerstören.
„Habe hier schon lange nichts mehr verloren. Die letzten Jahre habe ich Sterne gezählt und darin den Sinn meines Lebens gefunden.“ Sie gluckste leise: „Es wird Zeit, dass ich mich auf die Reise nach neuen Ufern mache!“
„Zu den Ufern der Verdammnis? Frage doch mal deinen Ehemann nach deinen Magieerfolgen. Uups, ich vergas das MISS! An einen begehrenswerten Ort wirst du sicherlich nicht gelangen!“
„Er ist tot und kann nichts mehr sagen. Wage es nicht noch einmal ihn zu erwähnen, sonst erwäge ich noch, dich mitzunehmen!“ Dieses Mal meinte sie es vollkommen ernst.
„Du wirst alleinig die ganze Gegend hier in die Luft sprengen! Ist es dir Wert, dass Vay so wie dein Mann sterben wird?“
Elaia hielt kurz inne und biss sich auf ihre Unterlippe. Was, wenn er recht hatte. Wenn es, wie bei ihrem Mann, ein Desaster werden sollte und sie Vay dann auf dem Gewissen haben würde. Diese Last könnte sie nicht mehr tragen.
„Hör nicht auf ihn. Hier zu sterben ist besser, als später als seelenlose Hülle über diese Erde zu wandeln“, kommentierte Vay trocken.
„Wäre er doch damals nicht gestorben!“, schüttelte Elaia den Kopf. Auf jedem Millimeter ihrer Seele konnte sie dieses untragbare Gewicht seines Verlustes spüren.
„Wäre dein Mann nicht gestorben, wer würde dann die Sterne retten?“, murmelte Vay. Elaia hörte es nicht mehr. Heiße Wellen rollten durch ihren Körper. Plötzlich brach gleißendes Licht aus ihrer Hülle hervor, wurde immer heller, schwebte höher und höher, durch die Zimmerdecke und war verschwunden. Vay rannte aus der Sternwarte heraus und blicke in den Himmel. Moran’s Gefängnis hatte sich aufgelöst und so stand er neben Vay. Wutentbrannt richtete er beide Hände gen Himmel und ein grüner Strahl schoss auf die Lichtkugel zu und umhüllte sie.
Vay sprang auf ihn zu, wurde jedoch von einem Energieschild zurückgeworfen. Tatenlos musste er mit ansehen, wie Moran’s grüner Strahl die Kugel langsam wieder zur Erde zwang. Vergeblich versuchte Vay durch das Energieschild zu gelangen. Trotzdem gab er nicht auf. Seine sterbende Welt vor Augen, achtete er nicht auf Schmerz, nicht auf das warme Blut in seinem Mund , nicht auf die zerschundenen Finger, sondern rannte wieder und wieder dagegen. Da schossen Blitze auf Moran zu, durchdrangen sein Schild, als bestände es aus Luft und entflammten die Gewänder des Magiers. Einen Augenblick später lag er verbrannt am Boden. Die Blinde tauchte hinter Vay auf und stütze sich erschöpft auf ihn. Kaum konnte er ihr Gewicht halten, doch zu Boden gehen wollte er auch nicht.
Die Kugel aus Licht stieg wieder und explodierte jäh. Vay hielt erschrocken den Atem an. Anstatt zu verschwinden, durchzog Licht als pulsierende Fäden das Firmament, wie Adern einen Körper. Flossen an einem Punkt wieder zusammen, strahlten noch einmal auf und hinterließen ein Himmelslicht.
„Hat sie es geschafft?“, fragte die Blind mit zittriger Stimme.
„Ich glaube schon.“ Wehmütig sah er in den Himmel. Er fühlte in seine Welt und spürte ihren Puls des Lebens. Wie sie sich ganz langsam, aber spürbar wieder erholte. Es war geschafft, doch nicht ohne Preis. Elaia hatte diesen für ihn und für alle anderen zahlen müssen. Mit allem, was sie hatte. Mit dem Leben.
„Ich hoffe, dass sie gefunden hat, was sie sucht.“
Vay versuchte zu lächeln, aber war sich nicht sicher, ob es ihm gelang: „Sie hat nach den Sternen gegriffen und sie tatsächlich berührt. Ich glaube, dass sie ihre neuen- alten Ufer finden wird. Eines Tages werden wir es vielleicht erfahren.“ Er wusste nicht, ob es etwas nach diesem Leben gab. Aber er wünschte es Elaia und ihrem Mann von ganzem Herzen.
Die Blinde trat neben ihn und flüsterte: „Bis dahin ist aber hoffentlich noch viel Zeit. Zeigst du mir noch einmal die Sterne?“
Vay nickte lächelnd.