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Brombeeren

Seniors
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23.08.2001
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Brombeeren

Irgendwo zirpte ein Zilpzalp seinen Namen. Um die alte Kokerei, welche schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb war, wuchs inzwischen ein Wald aus jungen Birken und Pappeln, durchzogen von Brombeergestrüpp und Brennnesseln. Ich radelte durch diese Idylle, auf der Suche nach dem perfekten Foto. Als ich es fand, bremste ich vorsichtig ab, um kein Geräusch zu viel zu machen, stieg vom Rad, legte dieses neben mich und schraubte ein Objektiv auf die Kamera. Ich hasste diese modernen Dinger, die nur einen Knopf haben und einem keine künstlerische Freiheit mehr lassen, und wenn sie nicht vorher aufgab, würde ich meine alte Nikon wohl mit ins Grab nehmen. Die Chancen standen recht gut, denn bisher erwies sie sich als so zäh wie mein Vater, der mir die Kamera ein paar Jahre zuvor vermacht hatte.
Das Mädchen nahm mich nicht wahr, und ich stellte ruhig, aber zügig meine Kamera ein. Blende, Entfernung, Schärfe. Ihr Mund war von den Beeren dunkel verfärbt, ebenso ihre Hände, die unentwegt die prallen, schwarzen Früchte von den stacheligen Sträuchern pflückten, einen kleinen Vorrat auf einem Handteller anlegten und diesen dann zwischen die Lippen schoben, bevor sie den nächsten Trieb zu sich heranzog und hier weiter erntete.
Ich hatte nur eine Chance, nur ein Foto, denn das Klicken des Abzugs und das Surren, das entstand, wenn man den Hahn spannte, würde sie unweigerlich hören. Ich hielt den Atem an, schaute durch den Sucher, vergewisserte mich ein letztes Mal, alles richtig eingestellt zu haben, und wartete.
Und dann kam er, der richtige Moment. Sie reckte sich weit nach oben, berührte mit den Fingerspitzen eine der dunklen Beeren, und während auf ihrem Gesicht der Ausdruck absoluter Konzentration und Hingabe erschien, der zeigte, dass sie voll und ganz im Hier und Jetzt war, ausschließlich auf diesen Augenblick bedacht, wehte der Wind ihr eine ihrer dunkelblonden Strähnen ins Gesicht.
Ich drückte ab.
Das Klicken war leise, und dennoch fuhr sie herum wie von einem Pistolenschuss erschreckt. Ich sah in ihre entsetzten Augen, sah zwei oder drei Brombeeren fallen und fühlte mich wie ein Eindringling. Ertappt ließ ich die Kamera sinken und lächelte sie entschuldigend an.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken." Sie nickte knapp und kam auf mich zu. Ruhig streckte sie mir ihre flache Hand entgegen, sah mich auffordernd an und fragte: "Magst du? Sind lecker diesen Sommer." Ich nahm eine Beere von ihrer Hand und steckte sie mir andächtig in den Mund. Fast glaubte ich, den Duft ihrer zarten Haut mit aufzunehmen, als der süße Saft der zerplatzenden Frucht meine Zunge benetzte. Ihre Augen hielten mich fest, betrachteten mich neugierig, ließen mich die Luft anhalten, um den Zauber des Momentes nicht zu zerstören.
"Von dem Bild will ich einen Abzug", sagte sie und grinste mich schelmisch an. Meine Mundwinkel wanderten ebenfalls nach oben, ich atmete aus, die Anspannung wich Erleichterung.
"Klar."
Sie nickte und drehte sich um, als wäre damit für sie alles gesagt. Bevor ich noch ein langes Gesicht machen konnte, wandte sie sich mir wieder über die Schulter halb zu.
"Komm, hilf mir beim Pflücken, die sind einfach zu lecker, um hängen zu bleiben!" Ich verstaute meine Kamera in der Tasche und ging zu ihr hinüber. Ich war größer als sie und konnte so die Ranken zu uns herunter ziehen, die für sie unerreichbar waren.
Eine Beere nach der anderen wanderte mal in ihren, mal in meinen Mund. Unsere Hände waren schließlich dunkel gefleckt, unsere Arme zerkratzt, ihre Haare zerzaust. Unsere Gesichter glühten im zurückgekehrten Eifer der leichten Kindheitssommertage um die Wette, die Welt um uns herum geriet in Vergessenheit. Als unser Appetit gestillt war, setzten wir uns neben mein Fahrrad in den Kies. Ihre Lippen waren so tief lila verfärbt, dass sie fast so schwarz wirkten wie ihre Augen, welche einen irritierenden Kontrast zu ihrem Haar bildeten. Ich betrachtete sie von der Seite und hätte gerne ein Foto gemacht oder sie geküsst, aber für beides war ich zu schüchtern. Mit einem leisen Seufzen legte sie sich zurück und sah in den Himmel.
"Schau mal, da ist ein Schwan", sagte sie und wies auf eine Wolke. Ich legte mich ebenfalls auf den Rücken und folgte mit meinem Blick ihrem Finger.
"Kann auch eine Gießkanne sein", erwiderte ich. Sie warf mir einen einzigen, missbilligenden Blick zu. Eine Weile noch fanden wir Hunde, die vielleicht Frösche waren, Enten, die Gorillas ähnelten und einen Ork, der einfach nur ein Ork war. Dann sagte sie leise "Fuchur", und ich sah ihr in die Augen und murmelte "ein Glücksdrache", während ich ihre Hand nahm und sie ganz nah zu mir heranzog.
Weit über uns glaubte ich einen warmen, bronzenen Klang zu vernehmen, als wir vorsichtig begannen, uns gegenseitig den Beerensaft von den Lippen zu küssen.

