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Thema des Monats Blutrotkreuz

Seniors
Beitritt
01.07.2006
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Blutrotkreuz

Angehörige meiner Berufssparte müssen fit sein, im Ernstfall zählt jede Sekunde. Täglich trainiere ich drei Stunden: Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, Schnelligkeit. Hier muss es sein. Ich läute an der Sprechanlage.

Ich sage meine Litanei herunter: „Blutrotkreuz hier, Sie haben unseren Notruf gewählt! Bitte schalten Sie rechtzeitig Ihre Tageslichtlampe ab und laden Sie mich ausdrücklich in Ihre Wohnung ein!“ Das Haustor schwingt auf. Geschmeidig husche ich die sechs Stockwerke hinauf. Die Wohnungstür steht offen, dahinter ein dunkler Flur. Die Einrichtung ist geschmackvoll nach dem Vorbild des amazonischen Regenwaldes gewählt.
„Kommen Sie bitte herein! Ich bin hier!“ Ich höre die Angst in der Stimme der Frau.

Erstaunlicherweise steht sie, wenn auch unsicher. Ich habe schon lange keinen aufrecht stehenden Unsterblichen mehr gesehen. Gut, aufrecht ist vielleicht übertrieben. Kopf und Schultern hängen nach vorne, und man merkt, dass ihre Beine eigentlich zu schwach sind für die Massen an Fett, die ihren Körper wie eine Glocke aussehen lassen. Ich wittere, dass sie noch Jungfrau ist. Es ist schön und wichtig, sich manchmal selbst sagen zu können, dass man den richtigen Beruf gewählt hat. Jetzt ist so ein Moment.

Sie hat sich ungefähr zwei Meter von ihrem Lifechair entfernt, verstohlen sehe ich auf die Sitzfläche: Über der Kontaktstelle für den serienmäßig bei jedem Chair mitgelieferten Vibrator klebt noch die Schutzfolie.
Sie ist nicht mehr mit ihrem Computer verbunden, die Kabel hängen lose am Gerät herab. Das Rosige auf ihren Wangen scheint echt zu sein. Das sieht gar nicht gut aus, gar nicht gut.

„Es hat heute Nacht begonnen. Ich träumte, ich hätte Sex mit meinem Nachbarn, den ich manchmal zu einer Real-life-Party einlade. Ich gestehe, ich habe in meiner Jugend, ungefähr im Alter von 120, verbotene Substanzen konsumiert, Pornos aus dem frühen 22. Jahrhundert, aber ich wusste ja nicht, dass die schädliche Wirkung so lange anhalten würde.“ Ihre Stimme wird verzweifelt. „Und heute Morgen hab ich gesehen, dass meine Fingernägel rosig waren und in meinem Bauch spürte ich ein eigenartiges Ziehen und Pochen. Und dann hab ich es nicht mehr ertragen, in meinem Chair zu sitzen und mit diesen Schläuchen gefesselt zu sein, ich wollte doch tatsächlich tanzen … und dann bin ich aufgestanden und jetzt komm ich nicht mehr vom Fleck …“ Ihre Stimme bricht und sie beginnt zu schluchzen.
„Muss ich jetzt sterben?“, flüstert sie und ihre braunen Augen schimmern weich.
„Gestern Abend hatten Sie doch noch keine Beschwerden, oder?“
„Nein, ich war ganz ruhig, und ich hatte einen Bleichheitsgrad von 12 nach der Shveta-Skala.“
Ich rechne nach.
„Sie haben mich noch rechtzeitig gerufen. Erst wenn sich mehr als zwei Liter Blut gebildet haben und der Blutkreislauf für zwölf Stunden wieder arbeitet, ist die Unsterblichkeit gefährdet.“
Professionell, mit einer einzigen Handbewegung, zerreisse ich die Schutzhülle des Zahndesinfektionssprays, entferne die Folie am Sprühkopf und beginne meine Eckzähne einzuschäumen, um sie nicht mit meiner Art von Unsterblichkeit zu infizieren.
„Ein paar Minuten noch, und es ist alles wieder gut!“ Ich lächle sie an.

