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Blutsinnen
Tom wusste jetzt seit drei Wochen, dass er heute etwas Blut verlieren würde. Aber er war sich genauso sicher, dass er die Wissenschaft damit ein ganzes Stück weiterbringen würde. Er befand sich in einem engen Raum ohne Fenster, in einem Raum innerhalb einer Arztpraxis. Alles funkelte förmlich vor erzwungener Sterilität, und die weißen kahlen Wände erinnerten Tom an ein Krankenhaus bei Nacht. Der Raum war fast leer, wenn man mal von einem Tisch, einem Drehstuhl, einem Glas Wasser und von einer Styroporschachtel absah, in der einige leere Kanülen, Reagenzgläser und steril verpackte Nadeln standen.
Nicht einmal Zeitschriften!, dachte er. Tom saß gelangweilt auf dem Stuhl und sinnierte darüber, wieso er hier war. Brauch ich das Geld so dringend? Die Frage ließ sich leicht und schnell mit Ja beantworten. Doch dass er für 100 Euro sogar an einem medizinischen Experiment teilnahm, war auch für ihn ein Novum.
Während die erdrückende Stille im Raum lag und sich auf alles legte, was es gab, wurde Tom nervöser. Er bekam nicht gerne Blut abgenommen. Das Gefühl, dass eine Metallnadel seine Haut durchstieß, blind eine pulsierende Vene suchte und schließlich ein Loch in diese bohrte, ließ ihn frösteln. Er stellte sich die Nadel vor, wie sie daneben stieß, wie die Krankenschwestern sich hinein fluchen würde, wild darauf bedacht ihren Chef nicht zu enttäuschen. Sein inneres Auge wanderte zur Spritze, welche dann auf die Nadel gesetzt werden würde, und wie die Krankenschwester mit einem starken Ziehen ein Vakuum in ihr erzeugen würde.
Blut. Blut! Es würde aus seinem Körper in die Spritze strömen, Tropfen für Tropfen für Tropfen.
Tom wurde schlecht. Er versuchte sich auf den Tisch vor sich zu konzentrieren und wartete darauf, dass die Türe aufging.
Warum mache ich das? Oh mann.. .
Das Geräusch der Klinke durchstach die Stille wie der erste Donnerschlag an einem Sommerabend. Als sich die Türe öffnete sah Tom den Arzt, einen groß gewachsenen Mann mit einem vertrauenswürdigen Gesicht. Tom sah ihn jetzt zum ersten mal, und bevor jemand auch nur was gesagt hatte, mochte er ihn.
„Wie geht es Ihnen, junger Mann?“ Eine sanfte, aber bestimmte Stimme. Aus ihr sprachen 30 Jahre Erfahrung.
„Ich“, zögerte er, „ja, ganz gut, glaube ich.“
„Sind Sie bereit?“
„Ja, das sind doch nur wenige Blutproben, oder?“
„Sogar nur zwei Stiche. Erst eine Testprobe, dann die eigentliche. Und die Blutabnahmen sind in 15-minütigen Abständen, nachdem Sie das Medikament bekommen haben.“
„Ja“, sagte Tom etwas geistesabwesend, „und wann sind wir... ich meine, bin ich hier fertig?“
„In vier Stunden etwa. Gut. Noch Fragen?“
„Nein.“
„Dann wird ihnen die Schwester hier jetzt die erste Probe entnehmen.“
Die Schwester?
Der Arzt ging hinaus und eine blutjunge Frau in weißem Kittel trat ein. Hätte sie nicht so ein grimmiges Gesicht gehabt, wäre sie zweifellos wunderschön gewesen, doch Tom, der eh schon ziemlich angespannt war, machte sie Angst.
„Den Arm freimachen.“ Ein befehlender Ton. Tom gehorchte. Das Abdrückband schlang sich um seinen Oberarm und Tom fühlte seine Pulsschläge.
„Eine Faust machen.“ Tom zögerte kurz, denn gerade entfernte sie die Schutzhülle der langen Nadel. ER fröstelte, als die Nadel immer näher kam. Die Frau desinfizierte die Haut, und setzte zum Stich an.
„Zittern Sie nicht so, sonst steche ich daneben.“
Tom zitterte noch mehr. Dann sah er, wie die Nadelspitze sich zunächst auf seiner Haut bewegte, und schließlich den Weg in seinen Körper fand Doch die durchsichtige Kanüle an der Nadel blieb leer.
Tom sah die Nadel, wie sie sich unter seiner Haut bewegte. Nach links, nach oben auf der Suche nach der Vene.
