Mitglied
- Beitritt
- 19.08.2001
- Beiträge
- 249
Brot und Milch
Melvin – Montag, 6. Juni 2005 – 15.13 Uhr
Erde / Europa / Österreich / Wien / 3.Bezirk / Supermarkt
„Gestatten Sie?“
Melvin drehte sich langsam um. Hinter ihm stand eine alte Dame die ihren Einkaufswagen bis zum Rand gefüllt hatte. Unglaublich, dass sie imstande war, das Ding zu schieben!
„Ja?“
Seit mehreren Minuten stand Melvin nun an der Kasse eines Supermarktes und wartete darauf, seine erstandenen Lebensmittel, ein Laib Brot und eine Flasche Milch, zu bezahlen. Wie sich herausgestellt hatte, handelte es sich bei der Kassa-Dame um eine Hilfskraft, die sich nicht darauf verließ, dass die Computerkassa das richtige Restgeld berechnete, sondern jeden Kassiervorgang mit einem Taschenrechner kontrollierte. Das hatte zur Folge, dass sich innerhalb einer halben Stunde eine Riesenschlange gebildet hatte.
„Ich habe mich gefragt“, begann die alte Dame, „ob Sie mich wohl vorlassen würden. Ich kann kaum noch stehen, meine Beine machen mir Probleme.“
Melvin warf einen unglücklichen Blick in ihren Einkaufswagen, ehe er seufzend zur Seite trat und ihr mit einer ausholenden Geste zu verstehen gab, dass sie ihn überholen durfte. Während er auf der Seite stand und die alte Frau dabei beobachtete, wie sie im Schneckentempo aufrückte, begann sich auch die Schlange dahinter zu regen. Die Menge, die es leid war, so lange zu warten preschte vor und im Nu war Melvin’s Platz von einer gepiercten, tätowierten Schwarzhaarigen okkupiert, die ihn nicht beachtete.
Nachdem Melvin mehrere Versuche startete, seinen Platz hinter der alten Frau einzunehmen, die Schwarzhaarige sich jedoch standhaft weigerte Platz zu machen, versuchte es Melvin auf die zaghafte Art.
„Verzeihung, dürfte ich mich da reinquetschen?“
Das durfte doch nicht wahr sein! Sie sah ihn nicht mal an! Melvin beugte sich ein wenig vor um sicherzugehen, dass sie ihn auch wahrnahm.
„Hallo?“
Da! Eine Regung! Ja, sie sah ihn an, zweifelsohne!
„Was?“
Melvin zuckte kurz ob ihrer Unfreundlichkeit zusammen, versuchte aber dennoch freundlich zu bleiben.
„Ich habe diese alte Dame da vorgelassen“. Er deutete auf den Platz vor ihm, musste aber feststellen, dass sich die alte Dame bereits um weitere drei Plätze vorgekämpft hatte.
„Und?“
„Naja, ich wollte nur meinen Platz wieder einnehmen, aber da sind alle von hinten vorgestürmt. Und..“
„Was wollen Sie?“
Melvin konnte kaum fassen, dass jemand so unfreundlich sein konnte. Er beschloss, sich einfach dazwischenzudrängen, sobald sich die Schlange weiterbewegte und drehte sich um, ohne ein weiteres Wort von sich zu geben.
„Sagen Sie mal, wollen Sie sich etwa vordrängen?“
Melvin drehte sich um. „Wie bitte?“
Die Schwarzhaarige funkelte ihn böse an. „Ich hab’ Sie gefragt, ob Sie sich etwa vordrängen wollen! Stellen Sie sich gefälligst an, wie alle anderen. Wir müssen alle warten!“
Melvin sah sie sprachlos an. Sie musste doch zweifelsohne mitbekommen haben, dass er die alte Schachtel vorgelassen hatte. Was sollte also dieser Blödsinn?
„Entschuldigung, aber ich stehe schon die ganze Zeit über hier.“
„Ich hab’ Sie nich’ gesehen. Wie wär’s wenn sie sich hinten anstellen? Einfach so vordrängen ist ja wohl echt eine Frechheit!“
Während Melvin’s Kiefer herunterklappte, ertönten aus den hinteren Bereichen weitere empörte Zurufe, die verlangten, er solle sich verdammt noch mal auch hinten anstellen so wie alle anderen.
„Jetzt hören Sie mal..“ protestierte Melvin der Menge zu. Er hätte schwören können, irgendwo hinten ein „Arschloch“ vernommen zu haben und versuchte das Schandmaul, indem er sich auf die Zehenspitzen stellte, ausfindig zu machen. In diesem Moment ruckelte die Schlange weiter und die Schwarzhaarige rumpelte schnell mit ihrem Einkaufswagen, der lediglich eine Salatgurke und zwei Dosen Bier enthielt, weiter, wobei sie Melvin unsanft zur Seite stieß.
„Also hören Sie mal!“ wiederholte Melvin mit erhobener Stimme. „Sie können doch nicht einfach..“
„Was hast du zu mir gesagt?“ Die Stimme kam von hinten. Melvin drehte sich um und stand einem stiernackigen Bauarbeiter in Arbeitskleidung gegenüber, der nach einem langen, harten Arbeitstag auf einer Baustelle roch.
