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Brombeeren
Irgendwo zirpte ein Zilpzalp seinen Namen. Um die alte Kokerei, welche schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb war, wuchs inzwischen ein Wald aus jungen Birken und Pappeln, durchzogen von Brombeergestrüpp und Brennnesseln. Ich radelte durch diese Idylle, auf der Suche nach dem perfekten Foto. Als ich es fand, bremste ich vorsichtig ab, um kein Geräusch zu viel zu machen, stieg vom Rad, legte dieses neben mich und schraubte ein Objektiv auf die Kamera. Ich hasste diese modernen Dinger, die nur einen Knopf haben und einem keine künstlerische Freiheit mehr lassen, und wenn sie nicht vorher aufgab, würde ich meine alte Nikon wohl mit ins Grab nehmen. Die Chancen standen recht gut, denn bisher erwies sie sich als so zäh wie mein Vater, der mir die Kamera ein paar Jahre zuvor vermacht hatte.
Das Mädchen nahm mich nicht wahr, und ich stellte ruhig, aber zügig meine Kamera ein. Blende, Entfernung, Schärfe. Ihr Mund war von den Beeren dunkel verfärbt, ebenso ihre Hände, die unentwegt die prallen, schwarzen Früchte von den stacheligen Sträuchern pflückten, einen kleinen Vorrat auf einem Handteller anlegten und diesen dann zwischen die Lippen schoben, bevor sie den nächsten Trieb zu sich heranzog und hier weiter erntete.
Ich hatte nur eine Chance, nur ein Foto, denn das Klicken des Abzugs und das Surren, das entstand, wenn man den Hahn spannte, würde sie unweigerlich hören. Ich hielt den Atem an, schaute durch den Sucher, vergewisserte mich ein letztes Mal, alles richtig eingestellt zu haben, und wartete.
Und dann kam er, der richtige Moment. Sie reckte sich weit nach oben, berührte mit den Fingerspitzen eine der dunklen Beeren, und während auf ihrem Gesicht der Ausdruck absoluter Konzentration und Hingabe erschien, der zeigte, dass sie voll und ganz im Hier und Jetzt war, ausschließlich auf diesen Augenblick bedacht, wehte der Wind ihr eine ihrer dunkelblonden Strähnen ins Gesicht.
Ich drückte ab.
Das Klicken war leise, und dennoch fuhr sie herum wie von einem Pistolenschuss erschreckt. Ich sah in ihre entsetzten Augen, sah zwei oder drei Brombeeren fallen und fühlte mich wie ein Eindringling. Ertappt ließ ich die Kamera sinken und lächelte sie entschuldigend an.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken." Sie nickte knapp und kam auf mich zu. Ruhig streckte sie mir ihre flache Hand entgegen, sah mich auffordernd an und fragte: "Magst du? Sind lecker diesen Sommer." Ich nahm eine Beere von ihrer Hand und steckte sie mir andächtig in den Mund. Fast glaubte ich, den Duft ihrer zarten Haut mit aufzunehmen, als der süße Saft der zerplatzenden Frucht meine Zunge benetzte. Ihre Augen hielten mich fest, betrachteten mich neugierig, ließen mich die Luft anhalten, um den Zauber des Momentes nicht zu zerstören.
"Von dem Bild will ich einen Abzug", sagte sie und grinste mich schelmisch an. Meine Mundwinkel wanderten ebenfalls nach oben, ich atmete aus, die Anspannung wich Erleichterung.
"Klar."
Sie nickte und drehte sich um, als wäre damit für sie alles gesagt. Bevor ich noch ein langes Gesicht machen konnte, wandte sie sich mir wieder über die Schulter halb zu.
"Komm, hilf mir beim Pflücken, die sind einfach zu lecker, um hängen zu bleiben!" Ich verstaute meine Kamera in der Tasche und ging zu ihr hinüber. Ich war größer als sie und konnte so die Ranken zu uns herunter ziehen, die für sie unerreichbar waren.
Eine Beere nach der anderen wanderte mal in ihren, mal in meinen Mund. Unsere Hände waren schließlich dunkel gefleckt, unsere Arme zerkratzt, ihre Haare zerzaust. Unsere Gesichter glühten im zurückgekehrten Eifer der leichten Kindheitssommertage um die Wette, die Welt um uns herum geriet in Vergessenheit. Als unser Appetit gestillt war, setzten wir uns neben mein Fahrrad in den Kies. Ihre Lippen waren so tief lila verfärbt, dass sie fast so schwarz wirkten wie ihre Augen, welche einen irritierenden Kontrast zu ihrem Haar bildeten. Ich betrachtete sie von der Seite und hätte gerne ein Foto gemacht oder sie geküsst, aber für beides war ich zu schüchtern. Mit einem leisen Seufzen legte sie sich zurück und sah in den Himmel.
"Schau mal, da ist ein Schwan", sagte sie und wies auf eine Wolke. Ich legte mich ebenfalls auf den Rücken und folgte mit meinem Blick ihrem Finger.
"Kann auch eine Gießkanne sein", erwiderte ich. Sie warf mir einen einzigen, missbilligenden Blick zu. Eine Weile noch fanden wir Hunde, die vielleicht Frösche waren, Enten, die Gorillas ähnelten und einen Ork, der einfach nur ein Ork war. Dann sagte sie leise "Fuchur", und ich sah ihr in die Augen und murmelte "ein Glücksdrache", während ich ihre Hand nahm und sie ganz nah zu mir heranzog.
Weit über uns glaubte ich einen warmen, bronzenen Klang zu vernehmen, als wir vorsichtig begannen, uns gegenseitig den Beerensaft von den Lippen zu küssen.
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September 2003