Die Nadel drückte sich noch stärker nach oben, und Tom war sich sicher, dass sie gleich wieder aus der Haut herausstechen würde, doch in dem Moment wurde die Kanüle rot. Die Vene war getroffen.
Blut schoss hervor, die Schwester steckte schnell den Spritzenbehälter auf die Kanüle. Tom schloss die Augen, er konnte nicht nur kein Blut sehen, nein, wenn es sein eigenes war, wurde ihm sogar schlecht. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, und er spürte, wie Milliliter für Milliliter aus seinem Körper entwich.
Als er die Augen öffnete war es schon vorbei. Die blutige Nadel lag im dafür vorgesehenen Behälter, das Reagenzglas mit seinem Blut lag in der Schachtel vor ihm. Die Tür schloss sich, er war alleine.
Erste Etappe hinter uns, dachte er.
Keine Zeitung, keine Beschäftigung. Er goss sich ein weiteres Glas Wasser ein, ließ es aber stehen.
Stille. Kein Laut. Nicht einmal Schritte waren zu hören. Tom starrte wie gebannt auf das rot gefüllte Glas und setzte sich dabei gerade hin. Unvermittelt stieß er dabei gegen ein Tischbein, und der ganz Tisch wackelte, besonders die Schachtel mit den Gläsern. Tom legte seine Hände auf die Platte und alles fand seine Ruhe wieder.
Bis auf...
Direkt vor Toms Augen auf dem Tisch befand sich ein Tropfen Blut. Sein Blut.
Sein Hirn spielte die verschiedensten Szenerien durch, wie er mit diesem Tropfen verfahren sollte. Einmal wischte er ihn mit seinem Pulli weg, einmal mit seinem Taschentuch. Einmal schütte er Wasser darüber und ein letztes mal, zu seinem entsetzen, sah er sich den Tropfen ablecken.
Doch Tom brauchte sich nicht zu entscheiden. Der Tropfen rollte nach rechts. Die Schachtel war nur fünf Zentimeter entfernt.
Tom traute seinen Augen nicht. Langsam, als würde er leben, bewegte sich das Blut. Der Tropfen sah plötzlich nicht mehr wie ein Klecks aus, sondern rund, wie eine Kugel. Wie ein Wassertropfen in der Schwerelosigkeit. Tom hörte die Stille nicht mehr. Seine Sinne waren auf sein Blut gelenkt, dass sich einen halben Meter vor ihm anfing zu verändern.
Die Blutkugel stieß gegen die Schachtel und wurde wie zu einem unförmigen Klecks, der aber sofort die weiße Schachtelwand hinauf glitt. Toms Beine wurden plötzlich taub. Eine unbändige Angst in ihm ließ ihn sich vom Tisch wegschieben.
Der Tropfen erstarrte. Beinahe peinlich war die Stille in dem Moment, fast, als ob jemand etwas unfreundliches gesagt hätte und antworten wolle. Dann stieß der Tropfen auf das Reagenzglas und glitt an der spiegelglatten Oberfläche zum oberen Rand. Diesen überwunden floss er pfeilschnell zum restlichen Blut.
Toms Gefühle waren eine Mischung aus Furcht, Neugierde und Furcht. Er wollte hinauslaufen, entschied sich aber dagegen, denn bei solchen Halluzinationen würde er bestimmt ohne Geld vor die Türe gesetzt werden. Er beugte sich etwas nach vorne, und besah sich das Reagenzglas. Noch 30 Zentimeter war sein Kopf von diesem entfernt, noch 20 Zentimeter, näher und näher.
Das Reagenzglas zuckte.
Noch 15 Zentimeter. Es zuckte erneut, fast als ob es selbst nervös wäre. Tom entfernte sich.
Er streckte seine Hand aus und wollte das Glas anfassen, doch je weiter er sich näherte, desto mehr fing es an zu zappeln.
Wie zwei Magneten, dachte er, die...
Mit einem gewaltigen Schlag ging die Tür auf und die Schwester betrat den Raum.
„Runde zwei!“
Schon?
Schon. Die Schwester ging zur leblosen Styroporschachtel und holte eine Venenbraunüle hervor.
„Was ist das?“
„Wir wollen Sie a nicht zu oft stechen. Darum leg ich Ihnen jetzt eine Braunüle.“
„Ja, aber was genau ist das?“
„Wenn Sie es so genau wissen wollen: Ich schiebe Ihnen jetzt ein Röhrchen in die Vene, das ein Ventil hat. Wann immer wir Blut von Ihnen brauchen, setzen wir eine Spritze an das Röhrchen und öffnen das Ventil.“
„Sie schieben etwas in meine Adern?“
„Ja, aber keine Angst, die Venen haben keine Nerven, es tut nicht weh.“ Sie grinste überheblich.