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September 2003

 

hallo chaosqueen,

die romatische Erotik dieser Geschichte baust du schön über die Sinnlichkeit der Natur, des Verspeisens und des Pflücken vn Brombeeren bis hin zum Kuss auf.
Ds liest sich sehr angenehm und so, das man gern an der Stelle dieser Beiden sein möchte. Einzig das Wort "Primärwald" klingt mir zu nüchtern und wissentschaftlich. Ansonsten ist es eine sehr schöne Geschichte.

Lieben Gruß, sim

 

Hej sim!

Grad gepostet, schon liest Du, ich bin beeindruckt! :)
Ja, der Primärwald ist da reingerutscht, als ich noch nicht wusste, was meine Protagonisten da genau machen wollen... Ich überleg mir was und änder das!
Danke für das Kompliment. :shy:
Lieben Gruß

chaosqueen :cq:

 
Zuletzt bearbeitet:

Majestät! :kuss:

Die Geschichte zieht mich sofort in ihren Bann. Nun, vielleicht liegt es ein wenig daran, dass ich die Gegend kenne, weil wir zusammen da waren oder zumindest an einem Ort, der so ähnlich aussehen könnte. Aber jedem Leser dürften die farbigen Bilder den Zugang zu dieser gefühlvollen, aber nicht kitschigen Geschichte zu einem erfreuten Kinderspiel machen. Es gibt einen Spannungsmoment (beim Auslösen des Fotos), wenn auch keinen Spannungsbogen über die ganze Geschichte, ein stimmiges Ende und einige sprachlich sehr gelungene Stellen (z.B. "so zäh wie mein Vater"). Die mehrfach erwähnten Flecken, die die Brombeeren hinterlassen, deute ich mal mutig als unverwischbare und damit deutliche Zeichen gleichen Geschmacks, die am Ende zur Zusammenkunft führen.

Zwei oder drei Verbesserungsvorschläge habe ich:
- Kohlewerk: Hm, stellen die da Kohle her, wie ein E-Werk Es? :D Als Ruhrpottler schlage ich mal Alternativen vor: Zeche, Kokerei (z.B. Zollverein, Du weißt schon :D), Förderanlage, Schacht.
- Primärwald: Da muss ich glatt erstmal ins Lexikon schauen, ich dachte, das bedeutet was anderes, hm ... aha! Doch! Brockhaus schreibt: "ursprünglicher, vom Menschen nicht oder kaum beeinflusster Wald". Ich schätze, dass dieses Wort hier nicht passt. Vielleicht "Birkenwald"? Die Birken sind nämlich mit am schnellsten, wenn es darum geht, stillgelegte Güterbahnhöfe zu überwuchern.
- "und ging zu ihr herüber." -> hinüber.
- ich weiß nicht genau, wie alt das Mädchen ist, aber der Begriff "Abzug" ist fast schon Fachsprache, die es vielleicht nicht unbedingt benutzt, es würde vielleicht eher sagen: "Das Foto möchte ich auch gerne haben."

Fazit: sprachlich gut, schön erzählte Geschichte.

Uwe
:cool:

 

Hi queen,

schließe mich erstmal uwe an: sprachlich gut, schön erzählte geschichte. man weiß nie genau, worauf du hinaus willst, was als nächstes kommt - dass hält es meiner meinung nach schon spannend.. auch die bilder gefallen mir - nicht zu clean aber doch sehr romantisch...

allerdings habe ich das "mädchen" aufgrund deiner beschreibungen für ein sechs jähriges kind gehalten.. insofern musste ich am schluss neu denken - das passte in meinen augen nicht ganz...

ansonsten sehr schöner spätsommer abend..

liebe grüße, streicher

 

Hej Uwe!

