Bruder und Schwester
Ein zarter, kaum spürbarer Windhauch strich über die Wipfel der Bäume und entlockte ihnen ein leises Flüstern. Er verfing sich kurz in ihren grünen Blätter, als wolle er sich mit ihnen unterhalten und stieg dann herab, um die Spitzen der Gräser und Blumen zu umgarnen. Er legte sich um sie und erzählte von seiner Einsamkeit, doch sein Flüstern blieb unerhört und so zog der Windhauch weiter und alles was er mit sich nahm, waren weiße Samen, die nur auf ihn gewartet hatten. Die Luft war geschwängert von kleinen, weißen Wolken und sie verzauberten den späten Sommertag in ein fast winterliches Szenario. Ein zweiter Windhauch kam über die Bäume und peitschte die im goldenen Abendlicht schimmernden Samen noch einmal auf. Sie wirbelten umher, drehten Pirouetten und beruhigten sich nur langsam wieder. Er schob sich von hinten an den ersten heran und beide vereinten sich zu einer kühlen Briese, die nun die Wälder und Weiden hinter sich ließ und über die staubige Straße wehte, die sich durch das grüne Land schlängelte. Der Wind nahm die feinen Steine mit sich und vereinte sie mit den weißen Wolken, die nun langsam auseinander rissen, bis die Luft grau glitzerte. Ein leises, kratzendes Geräusch entstand, als der Wind die Wände des großen Farmhauses umfasste und daran vorbeiglitt. Dabei ließ er den Staub zurück, der sich in die Ritzen und Spalten der groben Bretter setzte. Einiges von dem, was sich nicht halten konnte, rieselte zu Boden und bildete am Fuße des Fundaments einen kleinen Ringwall, der sich an diesem Gebäude, genauso wie an dem Schuppen auf der Ostseite in die Landschaft malte. Der Staub setzte sich überall fest, auch in dem Getriebe des alten Traktors, der neben dem Schuppen stand und mit seiner weit geöffneten Fronthaube mehr einem groteskem Bagger glich, als einem landwirtschaftlichen Gerät. Zwei Männer standen um ihn herum und blickten fragend in den Motorraum, als der Windhauch sich auch um sie legte. Der Jüngere von beiden hustete laut auf und spuckte dann theatralisch aus. „Sag mal Dad. Wie lang werden die wohl noch brauchen, um unsere Straße zu asphaltieren?“ Stephen nahm seinen Blick von dem Traktor und richtete ihn auf seinen Sohn.
„So wie es aussieht wohl noch sehr lange. Die Hauptstraße unten in der Stadt hat schon wieder Löcher. Und so lang es die noch gibt, wird an uns hier nicht mal ein Gedanke verschwendet.“
Zwischen Markus Zähnen knirschte der Staub. „Wir sollten das endlich mal selber machen.“
Aber er bekam darauf keine Antwort, denn die Augen seines Vater leuchteten mit einem Mal auf, als hätte er den Sinn des Lebens selbst entschlüsselt.
„Gib mir mal den Keil da hinten.“ Dabei zeigte er auf ein zugespitztes Stück Holz, welches unter dem linken Torflügel des Schuppens steckte. Markus zog ihn heraus und das Tor, auf dem sich an einigen Stellen kleine Moosteppiche gebildet hatten, fiel quietschend zu. Stephen nahm ihn entgegen und wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Traktor zu. Stephen verschwand fast bis zur Hälfte seines Körper in dem dunklen Motorraum. Markus hatte den Eindruck, er würde darin verschwinden, doch er tauchte wieder auf; ohne den Keil.
„Was hast du gemacht?“
„Manchmal muss man einfach mal improvisieren. Wir mussten die untere Abdeckung zum halten kriegen und jetzt hält sie.“ Ein breites, wissendes Grinsen lag auf seinem Gesicht. Ein Ausdruck, den Markus liebte. Er liebte diesen fast kindlichen Stolz; vereinte sich doch in ihm das ganze Wesen seines Vaters. All das was ihn ausmachte und all das was er für Markus darstellte.