Toms Magen drehte sich wieder um.
„Aber kann das Röhrchen sich nicht lösen?“
„Und dann in Ihr Herz stechen?“ Noch überheblicher. „Nein, es würde roher schon in Ihrer Schulter hängen bleiben.“
Sie fand Toms Frage zweifellos sehr witzig, doch als sie Toms Gesicht sah, sagte sie kurz angebunden: „Wenn wir die Röhre aus Ihnen herausziehen, ist alles wieder in Ordnung. Venen heilen sehr schnell.“
„Sie stach in die selbe Stelle, wie vorhin, durchstach die Vene erneut, und schob die Braunüle durch die Nadel. Als das Plastikröhrchen in seinem Körper lag, hatte Tom plötzlich das Gefühl irgendwie offen zu sein.
Die Schwester zapfte wieder einige Milliliter ab, stellte das offene Reagenzglas in die Schachtel, schloss vorher das Ventil und entschwand. Die Tür fiel ins Schloss. Es war totenstill. Toms Kopf zuckte zum Tisch zurück. Beide Reagenzgläser zitterten, schlugen sogar leicht gegeneinander.
Die Klinke glitt herunter, die Tür öffnete sich erneut. Der Arzt kam zurück und die Gläser rührten sich nicht mehr.
„Nun, junger Mann,“ begann er in einem ebenfalls überheblichen Ton. Doch diese Überheblichkeit gefiel Tom, denn sie zeugte von Erfahrung und zeigte, dass dem Arzt sein Beruf gefiel. „Jetzt zu dem Medikament. Wie sie bereits gelesen haben, testen wir ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel, das für gewöhnlich Menschen verabreicht wird, welche Opfer unkontrollierter Anfälle aufgrund psychologischer Ursachen sind. Wir möchten die Auswirkungen des Medikamentes auf gesunde Menschen untersuchen.“
Gesund. Bin ich das?
„Ich möchte Sie bitten, uns bei unseren regelmäßigen Besuchen bei Ihnen mitzuteilen, wie es Ihnen geht. Okay?“
„Okay. Wie oft kommen Sie vorbei?“
„Alle 15 Minuten.“ Der Arzt gab ihm eine Tablette. „Bitte schlucken Sie diese“, er sah auf die Uhr und wartete einige Sekunden, „genau – jetzt.“
Tom tat es. Ein bittersüßer Geschmack.
„Haben Sie noch Fragen?“
„Nein, danke.“
„Dann lass ich Sie jetzt allein. Bis in 15 Minuten!“
Erneut glitt die Türe ins Schloss.
Die Pille glitt seine Speiseröhre hinab und löste sich in seinem Magen auf. Tom wusste es nicht, doch in seinem Magen war viel los. Unter anderem versuchte die Tablette so schnell wie möglich durch die Magenwände ins Blut zu gelangen, welches sein Hirn versorgte.
Er wurde durch ein Klirren aus seinen Gedanken gerissen. Die Inhalte beider Gläser schienen darum zu kämpfen zueinander zu finden. Wie gebannt blieb sein Blick auf sein Blut fixiert. Für einen Augenblick dachte er daran die Behälter zusammen zu schütten, beließ es aber dabei.
Niemand kann mir das glauben.
Er empfand die Situation plötzlich als lustig. Natürlich war es unnatürlich, natürlich war es wahrscheinlich eine Halluzination, vor der er sich wie nie zuvor vor etwas fürchtete. Aber gerade das machte es interessant. In Toms Leben passierten selten genug verrückte Dinge.
Was will mein Blut?
Kann mein Blut überhaupt...
Doch der Gedanke von seinem Blut als von einem Lebewesen behagte ihm nicht. Immerhin war es sein Blut, und bis eben hielt es noch ihn am Leben. Die Uhr war der Meinung, dass gerade 10 Minuten vergangen waren, doch seine innere Uhr ging von höchstens einer Minute aus. Zeit fasst der Mensch halt sehr relativ auf, vor allem, wenn er abgelenkt ist.
Er lehnte sich zurück, schaute auf die Reagenzgläser, und fragte sich, was nun passieren würde. Nein, das ist falsch: Warum? Das war die richtige und wichtige Frage.
