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Blinder Frühling

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11.10.2009
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Blinder Frühling

Geöffnetes Fenster, die Vögel singen und Kinder lachen. Wahrscheinlich spielen sie. Spielen Verstecken. Ich spiele immer verstecken, habe es immer gespielt und werde es immer spielen.
Ich sehe nicht. Kann nicht sehen, konnte nie sehen und werde nie sehen können.
Durch das Fenster kommt eine frische Brise. Sie riecht nach Frühling.
Meine Mutter meint immer, Frühling sei die schönste Jahreszeit. Bunte Knospen die sprießen, grüne Wiesen, wärmende Sonne und singende Vögel.
Ich weiß nicht, wie eine Rose aussieht, wie hell die Sonne scheinen kann oder wie Grashalme im Wind tanzen.
Aber ich kann riechen und fühlen und hören.
Ich gehe zum Fenster, folge einfach dem Windhauch in meinem Gesicht. Meine Oberschenkel stoßen am Fensterbrett an und ich bleibe stehen.
Frühling riecht gut. Würzig-herbe Gräser, süßlicher Pollenduft, der in der Nase kitzelt. Tausend Düfte von tausenden Blumen und Wind, der eine Brise Sonnenschein enthält. Mutter meint immer, in der Nähe sei ein Sonnenblumenfeld. Sonnenblumen sind gelb. Und Gelb riecht nach Sonnenblumen. Ich mag den Duft der Sonne.
Die Wiese, auf der die Kinder toben, raschelt.
Ich kann es hören. Manchmal ist es, als höre ich Dinge, die außer mir keiner hören kann.
Ein Grashalm knickt, der zweite, dritte, vierte…
Und das alles unter den trippelnden Füßchen kleiner Kinder. Sie toben und lachen und kreischen fröhlich. Sie sind klein, in den Stimmchen schwingt die Unbeschwertheit der Kindertage mit. Die Stimmchen tanzen leise im Wind, im Hauch des Frühlings, der mir immer noch ins Gesicht weht.
Unbeschwertheit klingt melodisch, stimmig, völlig eins mit der Welt.
Die Kinder toben und spielen Verstecken. Eines steht hinter der großen Weide. Ich kann ihre Ruhe und ihr Alter fühlen.
Sie steht schon lange da, viele Kinder haben sich hinter ihr versteckt, einige sind auf sie geklettert, manche haben ihre Initialen in das Gehölz geschnitzt. Ich war schon einige Male auf der Wiese, war an der Weide, habe sie berührt, um sie mit meinen Augen zu sehen.
Meine Welt ist ein Niemandsland.
Ich sehe Dinge anders, als alle anderen und ich verstehe die Beschreibungen der Dinge nicht, die sie sehen.

Mutter meinte einmal, die Äste der alten Weide sähen aus wie Peitschen. Und Peitschen schmerzen auf der Haut. Sie war stehts, mit Respekt, in einiger Entfernung von der Weide fern geblieben.
Ich war bei ihr.
In meiner eigenen melodischen Unbeschwertheit. Ihr Stamm war hart und grob. An manchen Stellen spürte ich die Buchstaben, die in meiner Welt keine Rolle spielen. Ich habe auch ihre Äste berührt. Sie schmerzten nicht. Sie waren weicher als der Stamm und biegsam. Jedes Blatt versuchte ich zu ertasten, jede kleine Knospe, ich vermute, dass es Knospen waren, erhaschte ich.
Die Blätter waren fein, feiner als Seidenpapier und von winzigen Äderchen durchzogen. Die Knospen schienen unter meinen Fingern zu pulsieren und ich spürte das Leben, welches in jeder einzelnen vorhanden war.
Leben und Frühling.

