Brille? Fielmann
Man sprach mich darauf an, ob ich nicht so gut sehen könnte. Immer häufiger in den Abendstunden neigte ich dazu, Laternenpfahlen nicht mehr aus dem Weg zu gehen und rote Ampeln zu übersehen. Mehrere schmerzhafte Erfahrungen hatten mich schnell überzeugt, den Optiker meines Vertrauens aufzusuchen, dessen Niederlassung die Fielmannfiliale in L. sein sollte.
Der äußere Eindruck schreckte mich nicht so sehr ab wie der innere. Schöne Menschen gab es hier nicht. Jeder trug eine Brille, sogar die Angestellten des Ladens.
,,Kann ich Ihnen helfen?’’ Eine junge Frau mit einer modernen Hornbrille blickte mir direkt in die Augen. Trotz einer Sehschwäche, die ich auch zum damaligen Zeitpunkt zugegeben hätte, konnte ich erkennen, dass die Verkäuferin nicht geschminkt war. Mein visueller Eindruck schockte mich zutiefst. Die Frau war abgrundtief hässlich. Und ich bin niemand, der vorschnell solche Äußerungen tätigt.
,,Ich hätte gerne einen Sehtest gemacht!’’, sagte ich und wurde sofort in ein kleines Nebenzimmerchen geführt und auf einen Stuhl ohne Rückenlehne gezwängt. Anschließend wurde ich dazu gezwungen, durch eine Brille zu blicken, deren Gläser austauschbar waren. Mithilfe der Gläser sollte ich eine Zahlenreihe erkennen, die via Diaprojektor an die Wand am Ende des Raumes projeziert wurde.
,,6, 11, 19...’’
,,Gröber oder feiner?’’
,,9, 11...’’
,,Gröber oder feiner?’’
,,Doch eine 6 als erstes?’’
Die Verkäuferin machte mich darauf aufmerksam, dass ich auch durchaus eine falsche Antwort geben konnte, wie wären hier schließlich nicht bei wer wird Millionär.
Das rechte Auge war nun auf sich alleine gestellt. Das linke Auge sollte ich zu machen.
,,Ach, dann war das die ganze Zeit ein „B“?’’
Die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
,,Gröber oder feiner?’’
,,X12, B8!’’
,,Spielen Sie mit mir Schiffe versenken?’’
Entgeistert blickte ich die junge Verkäuferin an.
,,Ich gebe Ihnen einen Tipp: es handelt sich lediglich um eine Zahlenreihe!’’
Nun war ich auf der Hut. Mit dem Tipp konnte ich ja fast durch Raten zum Erfolg kommen.
,,6, 11, 18, 25, 30!’’
,,Okay. Nun das andere Auge!’’
Die Verkäuferin notierte sich etwas auf einem kleinen gelben Zettel. Obwohl sich die Zahlen nicht geändert hatten, bemerkte ich sofort erste Probleme. Auswendig aufsagen konnte ich sie leider nicht mehr.
,,6, 11, 18, 23, 58?’’
,,Gröber oder feiner?’’
,,B-I-G-M-Ä-C?’’
Die Fantasie schien mit mir durchzugehen. Ich konnte sowieso nichts erkennen.
,,Ich glaube, da sind Sie hier falsch!’’, antwortete die abgebrühte Frau und steckte Gläser in die Brille, deren Breite mir äußerst bedenklich vorkamen.
,,6, 11, 18, 25, 30!’’
,,Jackpot!’’
Selten hatte ich mich so glücklich gefühlt. Nicht einmal beim korrekten Beantworten der Millionenfrage bei Günther Jauch hätte ich dieses Hohefühl gehabt, ich war mir sicher.
Die Frau kritzelte auf dem gelben Zettel herum und dann gingen wir zurück in den Laden.
,,Erstbrille?’’
,,Jawohl!’’
Die Frau blickte mich mißtrauisch an. Hätte ich die Frage verneinen sollen?
,,Sehen Sie sich im Laden um, welches Modell einer Brille Ihnen gefällt!’’, schlug sie vor und ich machte die Runde. Schon bald blieb ich an einer Robert-Downey-Jr. Brille hängen und winkte mit ihr der Verkäuferin zu.
Sie kam auf mich zu und lud mich ein, mich mit ihr an einen Tisch zu setzen.
,,Das würde insgesamt mit einer sechsfachen Entspiegelung exakt 350 Euro kosten!’’, sagte sie nach einer langen Rechnerei.
,,Bitte?’’ Ich dachte, mich verhört zu haben. Die Frau wiederholte die Zahl.
,,350 Euro für eine Brille? In wie weit ist dieser Preis denn berechtigt?’’
Die Frau schnappte nach Luft. Fieberhaft versuchte sie ein passendes Argument zu finden.
,,Die Gläser bestehen aus Kunststoff und werden sehr aufwendig hergestellt. Bedenken Sie, dass für Ihre Brille Ihre individuellen Stärken berücksichtigt werden müssen!’’
,,Ach, papperlapapp!’’, unterbrach ich die Verkäuferin grob, ,,Das wird doch heute alles in Masse produziert!’’
,,Aber die Herstellung ist so schwierig, dass nur jedes dritte Paar Gläser zum Verkauf angeboten werden kann!’’
,,Ach, dann bezahle ich für das Versagen der Herstellung? Wer bin ich denn? Krösus?’’
,,Wenn Sie sich die Brille nicht leisten können, besteht auch noch die Möglichkeit sich ein Kassengestell auszusuchen, dass zu 100% Ihre Krankenkasse bezahlt! Schließlich kann auch ich mir keinen teuren Mercedes leisten!’’
,,Jetzt vergleichen Sie aber Äpfel mit Birnen! Die Marke Ihres Autos ist für Sie nicht notwendig. Eine Brille hingegen ist sehr wohl notwendig. Oder kennen Sie jemanden, der freiwillig eine Brille trägt?’’
Sie sagte nichts. Im untersten Preisbereich lachte mich eine Brille geradezu an. Sie war zwar nicht so chick wie die teure, aber dennoch war ich mit ihr zufrieden.
,,Sechsfache Entspiegelung?’’
Ich war auf der Hut. ,,Was soll das kosten?’’
,,19.95 Euro!’’
,,Wann ist die Brille fertig?’’
,,In einer Woche. Wir melden uns bei Ihnen!’’
Ich gab ihr einen 20-Euro-Schein. ,,Behalten Sie den Rest!’’
Dann verlies ich den Laden und rannte gegen einen Laternenpfahl.