Für einen Moment beruhigte sich sein Blut (das in den Gläsern und das in seinem Körper), doch dann zitterten die Behälter wieder und schlugen gegeneinander. Tom fühlte sich an den Film Terminator Teil zwei erinnert, in dem der Bösewicht aus flüssigem Metall bestand, und sich wieder zusammensetzen konnte, nachdem er zerstört wurde. Und jedes mal war er hinter der schönen Hauptdarstellerin und ihrem Sohn her gewesen.
Ihrem Blutsverwandten. Das Wort "Blut" schoss ihm nun dauernd durch den Sinn. Aber die Warum-Frage konnte er sich nicht beantworten. Wie ein sich mehr und mehr aufregender Magen begann das Blut vor ihm plötzlich leicht zu brodeln. Wäre Dampf aufgestiegen, wäre Tom sich sicher gewesen, dass es kochte. Einzelne Tropfen spritzten aus den Gläsern hervor, doch sie landeten nicht auf dem Tisch. Vielmehr verbanden sie sich in der Luft zu größeren Tropfen und fielen wieder in eins der Gläser zurück.
Tom setzte sich aufrecht hin, und sah sich einen der Tropfen in der Luft an, der gerade schwebte. Er schwebt! Unabhängig von der Unmöglichkeit dieser Aussage war er fasziniert, wie der rote Lebenssaft nach links und rechts schwebte und schließlich mitten in der Luft stehen blieb. Beinahe erwartungsvoll.
Tom beugte sich nach vorne, versuchte den Tropfen genauer in Augenschein zu nehmen und legte seinen Kopf leicht nach links. Seine Augen fokussierten das Blutgebilde, den Tropfen, der wie im All seine Form veränderte und sich bewegend auf der Stelle verharrte. Was in den nächsten zwei Sekunden passierte ging dermaßen schnell, dass er keine Zeit hatte es voll zu realisieren:
Er beobachtete sein Blut, hatte das Gefühl, das Blut würde ihn beobachten. In dem Moment krachte die Türklinke fast gewalttätig nach unten. Der Tropfen schoss los, gewann an Geschwindigkeit. Die Schwester kam herein, sah den Probanden mit dem Oberkörper auf dem Tisch liegen und zittern. Die Reagenzgläser wackelten auf dem wackelnden Tisch mit. Tom hingegen sah den Tropfen auf sich zukommen, nahm ihn wie in Zeitlupe wahr. Eine reflexartige Bewegung ließ ihn aufzucken, und er stellte fest, dass der Tropfen keineswegs sein Gesicht im Visier hatte: Er wollte zu seiner verletzten Vene.
Er spürte das Blut auf seine Haut aufschlagen, genau oberhalb der Braunüle - das Blut unter dem Einstich der Nadel begann sich zu bewegen. Der Tropfen versuchte mit aller Macht in Toms Körper zu gelangen.
"Hab ich Sie gerade erschreckt?"
Schweigen. Eine Hitze an der Wunde.
"Sie zuckten gerade so komisch nach oben..."
"Ich... nein, nun, ..." Tom wusste nicht, was er sagen wollte, er hatte Schmerzen. "Ich habe nur-..."
"Sie bluten ja!"
Der Blick der Schwester blieb auf seinem Oberarm hängen, der aussah, als ob sich die Braunüle gelockert hätte, oder die Wunde aufgegangen wäre. In sich spürte Tom, dass etwas mit seinem Arm nicht stimmte, denn er wurde an der Stelle des Bluttropfens plötzlich unendlich heiß.
"Warten Sie, das haben wir gleich."
Schweigen. Brennen.
Die Schwester nahm ein Desinfektionsmittel, sprühte es auf die Wunde und wischte das Blut mit einem Taschentuch weg. Die Stelle fühlte sich an, als würde ein Eiswürfel darüber fahren. Wohltuend, doch gleichzeitig noch immer irgendwie brennend, als ob seine Wunde überhaupt nicht zufrieden mit der Säuberungsaktion wäre.
"Da hätten wir uns ja schon fast die nächste Abnahme gespart..." Ein schauriges Grinsen durchsetzte ihr Gesicht. Tom verstand den Witz, konnte aber nicht darüber lachen, weil er so flach war. Das Brennen ließ nach, und die Schwester war schon geschäftig dabei eine neue Kanüle an die Braunüle zu setzen. Sie erzeugte einen Unterdruck in der Spritze und zwang das Blut heraus, Stück für Stück. Das Reagenzglas war voll, und sie klebte den richtigen Zettel darauf (VP25 – T+15). Dann stellte sie das Glas neben T-10 und T-0. Tom hatte das Gefühl, die Reagenzgläser hätten einen Freund dazu bekommen.