Das Kind hinter der Weide jauchzt. Wahrscheinlich hat es der Spielkammerad entdeckt. Es hört sich an, wie ein Mädchen, dieses Kind hinter der Weide. Das Stimmchen ist hell, fast schon eine unangenehme Nuance zu hoch. Vielleicht ist sie vier. Auf keinen Fall in der Schule.
Ein Hund bellt.
Das ist Lucky, vom Haus nebenan. Er bellt immer gleich. Ein monotones, leicht röchelndes Geräusch. Ein leichtes Hecheln. Vielleicht scheint ihm die Sonnenblumen-Duft-Sonne auf den Pelz und ihm ist warm. Oder er rennt.
Ich kann es nicht sagen, meine Konzentration gilt dem kleinen Mädchen hinter der Weide, die nicht peitscht, sondern lebt.
Frau Peters, die Besitzerin von Lucky, ist auch auf der Wiese. Sie hängt Wäsche zum Trocknen auf. Ihr Weichspüler, so hatte sie mir berichtet, sei mit Rosenduft. Aber er riecht nicht nach Rose.
Rosen riechen anders, ganz anders.
Rosen riechen zart, süßlich, unaufdringlich und schön. Frau Peters Weichspüler riecht wie gezuckerte Milch, irgendwie süßer, irgendwie blumiger, als eine Blume riechen kann und immer etwas penetrant. Ich mag ihn nicht. Aber Frau Peters mag ihn.
Aber Frau Peters mag auch Lucky, der beim Streicheln immer etwas wärmer zu sein scheint, als ein Tier sein sollte und der immer aus dem Mund riecht, als wäre ein Tier in seinem tiefsten Inneren verendet.
Lucky sabbert auch viel. Sein Speichel ist klebrig und warm und stinkt.
Die Sabber lief mir einmal über die Hand. Ich rannte nach oben, jede Treppenstufe zählend, jeden Schritt bis zur Haustür abwägend und bahnte mir meinen Weg ins Bad.
Ich habe meine Hand gewaschen und gewaschen und abgetrocknet, an einem Handtuch, das immer kratzte, dann habe ich sie wieder gewaschen. Sie roch noch tagelang nach Lucky.
Mutter meinte damals, ich bilde mir das nur ein. Ich habe es mir aber nicht eingebildet. Ich habe den Geruch gerochen und das leichte Kribbeln auf der Haut gespürt.
Ich habe es gesehen, in meinem Niemandsland, welches meine Mutter nie nachvollziehen kann.

Doch jetzt ist Frühling und ich stehe am offenen Fenster, rieche die Sonne und die Weide und höre den Gesang der Vögel.
Jeder Vogel singt anders. Selbst die der selben Art. Einer singt heller, ein anderer tiefer, der eine schneller und wieder ein anderer obszön langsam.
Sie geben ein Konzert, viele Stimmen bilden einen Chorus. Selbst die Insekten singen mit. Eine Grille hat ihre Geige gestimmt und die Bienen, die die Gräser, die Blumen und die Wiese abgrasen, brummen einen Bass. Ein Eichhörnchen knabbert an einer Nuss.
Ich stütze mich am Fensterrahmen ab. Er ist gestrichen.
Früher konnte man die Holzmaserung spüren und meine Finger kannte sie alle.
Ich wusste genau, wo eine kleine Delle war, wusste wo das Holz rauher war und wo glatter. Doch nun ist es gestrichen. Die Lackierung riecht heute noch leicht bissig und ätzend. Der Lack ist immer kühl, die Sonne kann ihn nicht wärmen. Und er ist glatt.
An manchen Stellen ist er spröde geworden, das bringen die Jahre, meint meine Mutter.
Dort, wo die spröden Stellen sind, lässt sich die Maserung erahnen. Doch sie wirkt nicht mehr, ich kann sie nicht mehr sehen. Der Lack hat sie manipuliert. Wo einst kleinere Astlöcher zu spüren waren ist nichts mehr.
So ist es halt, über die Jahre.

