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Blutrotkreuz
Angehörige meiner Berufssparte müssen fit sein, im Ernstfall zählt jede Sekunde. Täglich trainiere ich drei Stunden: Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, Schnelligkeit. Hier muss es sein. Ich läute an der Sprechanlage.
Ich sage meine Litanei herunter: „Blutrotkreuz hier, Sie haben unseren Notruf gewählt! Bitte schalten Sie rechtzeitig Ihre Tageslichtlampe ab und laden Sie mich ausdrücklich in Ihre Wohnung ein!“ Das Haustor schwingt auf. Geschmeidig husche ich die sechs Stockwerke hinauf. Die Wohnungstür steht offen, dahinter ein dunkler Flur. Die Einrichtung ist geschmackvoll nach dem Vorbild des amazonischen Regenwaldes gewählt.
„Kommen Sie bitte herein! Ich bin hier!“ Ich höre die Angst in der Stimme der Frau.
Erstaunlicherweise steht sie, wenn auch unsicher. Ich habe schon lange keinen aufrecht stehenden Unsterblichen mehr gesehen. Gut, aufrecht ist vielleicht übertrieben. Kopf und Schultern hängen nach vorne, und man merkt, dass ihre Beine eigentlich zu schwach sind für die Massen an Fett, die ihren Körper wie eine Glocke aussehen lassen. Ich wittere, dass sie noch Jungfrau ist. Es ist schön und wichtig, sich manchmal selbst sagen zu können, dass man den richtigen Beruf gewählt hat. Jetzt ist so ein Moment.
Sie hat sich ungefähr zwei Meter von ihrem Lifechair entfernt, verstohlen sehe ich auf die Sitzfläche: Über der Kontaktstelle für den serienmäßig bei jedem Chair mitgelieferten Vibrator klebt noch die Schutzfolie.
Sie ist nicht mehr mit ihrem Computer verbunden, die Kabel hängen lose am Gerät herab. Das Rosige auf ihren Wangen scheint echt zu sein. Das sieht gar nicht gut aus, gar nicht gut.
„Es hat heute Nacht begonnen. Ich träumte, ich hätte Sex mit meinem Nachbarn, den ich manchmal zu einer Real-life-Party einlade. Ich gestehe, ich habe in meiner Jugend, ungefähr im Alter von 120, verbotene Substanzen konsumiert, Pornos aus dem frühen 22. Jahrhundert, aber ich wusste ja nicht, dass die schädliche Wirkung so lange anhalten würde.“ Ihre Stimme wird verzweifelt. „Und heute Morgen hab ich gesehen, dass meine Fingernägel rosig waren und in meinem Bauch spürte ich ein eigenartiges Ziehen und Pochen. Und dann hab ich es nicht mehr ertragen, in meinem Chair zu sitzen und mit diesen Schläuchen gefesselt zu sein, ich wollte doch tatsächlich tanzen … und dann bin ich aufgestanden und jetzt komm ich nicht mehr vom Fleck …“ Ihre Stimme bricht und sie beginnt zu schluchzen.
„Muss ich jetzt sterben?“, flüstert sie und ihre braunen Augen schimmern weich.
„Gestern Abend hatten Sie doch noch keine Beschwerden, oder?“
„Nein, ich war ganz ruhig, und ich hatte einen Bleichheitsgrad von 12 nach der Shveta-Skala.“
Ich rechne nach.
„Sie haben mich noch rechtzeitig gerufen. Erst wenn sich mehr als zwei Liter Blut gebildet haben und der Blutkreislauf für zwölf Stunden wieder arbeitet, ist die Unsterblichkeit gefährdet.“
Professionell, mit einer einzigen Handbewegung, zerreisse ich die Schutzhülle des Zahndesinfektionssprays, entferne die Folie am Sprühkopf und beginne meine Eckzähne einzuschäumen, um sie nicht mit meiner Art von Unsterblichkeit zu infizieren.
„Ein paar Minuten noch, und es ist alles wieder gut!“ Ich lächle sie an.
Dann trete ich auf sie zu, hebe ihr langes, weißes Haar an, und tatsächlich, da ist sie, die Stelle am Hals, ich sehe das leise und stetige Pochen unter ihrer zarten Haut und kann kaum meine Augen abwenden. Süße Gier steigt in mir hoch. Gleich werde ich meine Zähne ansetzen, da berührt sie meinen Arm.
„Wie schön Sie sich bewegen“, sagt sie, „und wie kräftig sich Ihr Arm anfühlt … warten Sie noch einen Moment …“ Nun legt sie mir die Hand ganz sachte auf die Wange, dann zeichnet sie mit dem Zeigefinger eine Linie bis zu meinem Schlüsselbein.
„Würden Sie mich vorher küssen? Ich meine, richtig auf den Mund, ich will wissen, wie sich das anfühlt. Wir haben doch noch ein bisschen Zeit, oder?“
„Das würde aber Ihren Kreislauf nur noch mehr …“ Aber schon presst sie ihren Mund auf meinen, ihren Mund, der so viel wärmer und voller ist als meiner, ich drücke mich an ihr weiches Fleisch, und da steigen Bilder in mir hoch: Ich sehe sie lachend und auf schlanken Beinen durch eine blühende Wiese laufen, ich sehe sie unter mir, mit verschwitzten Locken, die dunkel an ihrem Kopf kleben, sie windet sich unter meinen Stößen, ich sehe sie mit einem Kind auf dem Arm, sie gibt ihm die Brust, das Weiß von blauen Adern durchzogen …
„Deine Lippen schmecken bitter.“ Ihre Augen sind enttäuscht und traurig, dann bietet sie mir den Hals dar. Der Rausch, den ihr süßes Jungfrauenblut in mir erzeugt, hebt mich heute nicht über die Leere in mir hinweg, trotzdem sauge ich länger als notwendig, sauge so lange, bis ich den galligen Geschmack von Lymphflüssigkeit spüre. Sie ist unsterblich, aber ich bin nur untot.
Sie hält die Augen geschlossen, ihre Lider sind durchsichtig geworden, ihre Lippen flach und weiß. Ich rolle den Chair zu ihr, setze sie behutsam hinein, schiebe sie zum Computer und schließe die Schläuche wieder an. Der Pulsator beginnt sofort gleichmäßig zu arbeiten, es ist wieder alles in Ordnung. Bevor ich gehe, wende ich mich nochmals zu ihr um: Über ihr vollkommen ausdrucksloses Gesicht huschen die bunten Bilder des Monitors, die Umrisse ihres riesigen Körpers verschwimmen im Dunkel des Zimmers.
Ich melde an die Zentrale die Erledigung des Auftrags und fliehe zurück in die farblose Nacht.