"Sehr gut, fühlen Sie sich irgendwie müde oder so? Eben sind Sie ja schon fast auf dem Tisch eingeschlafen, oder?"
"Nein..."
"Wirklich nicht?"
"Nein..."
"Sie sprechen so tonlos."
"Nein..."
"Okay, dann bis in 15 Minuten. Können wir Sie alleine lassen oder schlafen Sie ein?"
Er überlegte. Kann sie mich alleine lassen?
"Ja, ich... mir geht’s gut."
Sie griff nach der Türklinke. "Ach doch, Schwester,“ er versuchte behutsam eine Frage zu formulieren, „haben Sie schon einmal erlebt, dass sich... nein... schon gut."
"Was denn?"
"Naja, dass Ihr Blut, sich..." Seine Wunde brannte auf. "Na, ist nicht wichtig."
"Doch, sagen Sie schon. Das ist mein Job."
Er bezwang den Schmerz für einen Moment. "Dass Ihr Blut irgendwie lebt oder selbständig wird?"
Die Schwester hatte das schon öfters gehört: "Ja, das haben mir schon viele Leute berichtet. Ganz besonders Menschen, die dieses Medikament übrigens bekommen."
"Achja? Bewegt es sich?" Aufgeweckt.
"Das Blut? Das sagen die Leute jedenfalls." Resigniert.
"Auch Probanden?" Hoffnungsvoll.
"Nein. Ich werde es dem Arzt sagen." Zögernd.
Die Schwester ließ die Tür hinter sich zuknallen, und Tom wusste, was er sehen würde, wenn er sich umdrehte, auch wenn die Erwähnung des Arztes ihn irgendwie beruhigte. Langsam und voller Vorahnung wandte er sich um. Die Reagenzgläser standen still da. Seine Wunde war noch ein wenig warm, doch auch das ging vorbei. Doch er fühlte sich in der plötzlichen Stille auf einmal unwohl. Fast wie...
Er bemerkte, wie sein Fuß auf einem Schnürsenkel stand. Welch Unsinn! Ein Schnürsenkel!
Dennoch beugte er sich hinab, löste die lockere Schleife, und band sie neu. Woran denke ich nur? Will ich mich ablenken? Er kam wieder nach oben, sah auf, und blickte in zwei Blutstropfen, welche zehn Zentimeter vor seinen Augen entfernt in der Luft schwebten.
Die Stille war bedrohlich.
Seine Gedanken formten die Worte "Was wollt ihr?" auf seinen Lippen.
Und die Antwort war schmerzvoll.
Die Tropfen streckten sich und zwangen seinen Kopf auf magische Weise näher zu kommen. Plötzlich beschleunigten sie und mit einem Feuer aus Schmerzen öffneten sie je ein kleines Loch in seinem Hals, drangen in ihn ein und die Wunden verschlossen wieder. Nichts war zu sehen, außer zwei rötlichen Stellen über der Hauptschlagader.
Und Schmerzen...
Unvorstellbare Schmerzen, als hätte ihm jemand ein Messer an den Hals gesetzt und einen Schnitt gezogen. Längst abwärts. Er spürte förmlich das Brennen einer offenen Wunde und hatte Angst sie mit seinen Fingern abzutasten. Dazu hatte er jedoch nicht einmal die Möglichkeit, denn unmittelbar danach zuckten die Reagenzgläser, als wären sie wild geworden. Tom heuchelte sich selber keine Faszination oder ähnliches vor: Er hatte Angst. Unbeschreibliche Angst. Er wollte aus dem Raum rennen, sein Blut zurücklassen, einfach der Lage entrinnen.
Er dachte an das, was ihm eben geschehen war, an die Schmerzen. Er wusste, dass ihn die Welt draußen für verrückt halten würde. Obwohl... Hatte die Schwester nicht eben gesagt, sie hätte von so etwas bereits öfter gehört? Hin- und hergerissen zerrannen die Sekunden während das Blut vor ihm wieder anfing sich nach oben auszubeulen. Die drei Reagenzgläser Blut bildeten an ihrer Oberfläche wieder einen Tropfen, der sich irgendwann lösen würde.
Ich kann nicht wegrennen. Aber was ist mir das hier wert? Gott! Ich bin Wissenschaftler! Tom: Analysier' das!