Dann trete ich auf sie zu, hebe ihr langes, weißes Haar an, und tatsächlich, da ist sie, die Stelle am Hals, ich sehe das leise und stetige Pochen unter ihrer zarten Haut und kann kaum meine Augen abwenden. Süße Gier steigt in mir hoch. Gleich werde ich meine Zähne ansetzen, da berührt sie meinen Arm.
„Wie schön Sie sich bewegen“, sagt sie, „und wie kräftig sich Ihr Arm anfühlt … warten Sie noch einen Moment …“ Nun legt sie mir die Hand ganz sachte auf die Wange, dann zeichnet sie mit dem Zeigefinger eine Linie bis zu meinem Schlüsselbein.
„Würden Sie mich vorher küssen? Ich meine, richtig auf den Mund, ich will wissen, wie sich das anfühlt. Wir haben doch noch ein bisschen Zeit, oder?“
„Das würde aber Ihren Kreislauf nur noch mehr …“ Aber schon presst sie ihren Mund auf meinen, ihren Mund, der so viel wärmer und voller ist als meiner, ich drücke mich an ihr weiches Fleisch, und da steigen Bilder in mir hoch: Ich sehe sie lachend und auf schlanken Beinen durch eine blühende Wiese laufen, ich sehe sie unter mir, mit verschwitzten Locken, die dunkel an ihrem Kopf kleben, sie windet sich unter meinen Stößen, ich sehe sie mit einem Kind auf dem Arm, sie gibt ihm die Brust, das Weiß von blauen Adern durchzogen …

„Deine Lippen schmecken bitter.“ Ihre Augen sind enttäuscht und traurig, dann bietet sie mir den Hals dar. Der Rausch, den ihr süßes Jungfrauenblut in mir erzeugt, hebt mich heute nicht über die Leere in mir hinweg, trotzdem sauge ich länger als notwendig, sauge so lange, bis ich den galligen Geschmack von Lymphflüssigkeit spüre. Sie ist unsterblich, aber ich bin nur untot.

Sie hält die Augen geschlossen, ihre Lider sind durchsichtig geworden, ihre Lippen flach und weiß. Ich rolle den Chair zu ihr, setze sie behutsam hinein, schiebe sie zum Computer und schließe die Schläuche wieder an. Der Pulsator beginnt sofort gleichmäßig zu arbeiten, es ist wieder alles in Ordnung. Bevor ich gehe, wende ich mich nochmals zu ihr um: Über ihr vollkommen ausdrucksloses Gesicht huschen die bunten Bilder des Monitors, die Umrisse ihres riesigen Körpers verschwimmen im Dunkel des Zimmers.
Ich melde an die Zentrale die Erledigung des Auftrags und fliehe zurück in die farblose Nacht.

 

Hallo Thrombin!

Also, wir schreiben die Zukunft, Vampire beherrschen die Welt, Menschen sind Ghule, Sklaven, die an technischen Cyberkrimskrams im goldenen Käfig gehalten werden, einer von den Ghulen ist eines Nachts durch einen technischen Fehler in "Unsterblichkeitsgefahr" und der Vampir vom Rotkreuz muss den Ghul retten.
Es ist nicht ganz ausgemacht, ob hier wirklich die Vampire die Welt beherrschen, vielleicht ist es ja eher so ein symbiotisches Verhältnis, wichtig war mir aber schon, die Vampire als agil und lebendig, die Menschen aber als träge und eigentlich tot darzustellen.
Ich will damit nur sagen, ein paar mehr Erklärungen hätten nicht geschadet, das einzige, was ich noch weniger mag, als beim Lesen meinen Kopf zu wenig anzustrengen, ist meinen Kopf beim Lesen anzustrengen.
Kann ich verstehen, aber ein bisschen Training schadet nicht! :D
Der Vampir wird hier menschlich dargestellt, wie man sich einen Menschen vorstellt, der die körperlichen Eigenschaften eines Vampirs hat. Was auch sein muss, wenn Vampire eine dem Menschen ähnliche Zivilisation aufrecht erhalten. Das Einzigartige an dieser Szene ist, dass sie zeigt, dass der Vampir zu Empathie fähig ist.
Sehr schön gesehen! :)
Vampir und Mensch sind sich so sehr ähnlich, und doch müssen die einen herrschen, die anderen geknechtet sein, weil es die menschliche Natur beider Wesen fordert. Diese Geschichte könnte eine Parabel sein, als Symbol stehen für diese ganzen unterschiedlichen Völker überall auf der Welt, die sich gegenseitig unterdrücken aufgrund eines Ungleichgewichtes von militärischer Stärke, aber die einzelnen Menschen sind eigentlich gleich, sie sind durchaus in der Lage, sich zu verstehen und sich zu lieben, sie hatten keine Wahl, auf der einen oder anderen Seite geboren zu sein. In einer besseren Welt könnten sie eigentlich wie Brüder miteinander leben.
Ganz so war die Intention dabei nicht, denn die brauchen einander natürlich auch, ohne das Blut der Menschen würd´s den Vampiren schlecht gehen, Es stellt sich natürlich die Frage, ob die die Menschen hier regelmäßig "melken", das bleibt vielleicht tatsächlich alles zu wenig ausgeführt. Aber das mit der Liebe, dass die immer eine Möglichkeit darstellt, über Grenzen jedweder Art hinwg, das ist sicher intentiert, wenn sie hier auch zurückgewiesen wird, weil die Frau sich nicht traut oder auch das Anderssein des Vampirs nicht akzeptieren kann (die Lippen schmecken bitter), oder vielleicht spricht die Geschichte auch davon, dass Liebe oder Leidenschaft immer mehr zur Fiktion werden ein Ideal, das wir uns erträumen können, das wir aber uns nicht mehr trauen zu leben, um nichts von uns selbst aufgeben zu müssen und wir daher immer lebloser werden.