Melvin war außer sich vor Wut. Nicht nur, dass ihn diese Schlampe immer noch ignorierte, jetzt war auch noch dieser Typ hier aufgetaucht.
„Was meinen Sie?“ Melvin sah ihn verwirrt an.
Der Bauarbeiter stemmte seine Pranken in seine Hüften und sah ihn böse an. „Hast du grad gesagt, ich kann dich mal? Du hast doch gerade gesagt „Du kannst mich mal!“, oder? Hast du doch gesagt, oder irre ich mich da?“
„Was?!“ Melvin starrte den Bauarbeiter an, als hätte er drei Nasenlöcher. „Das habe ich überhaupt nicht gesagt! Ich sagte zu der Dame..“
„Ach, dann hast du zu der netten Dame da gesagt, sie kann dich mal, oder wie?“
Melvin öffnete den Mund zu einer verzweifelten Antwort, schloss ihn aber gleich wieder. Das hatte hier alles keinen Sinn. Was auch immer er sagen würde, es würde nichts nützen. Er drehte sich einfach um und beschloss weiter zu warten. Er war auf gar keinen Fall gewillt, sich auf eine Auseinandersetzung mit diesem Neandertaler einzulassen.
„Ja, das glaub’ ich auch. Ist besser, wenn du Ruhe gibst!“, unkte der Bauarbeiter gehässig weiter und schien sich nicht mit Melvin’s Kapitulation zufrieden geben zu wollen. „Wär’ ja noch schöner, wenn man sich hier einfach vordrängt und dann auch noch wüst Leute beschimpft. Also wirklich. Vor 20 Jahren hätte ich dir noch ein paar auf die Nase gegeben.“
Also, das war doch wirklich die Höhe! Melvin drehte sich um. In diesem Moment wurden plötzlich alle Anwesenden panisch. Eine zweite Kassa wurde eröffnet! Ehe Melvin etwas sagen konnte, rauschten Dutzende Einkaufswagen an ihm vorbei um zur zweiten Kassa zu gelangen. Durch den Tumult ließ er seinen Laib Brot fallen und kassierte mehrere Rempler, die ihn unsanft gegen ein Regal, das mit Sonnenblumenöldosen gefüllt war, stießen. Als er sein Brot wieder aufgehoben hatte, beruhigte sich alles und die letzten Wartenden verteilten sich auf eine der beiden Kassen.
Nachdem Melvin kurz durchatmete stellte er fest, dass er am Ende beider Schlangen stand. Egal, wo er sich anstellen würde, er würde warten müssen. Zähneknirschend stellte er sich hinter einer weiteren alten Frau an, die sich ein paar Mal nach ihm umdrehte und ihn kopfschüttelnd musterte.
Nach einer Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hatte es Melvin schließlich geschafft. Der neue Kassier, der die zweite Kassa eröffnet hatte, zog das Brot und die Milch über den Scanner, begleitet von zwei mechanischen Biep’s und hielt ihm schließlich die Hand hin.
„Drei Euro dreißig, bitte.“
Melvin kramte in seiner Hosentasche und zahlte mit Kleingeld. Als er das Restgeld entgegennahm, konnte er sich eine Meldung nicht verkneifen.
„Sie sollten die Dame an der anderen Kassa da mal ordentlich einschulen. So lange hab’ ich hier noch nie warten müssen.“
Der Kassier sah ihn jedoch gar nicht mehr an, sondern war bereits damit beschäftigt, die Artikel des nächsten Kunden über den Scanner ziehen. Biep, Biep!
Melvin schnappte sein Zeug und verließ grummelnd den Supermarkt. So bald würden die ihn hier nicht mehr sehen. Vor dem Supermarkt bemerkte er noch den Bauarbeiter, der sich mit einigen seiner Bauarbeiterkollegen gerade ein Bier hinter die Binde goss. Melvin senkte den Blick, als er ihn entdeckte und machte, dass er nach Hause kam.
„Und all das wegen Brot und Milch.“, dachte Melvin kopfschüttelnd. Damit war der Tag für ihn gelaufen.
Melvin – Montag, 6. Juni 2005 – 15.13 Uhr
Erde II / Europa / Österreich / Wien / 3.Bezirk / Supermarkt
„Gestatten Sie?“
Melvin drehte sich langsam um. Hinter ihm stand eine alte Dame die ihren Einkaufswagen bis zum Rand gefüllt hatte. Unglaublich, dass sie imstande war, das Ding zu schieben!
„Ja?“
Seit mehreren Minuten stand Melvin nun an der Kasse eines Supermarktes und wartete darauf, seine erstandenen Lebensmittel, ein Laib Brot und eine Flasche Milch, zu bezahlen. Wie sich herausgestellt hatte, handelte es sich bei der Kassa-Dame um eine Hilfskraft, die sich nicht darauf verließ, dass die Computerkassa das richtige Restgeld berechnete, sondern jeden Kassiervorgang mit einem Taschenrechner kontrollierte. Das hatte zur Folge, dass sich innerhalb einer halben Stunde eine Riesenschlange gebildet hatte.