Doch seine analytische und theoretische Denkweise wurde von dem Urtrieb der Furcht überschattet. Er sprang auf, riss die Tür aus ihren Angeln und rannte den Gang der Praxis herunter. Menschen, überall Menschen! Er rief nicht um Hilfe, aber sein Handeln sagte den Schwestern alles. Drei von ihnen und ein Arzt stürzten sich auf ihn und hielten ihn fest. Tom schnappte noch einige Worte wie „Verrückt“, „Fehlschlag“ oder „Hol ein Glas Wasser!“ auf, aber seine Aufmerksamkeit galt der Türe aus der er gerade gekommen war. Nachdem die Menschen in weißen Kitteln ihn zu Boden gerungen hatten, blickte er zum Eingang in sein persönliches Wartezimmer mit den Blutproben.
Zwei dicke Bluttropfen starrten ihn wie rote Augen an. Menschen liefen, riefen, hasteten zum Telefon, zur Wasserleitung. Tom sah gebannt auf die roten, sich bewegenden Kugeln, die ihn schwebend anvisierten.
„Was ist mit Ihnen los? Was können wir tun?“
Die Fragen und Stimmen stürmten auf ihn herein, doch das Medikament, für das er die Strapazen auf sich nahm, blockierte seine Sprache: „Werd' ... Blut... will weg...“
„Wir bringen Sie auch weg. Keine Sorge. Aber sagen Sie uns, was geschehen ist!“
Die Tropfen bewegten sich auf ihn zu. Ganz langsam gewannen sie an Geschwindigkeit.
„Wir wollen Ihnen helfen, aber Sie müssen uns sagen, was los ist!“
Tom streckte den Zeigefinger aus und richtete ihn auf die Türe. Die Menschen folgten seiner Hand, doch alles, was sie sahen, war eine Türe. Toms Verstand versuchte sich selbst auf ein nüchternes Niveau zu bringen. Sie sehen die Tropfen nicht. Sie achten nicht auf solche Dinge.
Das Blut beschleunigte weiter. Seine Augen zitterten vor Angst. Der Schmerz, der ihn gleich überkommen würde, war schon im Vorfeld unerträglich. Was kann ich tun?! Er nahm das Blut nur nach als roten Schweif wahr, als es seinen Hals erreichte, ihn aufriss, sich mit dem Körper vereinigte und ihn wieder schloss. Die Ärzte blickten von der Tür zu ihm, doch für den schnellen „Angriff“ waren sie eindeutig zu langsam. Alles, was sie mitbekamen, waren die Schreie des Probanden, der wild um sich schlagend das Brennen kompensierte.
„WASSER!“
„Gebt ihm Wasser! Nun kommen Sie schon! Her mit dem Glas!“
Der Arzt setzte es an Toms Mund an, doch der riss es ihm aus der Hand und schüttete den Inhalt über seinen geröteten Hals. Wohltuende Kälte breitete sich aus.
„Er ist verrückt, Doktor. Wie gesagt. Er erzählte etwas über Blut, und dass es sich bewegt.“ Die Schwester konnte ihr Grinsen nicht abstellen, auch wenn sie die Situation nicht ansatzweise humorvoll fand. Sie fühlte lediglich ihre Vorahnung bestätigt.
„Bringen wir ihn erst einmal in mein Zimmer, damit er sich beruhigen kann.“
„In Ihr Zimmer, Herr Doktor?“
„In meins. In Zimmer drei ist gerade ein anderer Notfall, der hat Priorität. Setzen Sie ihn in meinen Sessel, und geben Sie ihm, was er möchte. Und rufen Sie bitte Doktor Kontschef an und halten Sie die Verbindung.“
„Ja, Doktor.“
Der Arzt verschwand. Seine „private“ Schwester hingegen setzte sich gegenüber ihren Kolleginnen durch, und nahm Tom zuerst in die Arme um ihn ins Zimmer des Chefs zu bringen. Enttäuscht wandten sich die anderen ab um die übrigen Patienten wieder zu beruhigen.
Tom war der festen Überzeugung, dass ihn niemand verstand. Doktor Kontschef? Sicher ein Nervenarzt. Er mochte die Schwester nicht. Sie setzte ihn in einen Sessel, und sagte:
„Ich hol Ihnen noch ein frisches Glas Wasser. Alles ist okay, bleiben Sie einfach hier.“
Tom wollte sich bedanken, doch sein Mund brachte keine Worte mehr heraus. Lähmt das Medikament meine Muskeln? Er vermutete es. Die Tür glitt hinter ihr zu, und schien sich nur Sekunden später wieder zu öffnen. Ein frisches Glas Wasser wurde gebracht, Tom nahm seine Umgebung nur noch verschwommen war. Anscheinend begann das Beruhigungsmittel nun endgültig zu wirken.
