- Beitritt
- 10.07.2006
- Beiträge
- 41
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Blinzelfabrik. oder: Die Folgen der Folgen.
Blinzelfabrik, oder: Es müsste uns gut gehen.
Der Himmel hat die Farbe einer Wurst.
Ein schreckliches Dunkelgrau vermischt sich mit dem sommerlichen Orange der untergehenden Sonne, als ich barfuss und ohne eine wesentliche Erwartung aus der Tür gehe und einfach nur atme.
„Die Farbe einer russischen Tanzwurst“, sagt Edmond.
Denn wie alles passiert ist,
ist meistens eine lange Geschichte.
*
Meine begann damit, vorhanden zu sein.
Und vielleicht begann sie auch damit, dass ich unerlaubt in den Zug gestiegen bin und zwar verdammt hoffnungsvoll und nur, weil ich es nicht mehr ausgehalten hab bei ihnen, ehrlich.
Es war auch definitiv keine enstpannte Fahrt. Ich saß gegenüber von zwei glücklich fressenden Schweinen, die aussahen, als würden sie traurig fickend mit ihren viel zu grellen Stimmen das offenbar vorhandene Leid in die Welt schreien wollen; nur hässlicher.
„Fahren Sie auch nach Berlin?“, fragte eins der beiden. Es war gar kein Schwein in echt, bloß ein seltsam auffallender Mann mit Locken, dem T-shirt eines Freizeitparks und schrecklich legerer Brille. Prinzipiell hatte ich mich davor geekelt, an diesem nahezu lebenswichtigen Tag sinnlose Gespräche mit fremden Tieren anzufangen. Aber unhöflich bin ich nicht und außerdem war das mit Berlin ja sowieso ein sehr brenzliges Unterfangen.
„Brenzlig?“
Zu laut gedacht.
„Ja, brenzlig und so. Schwierig halt.“
Herr Locke warf einen Blick zu seinem Mädchen next to him und wartete wirklich ziemlich lange, bis er gezwungenermaßen damit anfing, das Gespräch wieder aufzugreifen.
Wäre mein Gemütszustand nicht so verdammt aufgewühlt gewesen und all das, hätte ich die Situation höchstwahrscheinlich als eine peinliche Pause bezeichnet und mich unglaublich unwohl gefühlt.
„Was ist denn daran so schwierig, bitte schön? Platz gefunden, nette Nachbarn, was will man mehr?“
Er lachte widerlich und packte sein zwölftes Wurstbrot aus. Das bereits erwähnte Mädchen war ein wenig zu verschüchtert für meine Verhältnisse und hätte sowohl seine Freundin als auch seine Mutter sein können; es waren zwei viel zu schwer einzuschätzende Personen und außerdem habe ich mich sowieso nicht für sie interessiert so richtig.
„Ich weiß nicht, wo ich schlafen kann. Bin abgehauen, weißte? Werd jetzt vielleicht ein Straßenkind. Deswegen schwierig.“
Dann sagte er nichts mehr. Deutete zwar ein amüsiertes Lachen an, klar, aber Schweine merken schnell, wann so was angebracht ist und wann nicht. Ich ging ins Raucherabteil.
Er hätte mir definitiv nicht sagen müssen, wie unangebracht MEIN Verhalten war. Zumal ich sowohl unangebrachtes Verhalten liebe als auch die dazu gehörigen Menschen, die nachts mit Strohhut auf verlassenen Spielplätzen schaukeln und währenddessen Lieder von TOMTE singen.
"Durch die Straßen geht ein leiser Wind, der nur sagt: Bitte bleib am Leben."
Ich bin schon mal aus dem Fenster gefallen, mit fünf. Danach lag ich im Koma und nein, ich wusste wirklich nicht, was auf mich zu kommen würde aufgrund dieser unüberlegten Entscheidung.
Die Fahrt bestand sowohl aus vier Stunden Schlaf als auch aus einer gehörigen Portion Angst vorm Exzess. Du sitzt auf deinem dreckigen Sessel inmitten einiger Rauchwolken und deren Besitzern, um eine Zigarette nach der anderen raus zu kramen und gelegentlich so gar schief angeguckt zu werden; wegen des zarten Alters, versteht sich.
