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Broken Soul
Der Regen schlug gegen das Fenster, der Wind ließ die alten Holzbalken unseres Fachwerkhauses quietschen und die Eiche in unserem Garten sah aus, als würde sie gleich entwurzelt werden.
Normalerweise liebte ich dieses Wetter, fühlte mich wohl und konnte mich entspannen. Heute saß ich im Schneidersitz auf meinem Bett und vor mir lagen die Rasierklingen, die mein Vater sich sonst in seinen Rasierhobel spannte, um seinen 3 Tagebart zu entfernen.
Im Licht meiner kleinen Nachttischlampe blitzte das kalte Metall bedrohlich auf, als ich eine der Klingen aus der kleinen Schatulle entnahm. Es war nicht das erste Mal, dass ich so in meinem Bett saß und alles beenden wollte, aber nie den Mut dazu hatte. Nie die Kraft besessen habe, den letzten Schritt zu gehen, meine Pulsader zu durchtrennen, das Blut aus meinen Körper zu lassen und ein letztes Mal die Augen zu schließen. Oft hatte ich es mir vorgestellt. Bis tief in die Nacht malte ich mir Szenarien aus, wie ich mich umbrachte. Es war alle dabei. Bis vom klischeevollen „Vor-den-Zug-springen“ zum kreativen Selbstmord durch selbstgebaute automatische Vorrichtungen, die eine Pistole nach Ablauf eines bestimmten Timers auslöste und mir den Gnadenschuss verpasste, den ich mir sehnlichst wünsche. Eingeschlafen bin ich immer mit einem Lächeln. Im Schlaf erlebte ich immer die Dunkelheit (ich träumte seit meinem 7. Lebensjahr nicht mehr), die ich mir vom Tod erhoffte, also konnte es gut und gerne vorkommen, dass ich bis zu 17h schlafend verbrachte. Aufstehen war eh zu schwer, jeder Gang vor die Tür fühlt sich an, als würde ich einen 20 Zentner schweren Stein mit mir mitziehen, jeder Sonnenstrahl fühlt sich an wie eine brennende Wunde auf der Haut eines Neugeborenen. Die ausgeschütteten Glückshormone kämpften gegen meine Psyche und sorgten dafür, dass ich ein Opfer von Stimmungsschwankungen wurde. Vom „Ausreißen der Bäume“ bis „Hinlegen und nie wieder Aufstehen“ in 5 Minuten hin und wieder zurück. Sämtliche Freundschaften endeten darin, dass ich den toxischen Gedanken zu Grunde gefallen bin, dass man mich nur hassen könne und keiner mich wirklich mochte. Immer war ich es der dann einen Streit verursachte, wegen Gründen, die ein normaler Mensch nicht mal ansprechen würde.
Ich saß also auf dem Bett. Die eben noch silbrig glitzernde Kling war blutgetränkt, weil ich mir in die Fingerkuppen geschnitten hatte. Heute war der Schmerz erträglich, ich fühlte ihn kaum. Es war mehr wie ein leichtes brennen, welches Euphorie in mir auslöste weiter und tiefer zu schneiden. Ich wollte rausfinden, ob ich noch dazu fähig war Schmerz zu empfinden.
Doch egal wie tief die Einschnitte in meine gingen, spüren konnte ich sie kaum. Am Handrücken, der linken Hand fehlte mittlerweile Fleisch im Durchmesser einer 2 Euro Münze.
Ich hörte die dumpfen Schläge der Standuhr, die im Wohnzimmer stand. Schritte im Flur. Ein grummelndes Gähnen. Mein Vater, der immer um 2 auf Toilette ging. Das Brennen in meiner Hand wurde nicht nennenswert intensiver. Ich liebte diesen Schmerz, wie nichts anderes auf der Welt. Die Toilettenspülung. Das Zuschlagen der Badezimmertür. Erneut die schlurfenden Schritte der behausschuhten Füße. Ich wusste, gleich konnte ich weitermachen, konnte es endlich zu Ende bringen. Heute war ein guter Tag dafür, quasi perfekt. Die letzte Abiturprüfung war geschrieben, ein Kapitel meines Lebens vorbei. Um die Zukunft musste ich mir keine Gedanken mehr machen. Wenige Sekunden würde es dauern bis das letzte Mal Sauerstoff meine Lungen fluten würde. Wenige Sekunden bis ich in mich zusammensacken würde. Mein weißes Bettlaken war purpurrot vom Blut meiner Hände.
Seltsam, ich hatte gar nicht gehört, wie die Schlafzimmertür zugemacht wurde. Er musste sich noch etwas zu trinken geholt haben. Plötzlich ging das Display meines iPhone an. Nachricht von Papa. „Alles gut? Du hast noch Licht an.“. Ich ließ ihn auf gelesen, mit meinen Händen, die vom Blutverlust bereits etwas zitterten, konnte ich weder das Handy halten, geschweige denn Nachrichten tippen.
„Ich bin stolz auf dich. Morgen früh habe ich eine Überraschung für dich, aber sag Mama nicht, dass ich dir das verraten habe. Schlaf gut.“
Der Polizeibeamte legte das Handy auf den Nachttisch der 18 Jährigen zurück, die neben ihm mit aufgeschnittenen Pulsadern lag. Er verließ den Raum durch die aufgebrochene Tür.