Ebenso verschwommen nahm er die eifrige Schwester wahr, die aufrichtigen Herzens alles daransetzte ihren Job zu behalten. Es war nicht seine „private“ Schwester, sondern eine noch hübschere blonde Schönheit. Und sie war wirklich hübsch. Ihre Haare waren zu einem hübschen Zopf zusammengebunden, und sie schien sehr jung zu sein.
Sie wünschte ihm vorsichtig einen Guten Tag, und verließ den Raum wieder. Er war allein. Er fühlte sich allein. Diese Stille, er hatte sie heute schon zu oft gehört. Er schloss die Augen, war kurz davor einzuschlafen, als sich die Tür erneut öffnete.
„Ich bin’s noch mal.“
Wieder die Stimme von gerade. Tom stellte sich das Gesicht der Schwester vor und versuchte einen Satz, doch er stöhnte nur laut.
„Ja? Was... möchten Sie mir was sagen?“
„... ...Name...“ Das Wort entglitt seinem Mund sehr unkontrolliert, doch die Frau verstand es.
„Mein Name? Ich bin Janine, und wie heißen Sie?“
„... ... T-t-t...“
„Strengen Sie sich nicht an, ich es doch hier auf Ihrer Probandenkarte. Tom?“
Er nickte.
„Okay, Tom. Darf ich Tom sagen?“
Wieder nickte er.
„Gut, ähm... die Schwestern hinten machen sich ein Paar Sorgen um dich. Vor allem meint Schwester Anne, du wärest... nunja, du wärest verrückt. Stimmt das?“
Wahrscheinlich. Er nickte.
Janine lächelte kurz, bevor sie weiter sprach: „Weißt du, du bist nicht viel älter als ich, und ich kenne nur alte Leute, die wirklich verrückt werden. Wenn du mich fragst, dann bist du gerade wegen dem Medikament weggetreten.“
Tom öffnete die Augen. Er blickte in das schönste Gesicht, das er je gesehen hatte. Er wusste, was er ihr sagen wollte, doch seine Lippen verweigerten jede Bewegung. Er blickte ihr in die Augen, besah ihre Stirn und ihr Haar, dessen Zopf ihr über die linke Schulter hing, als sie sich zu ihm beugte.
Und über dem Haar sah er zwei blutrote Augen, die ihn fixierten, ihn förmlich ansahen.
NEIN! BITTE NICHT!
Janine hatte die Blutproben und das andere Material von Tom in das Zimmer gebracht, als sie hereinkam. Jetzt glaubte sie Wahnsinn in seinen Augen zu sehen. Tom hingegen sah Blut, er sah überall Blut. Anscheinend hatten sich seine Blutproben in hunderte Tropfen verwandelt, die alle um ihn herumschwebten und warteten. Warteten.
Worauf?
Janine drehte sich um, und wollte den Arzt rufen, doch sie wusste, er würde sie so nicht hören. Die Bluttropfen versteckten sich vor ihrem Blick. Janine ging auf die Tür zu, fest entschlossen sofort jemanden zu holen, der Tom helfen konnte.
Das Blut schoss auf ihn ein. Es durchbohrte seinen Körper an allen Stellen. Tom fühlte nichts mehr als Schmerz. Ja selbst den Schmerz nahm er vor Schmerz nicht mehr wahr. Sein Bewusstsein schaltete sich ab, doch die Schmerzen weckten es wieder.
Janine wandte sich noch mal um: „Und Tom? Schlafen Sie mir nicht... Tom!“
Sie sah, wie zwei große Kugeln aus Blut auf Toms Arm zuflogen, den Arm, in dem noch immer eine Braunüle steckte, der Arm, aus dem sie gekommen waren.
Vereinigung.
„Tom!!!“
Vereinigung.
„Hilfe!!!“
Vereinigung.
„HILFE!!!“
Janine stürmte auf Tom zu um das Blut abzuwehren, dass sich gnadenlose Wege in seinen Körper bahnte, doch es war zu spät.
Die Tür schlug auf, und herein kam der Arzt. Tom nahm ihn wahr, konnte aber nicht einmal mehr seine Augen vor Lähmung durch Medikamente und Schmerz bewegen.
Sein Blut war wieder in ihm, und es lief und lief endlose Bahnen in seinem Körper. Seine Gedanken glitten zu Janine, deren Gesicht er nicht wieder vergessen würde.
„Was ist... oh Gott! Was ist mit passiert?!“
„Ich-ich weiß es n-nicht, Herr Doktor, g-g-ganz viele.....“, stotterte sie.