Prinzipiell war diese Art der Selbstzerstörung zu erwarten gewesen meinerseits. Ich saß einfach und die Scheiße zerrte an den Nerven, schmiss sich gegen meine Bauchwände und tanzte imaginären Pogo mit meinem vor Beunruhigung zerschossenen Herzen; während ich etwas Verbotenes tat in Form dieses Abhauens und immer noch saß und keinen blassen Schimmer hatte von der großen Welt und dem Stückchen Bett heute Nacht, das ich in meiner nahezu frühkindlichen Naivität tatsächlich erwartet hatte.
Um dem unglaublich unausgeglichenen Aufbau dieser Erzählung treu zu bleiben, war der Bahnhof um einiges größer als erwartet. Aus Glas dazu und vierstöckig; er trieb mir das Staunen ins Gesicht und wäre mein Leben ein affektierter Sat1 Sonntagsmovie gewesen, wäre mir doch tatsächlich die Kinnlade herunter gefallen bei diesem wuchtigen Eindruck. Dann wäre auch ein netter kleiner Kerl mit wunderbaren Augen vorbei gekommen plötzlich und hätte mir den Mund wieder zugeklappt und danach wären wir laut Drehbuch zusammen Muscheln essen gegangen und später ins Bett seiner trashigen Kellerwohnung.
Diese Zugfahrt hatte aber kein Happy End und der obligatorische Kerl war nichts weiter als eine wirklich sehr alte Frau, die fragte, ob es mir gut ginge und danach auf ihre am Kartenautomaten wartende Familie stieß; allesamt in seltsamen Hemden mit bunten Mustern und vor Hässlichkeit ins Auge stechenden Strümpfen. Ebenfalls gemustert.
Wenn man so was wirklich Familie nennt und es sich schön anfühlt, umarmt zu werden, dann wollte ich auch so was haben. Nichts mehr zu essen und eine praktische Erklärung dafür, warum Menschen in netter Gesellschaft einzig und allein von Luft und Liebe leben konnten.
Beim Gedanken ans diesbezügliche Glück musste ich oft schmunzeln und so weiter. Damals kannte ich schließlich gewisse Menschen und Situationen noch nicht; dachte ununterbrochen an meine Mama, die womöglich noch schlafen würde in dieser schwarzen Nacht und sich weder um mich noch um ihre Gesundheit Gedanken machen. Ich warf Leuten nicht ihre Fehler vor.
Ich warf ihnen vor, wenn sie sich aus einer beneidenswerten Glückseligkeit heraus küssten und schön waren oder viel Geld hatten, mit dem sie sich entweder Schönheitsoperationen oder einen feinen Sportwagen mit Fernseher und Schlafkammer im Kofferraum leisten konnten. Selbigen hätte ich ebenfalls gut gebrauchen können, als ich auf der viel zu großen Bahnhofstreppe saß und hoffte, nicht verkloppt zu werden.
So was stellt man sich ja immer vor in Hauptstädten, dass Leute mit sehr vielen Ohrringen und ungepflegten Hunden und zerrissenen Hosen auf kleine Mädchen zu kommen und Ärger möchten, weil sie kein zu Hause haben. Warum auch immer zwischen diesen beiden Dingen eine Verbindung bestehen sollte, rein vorurteilsmäßig besteht sie.
*
„Die Tauben klingen wie Möwen, es könnten aber auch Tauben mit Halsentzündung sein.“, sagt Edmond. Er ist groß und meine Eltern hätten ihn als schmuddelig bezeichnet und armselig, ganz sicher. Wir leben, es müsste uns also echt gut gehen.
Und wir küssen uns. Obwohl wir nicht schön sind. Und Geld haben wir auch nicht, nur unsere Körper und den darauf zurück zuführenden, selbstverdienten Rausch unserer zahlreichen Clubbingnächte.
Wir haben nicht mal ein zu Hause und tragen zerrissene Hemden mit ekligen Mustern drauf und einen ungepflegten Hund hat Edmond auch, aber wir verkloppen trotzdem niemanden.
Vielleicht wäre es viel einfacher, unsere Geschichte zu erzählen, wenn sie bloß von einer keuschen und wunderbaren Liebe zwischen Zwei Kindern Gegen Den Rest Der Welt handeln würde, aber mal ehrlich: das wäre gewaltiger Müll.