Ich bin doch nicht aus dem Pott, für mich ist das alles eine Kohlefabrik. Hm, ja wird geändert.
Das mit dem Primärwald: So weit ich weiß, ist das auch der Begriff für den Erstbewuchs mit Bäumen, aber da Du schon der zweite bist, der über das Wort fällt, änder ich das auch.
Herüber wird geöändert, der Abzug bleibt - und wenn es an meiner "Vorbelastung" liegt, aber ich wusste schon als Kind, dass das ein Abzug ist! :)

Freut mich, dass sie Dir gefällt, meine Geschichte! Naja, ich wurde ja auch von der Muse geküsst, als ich sie schrieb...

:kuss:

chaosqueen

 

Hej Streicher,

hm, ich hab befürchtet, dass der eine oder andere sich bei dem Mädchen ein Kind vorstellt. Das muss ich wohl noch ein bisschen deutlicher machen...

Auch Dir danke für die positive Resonanz!

Lieben Gruß

chaosqueen

 

Hi Chaosqueen,

eine wirklich schöne Geschichte, die genau den Mittelweg wählt und sich nicht in Kitsch oder aufgesetzter Romantik verliert.

Allerdings kommt mir das Ende zu plötzlich.
Das Wort "Glücksdrache" als Anschub zu nehmen, die Kleine zu küssen, wo der Prot. vorher als eher schüchtern dargestellt wird. Ich weiss nicht...

Ich betrachtete sie von der Seite und hätte gerne ein Foto gemacht oder sie geküsst, aber für beides war ich zu schüchtern.

Da fehlt mir später ein klein wenig der Anschub - die Intention - die den Prot. dazu bringt, das Mädel doch zu küssen.

Vielleicht habe ich auch nur zu wenig Phantasie - mir passieren solche romantischen Begegnungen halt einfach nicht, da ich ein Meister im Zerstören dieser Momente bin :D :D :D

Ansonsten wirklich schön geschrieben, eine schönes Sprachbild - bis auf Primärwald und Zilpzalp (warum nicht Grille?) - und kaum Fehler drin.

War mal interessant zu lesen, vor allem für jemanden wie mich, der ich mir normalerweise - zumindest hier bei kg.de - nur die Horrorstories reinpfeife :p

Weiter so

Henry Bienek :cool:

 

Hi Henry!

Danke für das Kompliment!

Hm, die Intention, sie zu küssen... eigentlich war die ganze Entwicklung von dem Moment an, wo sie so locker mit ihm umgeht, als Abbau seiner Scheu angelegt, aber vielleicht muss ich da auch noch ein oder zwei Sätze einbauen, mal sehen.

Der Zlpzalp bleibt, das ist ein Vogel. Und er ist hier nicht ganz ohne Grund drin... :)

Ich bin im normalen Leben übrigens auch groß darin, solche Momente zu zerstören... :D

Lieben Gruß

chaosqueen

 

Geschrieben von chaosqueen

Ich bin im normalen Leben übrigens auch groß darin, solche Momente zu zerstören... :D


hab ich ja noch gar nicht mitgekriegt :susp:

:D :cool:

 

:kuss: Danke. Warte auf den nächsten Sonnenuntergang... ;) Aber keine Angst, ich kann auch anders!

 

Nix da, meine Brombeeren ess ich ganz alleine! Naja, nicht immer... ;)

Ja, der Satz wurde schon zweimal umgebaut, und ich bin auch noch nicht so ganz zufrieden. Mal sehen...

Liebe Grüße

chaosqueen :cq:

 

Guten Abend, Chaosqueen.
Obschon neu (zumindest in dieser Rubrik) habe ich mich als Leser mehr berührt als erotisiert gefühlt.Warum können nur Frauen Begegnungen dieser Art mit einer Intensität verfassen, dass mir der Atem stockt?
Der<Primärwald> ist meiner unmaßgeblichen Meinung nach ein ziemlich gutes Wort, das technokratisch klingt, aber nicht die schwüle Romantik der Story bricht.
Ich war hin-und hergerissen- erst dachte ich an ein ein Kind...dann an eine junge Frau...und als <Fuchur> kam wieder an ein Kind.
Als ihr euch küsstet, hats mich dann aus den Socken gehauen.

D:B

 

Hej Damon!

