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Breaking Heroes

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25.01.2002
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Breaking Heroes

Wie verrückt alles doch manchmal ist.
Herr von Holm schmunzelte als er darüber nachdachte. Heute hier, gestern da, und morgen? Man konnte es nie wissen.
Und doch lief es am Ende immer auf das Gleiche hinaus. Es war immer das gleiche Spiel.
Man steht an einer Kreuzung und biegt nach links ab und am Ende hat man das gleiche Ergebnis wie wenn man rechts abgebogen wäre.
Oder war es doch anders?
Herr von Holm war sich plötzlich nicht mehr so sicher.
Es hatte doch alles ganz klein angefangen. Keine großen Ambitionen, nur ein Wachrüttelungseffekt. Herr von Holm, seine Frau, die Schmalbergs und Guido. Guido konnte was mit dem Internet, das war immens wichtig heutzutage.
Sein Sohn hatte geschmunzelt, und wahrscheinlich gelacht. Der lahme Versuch seiner Eltern auf ihre alten Tage noch die Midlifecrisis abzuwenden. Aber es war mehr. Es war...es war wirklich eine Vision gewesen. Sie hatten am Anfang vor Idealen nur so gestrotzt. Sie hatten einen Protestbrief geschrieben, einen saftigen, das war ihre erste Aktion gewesen. Ein halbes Jahr später gab es eine Antwort, man würde ihr Anliegen gerne berücksichtigen, momentan passe es einfach nicht in die Programmplanung. Mit freundlichen Grüßen.
Und die Privaten hatten auf die 450 mühsam gesammelten Unterschriften garnicht reagiert.
Es war eine schwierige Arbeit. Ein monatliches Newsletter für die Webseite, die zweiwöchentlichen Sitzungen, regelmäßige Telefonate mit dem Abgeordneten - es gab viel zu tun.
Leider sprang nicht viel dabei raus. Man hatte ein paar Sympathisanten hinzugewonnen, und ein paar Mädchen in Herr von Holms Sohns Klasse hatten die Buttons an ihren Bundeswehrrucksäcken festgemacht. Aber das war eher die typische pubertäre Antifa-Phase.
Es war immer das Gleiche. Man wurde nie ernstgenommen. Aber das würde sich ab heute Abend ändern. Heute Abend würden die Augen der Nation geöffnet werden. Dann würde keiner mehr lachen.
Herr von Holm überprüfte das Panzertape. Der Tontechniker krümmte sich vor Schmerzen, aber durch das Tape drang nur sein Wimmern. Das zertrümmerte Knie hing schlaff herab. Wenn er sich nicht gewehrt hätte, hätten sie nicht diese alter IRA-Methode anwenden müssen. Er sollte sich bloß nicht beschweren.
Herr von Holm schaute auf. Seine Frau stand hinter Kamera 1 und deckte das gesamte Studio mit ihrer Uzi ab.
Herr von Holm leckte sich über die Lippen. Sie war schon über vierzig, fast fünfzig - mein Gott, schon fast fünzig?!? - aber nach wie vor ein Rasseweib. Und jetzt, im Tarnanzug, Skimütze und mit Waffe in der Hand...
Herr von Holm rückte seine Hose wieder zurecht und versuchte sich abzulenken. Er schaute auf die Studio-Uhr.