„Ich habe mich gefragt“, begann die alte Dame, „ob Sie mich wohl vorlassen würden. Ich kann kaum noch stehen, meine Beine machen mir Probleme.“
Melvin warf einen Blick in ihren Einkaufswagen. Die alte Schachtel hatte wohl vor, für eine ganze Kompanie zu kochen.
„Nein. Warten Sie gefälligst, bis Sie an der Reihe sind!“ Er drehte sich um und spürte den stechenden Blick der alten Frau in seinem Rücken. Die Frau vor ihm, die seinen Spruch offensichtlich mitbekommen hatte, drehte sich um und warf ihm einen fassungslosen Blick zu. Schließlich ging sie zur alten Frau hinter Melvin, flüsterte ihr etwas zu, nahm ihren Einkaufswagen und stellte ihn vor ihren eigenen.
Melvin beobachtete das Ganze gelassen, ehe er sich zu einer Reaktion bequemte.
„Und was soll das bitte?“
Die Frau vor ihm drehte sich um. „Ich habe die Dame vorgelassen. Wenn Sie schon nicht soviel Manieren haben, es zu tun, dann mache es halt ich!“
„Und was soll das bitte ändern? Wenn Sie sie vorlassen, ist sie immer noch vor mir und genau das habe ich der alten Schachtel eigentlich zu verstehen gegeben. Wenn Sie ihren kranken Hintern nicht bewegen kann, dann soll sie im Pensionistenheim bleiben!“
Die Menge begann zu raunen. Melvin drehte sich um und bemerkte eine gepiercte, tätowierte Schwarzhaarige hinter ihm, die ihn grinsend ansah. Melvin zwinkerte ihr zu und erwiderte ihr Grinsen.
„Ihnen hat wohl keiner Manieren beigebracht, was?“ ertönte es plötzlich hinter der Schwarzhaarigen. Ein verschwitzter, stiernackiger Bauarbeiter trat zur Seite und näherte sich Melvin.
„Opa, bleib in der Schlange, bevor Du Dich verletzt.“, gab Melvin gelangweilt von sich.
„Opa? Na, dir wird’ ich Opa geben!“
Der Bauarbeiter machte einen hastigen Schritt auf Melvin zu. Dieser ließ den Laib Brot aus der rechten Hand fallen und packte den Wichtigtuer am Hals, wobei sich seine Finger wie ein Schraubstock in den dicken Fleischwulst gruben. Der Bauarbeiter begann zu röcheln und krallte sich an Melvin’s Hand fest.
Um ihn herum begannen einige Frauen zu kreischen und schrien Melvin an, er solle den armen Mann gefälligst in Ruhe lassen. Schließlich ließ ihn Melvin los, packte ihn an der Stirn und schubste ihn von sich, wobei er in ein Regal mit Sonnenblumenöl polterte und schwitzend und mit gerötetem Gesicht davor liegen blieb.
„Eine Frechheit!“ - „Unerhört so was!“ – Die Menge war entsetzt. Jedoch nur solange, bis eine zweite Kassa eröffnet wurde. Plötzlich stürmte alles zur zweiten Kassa hin, wobei kaum jemand dem Bauarbeiter Beachtung schenkte.
Melvin schnappte sich sein Brot und rückte in seiner Schlange auf. Langsam, aber sicher, schien doch was weiterzugehen.
„Na, dem hast Du’s aber gegeben.“
Melvin drehte sich um. Es war die Schwarzhaarige, die ihn immer noch angrinste und mit dem Daumen nach hinten zeigte, wo sich einige Kunden um den Bauarbeiter geschart hatten, der immer noch Probleme mit dem Atmen hatte. Zwei Supermarktangestellte waren dazugeeilt und einige Leute deuteten mit dem Finger auf Melvin.
Die Schwarzhaarige drehte sich kurz um. „Ich würd’ an Deiner Stelle abhauen. Die holen sicher die Polizei.“
Melvin zuckte mit den Achseln. „Na und wenn schon. Wär’ nicht das erste Mal.“
Das schien ihr zu gefallen. Sie rückte ein wenig näher und sah ihm tief in die Augen.
„Ich bin Melanie.“, gurrte sie.
„Hi, Melanie.“, sagte Melvin in seiner besten Verführerstimme, „Ich bin Melvin.“
Sie quietschte vergnügt. „Melvin und Melanie! Mel und Mel! Ist das nicht ein Zufall?“
„Du sagst es.“
Während die Schlangen langsam dahin krochen, unterhielten sich die Beiden. Melvin holte sich Melanie’s Telefonnummer und schaffte es, den Supermarkt zu verlassen, ohne dass irgendwelche Polizisten auftauchten.
Pfeifend steckte er den Zettel mit der Telefonnummer in seine Hosentasche und schlenderte die Straße entlang.
Schon seltsam, was alles passieren konnte, wenn man Brot und Milch einkaufen ging.