Jemand läuft den gepflasterten Weg entlang. Jemand erwachsenes. Die Knie leicht steif, bei jedem Schritt kann ich den schweren Atem hören. Die Schritte hören sich nicht mehr jung und beschwingt an, eher etwas eingerostet und schlurfend. Jeder Atemzug klingt etwas rasselnd, etwas blechern und etwas angestrengt.
Es ist eine Frau. Ich höre den Stoff ihrer Kleidung leise rascheln. Es ist ein Rock und eine Bluse, die in den Rockbund gesteckt wurde. Der Rock ist über den Knien, denn er raschelt stehts etwas später, als der Schritt der Füße. Ich rieche auch das Parfüm. Etwas herb, etwas nach Zimt und Vanille. Und unter dem Duft rieche ich die Haut.
Mutter kommt.
Mutter riecht stehts gleich, jedenfalls unter dem Parfüm. Sie riecht nach Geborgenheit, Liebe und nach Druckerschwärze. Mutter arbeitet in einer Druckerei. Sie arbeitet mit den Worten und liest die Worte.
Ich kann nicht lesen, habe es nie gekonnt und werde es nie können.
Mutter meint immer, lesen fördert die Fantasie.
Sie hat mir damals vorgelesen und ich habe zugehört. Fantasie…
Ihre Stimme malte mir die Bilder, die ich in meinem Niemandsland sehen konnte. Ich roch, fühlte und hörte sie.
Das war meine Fantasie, das ist meine Fantasie und wird sie immer bleiben.
Mutter ist an der Tür, die in den Treppenaufgang führt. Sie quietscht immer leicht und der Hausmeister muss oft die Schaniere ölen. Doch sie quietscht und quietscht und riecht nach Öl, mehr nicht.
Mutter steigt die Treppe nach oben. Stufe für Stufe für Stufe. Sie atmet noch etwas schwerer.
Sie erreicht den ersten Absatz.
Ich muss zur Tür. Ich drehe mich und meine Ohren leiten mich zur Tür. Mutter hat die letzten Stufen vor sich.
Noch fünf.
Noch vier.
Noch drei.
Noch zwei.
Noch eine.
Ich erfasse die Klinke, die metallisch kühl ist, drücke sie hinab. Die Tür geht auf.
Leise, aber über den Boden schlurfend. Mutter bewegt den Kopf nach oben. Ich höre wie ihr Hals sich leicht dehnt und ihre Stimmbänder sich spannen. Gleich wird sie mich begrüßen. Wie immer leicht verängstigt, wie immer freundlich, wie immer liebevoll.
Ich beginne zu lächeln und denke an den Kaffee, den ich dann koche und aus dessen Duft ich Dinge sehen kann, die meine Mutter und der Rest der sehenden Welt niemals sehen werden.
In meinem Niemandsland.

 

Liebe Coroa,
Ich finde diesen Text sehr schön,
weil es mal eine andere Perspektive ist.
Mann kann richtig fühlen, wie der/die Blinde die Welt sieht - einfach anders.
Mach weiter so!
Gruß,
Lenni

 

Liebe Coroa,

eine beeindruckende GEschichte. So gut in einem Guss geschrieben. Mit sehr viel aufmerksamer Beobachtung und Einfühlungsvermögen in eine Blinde. Beim Ganz nach meinem Geschmack. BEim Lesen der Geschichte war ich selbst die Blinde und am Ende schon fast enttäuscht, dass ich doch zu den Sehenden gehöre...

Kleinigkeiten zum Überdenken:
Ein paar groß/ kleinfehler haben sich eingeschlichen, schau noch mal nach.
Ach ja, und die Sache mit der Bluse: dass sie den Rock hören konnte, ja, bei der Bluse konnte ich nicht folgen..wie hört sich eine Bluse an?

Herzliche Grüße,

Anna

 

Hallöchen.

Danke für die lieben Statements, die mir zeigen, das die Geschichte das bewirkt, was ich hoffte: Verständnis.

Zu der Frage:

wie hört sich eine Bluse an?

Als ich die Geschichte schrieb, habe ich daran gedacht, wie gerade Polyesterblusen sich anhören. Wenn man einen etwas schweren Rock trägt, und der Bund auf dem Stoff bei jedem Schritt leihct hin- und hergleitet/schwingt, entsteht ein leicht knisterndes, statisch aufgeladenes, manchmal surrendes Geräusch. Und so hört sihc für mich eine Bluse an :)

Ich spinne in der Hinsicht vielleicht ein bisschen, aber ich denke, dieses Geräusch kann man sich vorstellen:)

Lg coroa

 

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