Noch fünf Minuten. Noch 300 Sekunden bis zu seinen ganz persönlichen 15 Minuten Ruhm. Nein, das war nicht richtig. Das waren ihre fünfzehn Minuten. Ihre kleine Armee würde heute berühmt werden. Ihre Initiative würde um die Welt gehen. Vielleicht der Start einer Revolution. Vielleicht das Ende alles Bösen. Heute Abend würde sie keiner mehr verarschen.
Guido saß am Laptop, und beantwortete die Fragen von Usern aus aller Welt, die momentan die Chatraum ihrer Internet-Präsenz bevölkerten. Viele zeigten sich begeistert, andere verurteilten die Aktion. Man konnte es ja nicht jedem recht machen.
Herr von Holm schaute auf die Studiotür. Sie war verriegelt. Seit Stunden belagerten die Sondereinsatzkommandos das Studio. Sie versuchten alles um eine friedliche Lösung herbeizuführen. Aber heute Abend musste Klartext gesprochen werden.
Herr von Holm zog zwei blutüberströmte Leichen weg, die langsam anfingen zu stinken. Das war der einzige Nachteil.
Noch eine Minute. Die Schmalenbergs kamen aus dem Technikraum und führten den Nachrichtensprecher herein, zusammen mit dem letzten überlebenden Kameramann. Herr Schmalenberg stellte sich neben aschfahlen Anchorman, der am Tisch zitternd platzgenommen hatte.
Frau Schmalenberg hielt dem Kameramann eine Waffe an den Kopf. Und Frau von Holm hielt weiter Wache.
Herr von Holm schaute sich um. Überall im Studio, im ganzen Fernsehgebäude hingen ihre Aufkleber, ihre Transparente, ihre Flugblätter lagen überall, es war unübersehbar. Hinterher würde keiner sagen können: Ich hab nichts gewusst.
Es war soweit. Samstag Abend, acht Uhr, fünfzehn Millionen Zuschauer. Herr von Holm bekam eine Gänsehaut. Er umklammerte seine Waffe noch fester und kramte die Erklärung heraus die er vorbereitet hatte.
Der Kameramann gab mit zitternder Hand ein Zeichen. Der Nachrichtensprecher begann stockend zu reden.
"Guten Abend. Hier ist das Erste Deutsche Fernehen mit der Tagesschau. Aus aktuellem Anlass..."
Da ging irgend etwas schief.
Herr Schmalenberg fasste sich an den Hals, seine Augen traten heraus. Millionen klitzekleiner Blutpartikel formten sich für den Bruchteil einer Sekunde zu einer roten Wolke, bevor Herr Schmalenberg mit dem Kopf auf die Tischplatte fiel. Der Nachrichtensprecher fing an zu schreien. Wo vorher der Nacken von Herrn Schmalenberg gewesen war, glitzerte jetzt nur noch ein pulsierendes rotes Etwas.
Herr von Holm schaute auf. Wie in Trance verlangsamte sich alles vor seinem Auge. Guido flog verrenkt durch die Luft, einen roten Schleier hinter sich herziehend. Mehrere vermummte Polizisten rannten brüllend durch das Studio.
Superzeitlupe, Blaulichtfilter, Stroboskopeffekt.
Frau Schmalenberg erschoss den Kameramann, und fing dann an wild um sich zu feuern, traf Frau von Holm die gerade den Nachrichtensprecher erwürgte, und dann sackte sie selber zusammen. Herr von Holm sah einen Polizisten auf sich zustürmen. Er hob instinktiv die Waffe, war aber unfähig sie abzufeuern. Der Polizist legte an und schrie irgendwas, doch Herr von Holm hörte nichts. Irgendetwas war schiefgelaufen. Er betete zu Gott, er möge ihn doch retten. Bitte. Und dann schoss der Polizist.