„Ganz viele was?“
„Er... hyperventilierte nur, und ich glaube... Ich glaube, sein Körper kommt mit dem Medikament nicht klar.“
„Und da schreien Sie um Hilfe?“
Mit blutrotem Kopf ließ sie ihn auf Tom zugehen, welcher am ganzen Körper gerötete Stellen aufwies.
„Hatte er diesen Ausschlag vorhin auch schon?“
„Nein, Herr Doktor, er... doch, seit seinem ersten Anfall vorhin schon.“
„Ah, gut. Wir werden sehen, dass wir ihn in die psychologische Betreuung überstellen. Ich kann hier nicht viel für ihn tun. Kommen Sie noch mal her. Hier. Halten Sie seine Hand, der gute Kerl scheint ja völlig am Ende zu sein. Ich telefoniere kurz.
Der Arzt ging zum Telefon und Tom hörte ihn sprechen. „Hallo, verbinden Sie mich bitte auf der... Was? Oh ja, tut mir... klar...Danke!“
Seine Stimme veränderte sich. „Hallo Andi! Ja, tut mir leid, ich hatte hier einen Notfall und hatte den Mädels vorhin schon gesagt, sie sollten eine Verbindung zu dir herstellen. ... Ja. ... Immer!“ Er lachte kurz. „Immer, mein Freund. Du, ich hab hier einen grundlos hyperventilierenden Patienten, der auf eines der Medikamente sehr merkwürdig reagiert. Könntest du dir das mal anschauen? ... ... Ich schick eines der Mädchen mit ihm vorbei... Nicht? Na, das nehm' ich natürlich auch gerne an. ... Gut, bis gleich!“
Janine schaute zu ihm auf, und er meinte: „Kontschef komm gleich vorbei und wird ihn sich mal ansehen. Bleiben Sie doch bitte bei ihm.“
Der Arzt verließ den Raum, und Janine sah auf ihren „privaten“ Patienten, der völlig ausgelaugt leer in ihr Gesicht blickte.
„Kannst du mich noch hören?“
Er konnte sich nicht bewegen, nichts gehorchte ihm mehr. Doch plötzlich empfand er eine merkwürdige Wärme in seinem Gesicht, eine, die nicht von Janines Hand herrührte. Blut schoss ihm ins Gesicht und er errötete heftig.
„Ah... ich werte das mal als ein Ja.“ Was für ein bildhübsches Lächeln!
„Bist du müde?“
Sein Gesicht war plötzlich nur noch an den Wangen rot.
„Nicht müde? Also kannst du mich ganz und gar verstehen?“
Kleine rote Striche bildeten sich an dein Seiten von Toms Mund, so dass es aussah, als würde er breit lächeln.
„Super! Gut. Den Psychiater hast du getrost in der Tasche. Herr Kontschef ist ein sehr netter Mensch und wird dich wohl eine Nacht bei sich behalten wollen, in seiner Praxis. Aber du bist nicht verrückt, genauso wenig, wie ich blind bin oder so.“
Sein Herz schlug schneller.
„Und... ich vermute mal, ich soll Herrn Kontschef sagen, er soll dir kein Blut abnehmen, oder?“
Sämtliches Blut wich aus Toms Gesicht, so dass er leichenblass wurde, doch kurz danach kehrte es wieder zurück.
„Nein, tot will ich dich sicher nicht sehen.“ Wieder dieses Lächeln.
Der Arzt kam zurück und fragte Janine ohne Umschweife: „Sie haben doch mal ein Semester Medizinrecht gemacht, oder?“
„Hab ich.“
„Kann er uns verklagen?“
„Naja, wir haben ihn über diese Nebenwirkung nicht aufgeklärt, weil wir sie ja selbst nicht kannten. Also... war es wohl ein überhöhtes Risiko, auf das wir nicht hingewiesen haben.“
„Also?“
„Ja, kann er.“
„Was ist mit seinem Gesicht los?“
„Das Blut beruhigt sich wieder.“
„Und wieso sieht das so merkwürdig aus?“
„Tja...“
Tom saß noch immer im Chefsessel. Er konnte in dem Moment nicht anders als Grinsen, was natürlich niemand sah.
Darum tat es sein Blut für ihn.
„Warten Sie noch auf Herrn Kontschef, bitte.“
„Ja, Herr Doktor, das sagten Sie schon.“
„Achja? Okay, dann...ach was...“
Er drehte sich auf der Stelle um und verschwand wieder.
Janine kam auf Tom zu und lachte ihn an. „Du hast heut recht viel durchgemacht, möchte man meinen. Sag mal... bist du Single?“
So rot wurde er schon lange nicht mehr.