Danke für die positive Kritik - der erste, der meinen Primärwald mag! *ggg*

Erotisieren wollte ich mit der Geschichte in der Tat nicht, mir ging es "nur" um Romantik. Eine Geschichte, die berührt, kann nicht völlig unromantisch sein, denke ich. :shy:

Hm, ich bin nicht meine Protagonistin, was schon daran liegen mag, dass der Ich-Erzähler ein Protagonist ist. Aber egal.

Ich glaube, "Die unendliche Geschichte" hat fast jeder mal gelesen, und ich sehe Fuchur ständig in irgendwelchen Wolken, auch wenn ich kein Kind mehr bin. :)

Lieben Gruß

chaosqueen :cq:

 

Auch mir hat die Geschichte gut gefallen. Vielleicht weil ich Brombeeren sehr gerne esse, und den Geschmack beim Lesen im Mund hatte.
Na, jedenfalls hat mir die Szene geschmeckt und beschweren kann ich mich nur über den "Primärwald". Ich kenne zwar den Vogel auch nicht, aber das ist schon ok. Und den "Abzug" würde ich stehen lassen, ich denke schon, dass man heutzutage den Begriff schon früh kennt/benutzt.

Auch ich war mir über das Alter des Mädchens nicht sicher. Aber da ich ja schon einige Deiner Geschichten kenne, habe ich ihr sozusagen im Voraus ein paar Jahre mehr geschenkt, weil es ja oft in Deinen Stories heißer zugeht und ich gar nicht wusste, was noch kommen würde.

Sprachlich echt gut und inhaltlich schön romantisch.

 

Hej Zaza!

Na gut, ich änder den Wald, sobald mir was Schlaues eingefallen ist! :)
Einen Zilpzalp findest Du auf Uwes Homepage, schau mal in sein Profil. Ist ein Vogel, der so heißt, weil er ungefähr "zilpzalp" sagt, wenn er den Schnabel auf macht.

Soso, Du gibst meiner Protagonistin also ein paar Jahre mehr aufgrund Deiner Erfahrung mit meinen Texten... Auch eine interessante Variante. Ich dachte, dass das Posten in diesem Forum dafür schon ausreichen würde.

Danke für das Kompliment, freut mich besonders, weil es von Dir kommt und Du in meinen Augen eine unglaublich gute Sprache schreibst!

Lieben Gruß

chaosqueen

 

Boah! Mit dem Titel fängt bereits die Vereinnahmung an.Wunderschöne Geschichte,nur nicht das Verb "grinsen",das meinem Gefühl nach ein wenig verächtlich,also ganz unpassend in dieser so zarten Geschichte klingt

 

Hej Danilo,

danke für das Kompliment! :)
Hm, das Wort "grinsen" hat für mich nichts Derbes oder Abwertendes an sich, sondern nur etwas leicht Schelmisches.
Lieben Gruß

chaosqueen :queen:

 

Hi Susanne!

Also erstmal möchte ich folgenden Anmerkungen loswerden:

"magst du? Sind lecker diesen Sommer."
ein großes M
geriet in Vergessenheit. Als unser Appetit gestillt war,
bei diesem neuen Satz fänd ich einen Absatz schöner, weil auch inhaltlich ein Absatz drin ist.
Ihre Lippen waren so tief lila verfärbt, dass sie so schwarz wirkten wie ihre Augen, die einen irritierenden Kontrast zu ihrem Haar bildeten.
Hier finde ich das fast eine Spur zu kompliziert verknüpft. Aber am besten ist es wohl, das hier trotzdem nicht zu ändern. Es ist noch diesseits der Grenze.
Ich muß mich auch bei ein paar Anmerkungen meinen Vorkritikern anschließen: Primärwald, das Alter des Kindes und die ulkige Vorstellung einer Kohlefabrik ;)

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So, und jetzt halte ich ganz andächtig meine Klappe! Das ist eine ganz wirklich tolle und sehr romantische Geschichte! Hat mir wirklich gut gefallen und ich bin gerührt! Toll gemacht!

Frauke

 

Hej Frauke!

Den Tippfehler korrigier ich gleich mal, danke. Das mit dem Absatz schau ich mir an, die Augen bleiben erstmal.

Warum glaubt ihr alle, dass es sich bei dem Mädchen um ein Kind handelt??? Darf man eine beispielsweise Siebzehnjährige nicht mehr als Mädchen bezeichnen? :confused:
Wenn ich von Freundinnen von mir spreche, sage ich auch "Mädchen" und nicht "Frauen", auch, wenn sie vielleicht schon Mitte Zwanzig sind. Macht ihr das nicht? *grübel*

Freut mich, dass sie Dir trotzdem gefallen hat - und ich geh jetzt mal korrigieren! :)
Lieben Gruß

chaosqueen

 

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