Als Martin morgens aufwachte plagten ihn Kopfschmerzen. Die Nacht zuvor war er lange weggewesen, zunächst in der Kneipe, danach in der Disco. Es waren wieder die gleichen Leute dagewesen wie immer, sie hatten über die gleichen Sprüche gelacht wie sonst auch, zu den selben Liedern getanzt, auf die gleichen Hintern geguckt.
Und Martin war dabei gewesen, zwar im Hintergrund, in seinem Kopf aber im Vordergrund, doch das wussten die Leute nicht, denn Martin hatte keinen Freundeskreis, auch keine flüchtigen Bekannten.
Dabei bemühte er sich wirklich dabei zu sein, aber er war es nie. Er machte nicht wirklich was falsch, er tat sein bestes um Anschluss zu finden, er ging ja schon auf jede Party, auf jede Veranstaltung, nur Resultate gab es nicht. Er kam einfach nicht rein.
Doch Martin wars sich sicher, dass es irgendwann klappen würde, schließlich war er erst Mitte dreißig, und das waren, wie seine Mutter am Frühstückstisch immer sagte, die besten Jahre.
Seine Mutter backte ihm Sonntags immer Marmorkuchen, und "wenn du mal ein nettes Mädchen mit nach Hause bringst, könnt ihr gerne das Schlafzimmer haben." Aber das war bislang noch nicht passiert.
Als seine Arbeitgeber ihn damals feuerten, machten sie ihm Mut. Es läge ja nicht an ihm, um Gottes Willen, aber an der Offset-Montage war die Zukunft nun mal vorbeigerauscht, und infolgedessen hatte man sich Rationalisierungsmaßnahmen ausgedacht, den Anforderungen der sozialen Marktwirtschaft gerecht werdend, unabhängige Erhebungen hätten ja auch eindrucksvoll belegt, dass, und überhaupt, warum mache er sich denn Sorgen, gerade er, zu Füßen liegen würden sie ihm, ein schmerzlicher Verlust, und nach zwei Stunden war Martin arbeitslos und glücklich.
Martin frühstückte heute alleine, seine Mutter hatte ihm schon alles liebevoll hingestellt. Das Tagesgeschehen übersprang er gleich und wandte sich dem Sportteil der Tageszeitung zu.
Sein neuer Job als Putzfachkraft in leitender Funktion, Fähigkeiten die er sich in einer halbjährigen Umschulung angeeignet hatte, war dann zwar auch nicht das Gelbe vom Ei, aber immerhin musste er sich nicht jeden Tag die Augen von großen PC-Monitoren kaputt machen lassen. Es ließ ihn auch sein Nachtleben finanzieren, und natürlich auch seine beste und einzige Freundin Mary. Bei ihr war er glücklich.
Sie ließ ihn sich wie etwas besonderes fühlen. Es störte ihn auch nicht dass sie eine Nutte war, so hatte er sie schließlich erst kennengelernt. Sie war das beste was ihm je passiert war. Nach seiner Mutter. Sein erstes Mal hatte er mit ihr erlebt und danach, den Kopf an ihre Brust gelegt sein Herz geöffnet. Und sie hatte nur gesagt "Das kriegen wir schon hin". "Wir". Nicht "Du".
Und dann waren sie Freunde geworden, beste. Er besuchte sie zweimal die Woche. Martin hätte schon garnicht mehr bezahlen müssen, aber er tat es trotzdem, sie sollte sich was nettes davon kaufen, dass sie daran erinnern sollte, wer ihr bester Freund war.
Er würde, da war er sich sicher, sie irgendwannmal mit nach Hause bringen. In seinen Träumen hatte seine Mutter dann immer Tränen in den Augen, sie küsste Mary, und wie stolz sie wäre. Der Zeitpunkt würde bestimmt kommen.
Martin bog auf den Parkplatz ein. Ein Polizist hielt ihn an, ließ ihn dann aber passieren als er seinen Ausweis sah. Martin schaltete den Motor aus. Überwältigt starrte er auf das Gebäude mit den Fernsehstudios.
Überall Polizeiautos, Fernsehteams. Eine Reporterin schrie irgendetwas von Terroristen.
Martins Kollegen fegten auf der anderen Seite Papierfetzen zusammen, die überall herumlagen. Ein Transparent, ein grosses, hing aus einem Fenster im oberen Stockwerk. Doch er konnte es nicht lesen.
Er ging näher. Er wünschte sich die Zeitung genauer gelesen zu haben.
Männer in schwarzen Anzügen schoben schwarze Käste zu schwarzen Autos.
Ein Polizist hielt Martin auf und wies ihn auf das Polizeiband hin. Er ging einen Schritt zurück. Das Transparent konnte er immer noch nicht lesen. Mit sechs Jahren war eine leichte Kurzsichtigkeit festgestellt worden. Martin setzte sich seine Brille auf. Und dann konnte er das Transparent endlich lesen.
"Initiative kontra Gewalt im Deutschen Fernsehen"
Martin überlegte. Er nickte. Das war doch wirklich mal eine gute Sache.

 
Zuletzt bearbeitet:

Politisch bzw. sozial Engagierte besetzen ein Fernsehstudio. Soweit alles klar.
Einer der Hauptpersonen wundert sich über den Sachverhalt, wie schnell doch so eine harmlose Angelegenheit ausarten und aus den Fugen geraten kann. :eek1:
Dann kommt so ein dahergelaufener Martin, der nichts als gewöhnlich ist und heisst eine Sache gut, bei dessen Anstrebung mehrere Menschen ums Leben kommen und die eigentlich nur durch Fast-Zufall entstanden ist. :drool:

War das alles? :engel:

monatliches Newsletter
die Chatraum
Diese beiden Ausdrücke sowie die Interpunktion bedürfen der näheren Zuwendung.


Gruß, Hendek

 

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