Für mich ist der Magic Moment der Geschichte mit dem Satz
Zitat:
sie ist unsterblich, aber ich bin nur untot
ausgesprochen. Hier wird der Vampir als ein nachdenkliches Wesen gezeigt, das über sein Dasein reflektiert, über den Unterschied zum Dasein des Menschen, und trotz seiner Macht und Überlegenheit auch ein wenig Neid oder Entbehrung empfindet, für das, was der andere hat, und er selbst niemals haben wird.
Das ist für mich auch der Höhepunkt der Geschichte (auch wenn andere den Satz lächerlich fanden ;)), der Satz hat für mich einen unbestimmbaren Reiz. Freut mich wirklich sehr, dass du das auch so siehst! :)

Vielen Dank für deinen ausführlichen und einfühlsamen Kommentar! :)

Gruß
Andrea

 

Hallo Andrea H.!

Weniger mein Fall deine Geschichte, obschon die Idee zweifelsfrei originell ist. Ich hatte Mühe, mich in die skurrile Zukunftssituation einzufühlen und konnte leider weder zur einen noch zur anderen Figur deiner Geschichte eine Verbindung herstellen. Insbesondere dem Protagonisten wünsche ich eine etwas stärkere Ladung Gefühle, die angedeutete Wehmut und Sehnsucht nach Liebe flackert leider nur zu kurz auf für meinen Geschmack. Die Personen bleiben Silhouetten. Infolgedessen empfinde ich auch an keiner Stelle so etwas wie Horror. Dabei steckt in der Idee grosses Potential. Sowohl das unsterbliche Leben und dahinsiechen vor dem Computer als auch die Aufgabe des Vampirs sind Schreckensfaktoren, die nicht vollends ausgeschöpft wurden.
Der erste Satz ist mMn überdies ein gutes Beispiel für einen Verstoss gegen das heilige „Show, don’t tell“-Gesetz. Da wäre mir lieber, du zeigest mir den Vampir in einem Fitnessraum mit anderen Gestalten und alle paar Minuten piepst ein kleines Funkgerät und einer verschwindet Hals über Kopf. An der Wand des Fitnessraumes hinge das Logo des Blutrotkreuzes, während dem Hantelnheben könnte sich der Protagonist persönliche Gedanken machen, die ihn dem Leser näher bringen.
Fazit: Mehr Atmosphäre und mehr vom Gefühl des Protagonisten täte deiner Geschichte mMn gut. Dass du zu atmosphärischem Schreiben in der Lage bist, zeigen einzelne, äusserst gelungene Sätze.

Freundliche Grüsse,

Van

 

Hey Van!

Ja, das Potential der Geschichte ist sicher noch nicht ganz ausgeschöpft, vielleicht mach ich irgendwann noch mal mehr draus. Auf jeden Fall werde ich mir deine anregenden Bemerkungen dazu nochmals ansehen, vielen Dank dafür!
Allerdings glaub ich nicht, dass man "show don´t tell" unbedingt durchgehend anwenden muss oder kann, prinzipiell, bei meiner Geschichte vielleicht schon! :D
Ich hab auch beim Schreiben ein wenig den Fokus gewechselt, zuerst war die Grundidee einfach, die Vampire als die Agileren und Lebendigeren darzustellen, während die Menschen eher lebende Tote sind, aber dann kam das Gefühlsmoment auch dazu, und wahrscheinlich hab ich das tatsächlich zu wenig betont, weiß nicht, das muss ich mir noch überlegen.

Vielen Dank jedenfalls für deinen hilfreichen Kommentar! :)

Gruß
Andrea

 

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