Stephen klopfte seinem Sohn auf die Schulter und ging in Richtung Haupthaus. Eine Geste, die ein wohlig, warmes Gefühl in seinem Bauch auslöste. Und als er spürte, wie er errötete, drehte er sich verlegen weg und sah sich das Werk seines Vaters an. Anstatt den ganzen vorderen Teil des Motors auseinander zunehmen, hatte er einfach den Keil zwischen den Rahmen und die Abdeckung geschoben und sie so zum halten gebracht. Sicherlich war es nicht die eleganteste Lösung, aber es hatte Zeit und wahrscheinlich auch Geld gespart. Geld, das die Familie auch gar nicht gehabt hätte und als ihm das wieder bewusst wurde empfand er Scham und Stolz zugleich. Scham, dass er die Frage nach dem Weg gestellt hatte und Stolz, weil seine Familie immer das Beste aus allem machte.
Eine Stimme riss Markus aus seinen Gedanken.
„Jungs! Essen ist fertig.“ In den Augenwinkeln sah er seine Mutter auf der Veranda stehen. Ihr blauer Rock wehte im Wind und ihr Kopf nickte leicht, als antworte sie auf eine stille Frage. Also löste Markus den Riegel der Traktorhaube und ließ sie zuschnappen, wobei er sich die dreckigen Hände an seiner Hose abwischte. Er lief seinem Vater hinterher, den staubigen Weg entlang, die massiven Eichenstufen der Veranda hinauf und schließlich ins Haus, wo ihm ein herzhafter Duft von gebratenem Fleisch in die Nase stieg. Gierig sog er die Luft ein und versuchte die Gerüche im Geiste zu entwirren. Vor seinem inneren Auge entstand ein Bild von einem braunen Braten, grünen Bohnen und gestampften Kartoffeln. Dazu vielleicht noch ein Glas frisch gepresster Limonade.
Im Haus war es schon fast dunkel und das fahle Licht vermittelte ihm ein Gefühl der Heimkehr. Den ganzen Tag war er draußen auf dem Feld gewesen, hatte Unkraut gejätet, Gras geschnitten und schließlich mit seinem Vater den Traktor repariert. Er fühlte die Müdigkeit genauso wie den Hunger und nun, da er die Arbeit hinter sich gelassen hatte, entspannten sich seine Muskeln allmählich und die Anstrengung des Tages fiel von ihm ab. Die Wände des Flures zierten zahlreiche Schwarzweißbilder, wobei er die meisten Motive nicht kannte. Sie waren die Leidenschaft seiner Mutter. Und da sie sich keinen eigenen Fotoapparat leisten konnte, sammelte sie alle Bilder, die sie auftreiben konnte. Das einzige Kriterium, welches es bei der Auswahl gab, war das des Motivs. Oder vielmehr, wie es aufgenommen wurde. Jane liebte Bilder und so verbrachte sie teilweise mehrere Stunden damit sich eins dieser Schnappschüsse anzuschauen und sich zu überlegen, was wohl an diesem Tag geschehen sein mochte, dass es sich gelohnt hatte, ihn in einem Foto festzuhalten. Markus hatte nie verstanden, warum seine Mutter das tat. Manchmal beschlich ihn aber der Verdacht, dass sie etwas suchte; etwas vermisste. Vielleicht stellte sie sich manchmal vor, wie es wäre ein anderes Leben zu führen. Eines der Bilder zeigte eine junge Frau, die in einer Seitenstraße stand und Blumen verkaufte. Ihr Haar war glatt gekämmt und fiel ihr fließend über die Schultern. Sie trug ein Lächeln zur Schau und die drei Männer, die um sie herumstanden schienen jeder ihrer Bewegungen zu folgen. Wollte seine Mutter vielleicht wieder so ein junges Mädchen sein? Ein Leben in der Stadt führen? Fernab von der täglichen Arbeit auf der Farm?
Markus vertrieb diese Gedanken wieder. Konnte und wollte er sich doch nicht vorstellen, dass seine Mutter mit dem Leben, das sie hier führte nicht zufrieden sei.
Die erste Tür auf der rechten Seite führte direkt zur Küche und kein anderer Weg wäre für Markus in Frage gekommen, da die Gerüche, die von dort kamen wie ein unsichtbares Seil wirkten, das ihn unaufhaltsam dort hinein zog. Seine Mutter stellte gerade die ersten Teller auf den großen Holztisch und sein Vater wusch sich im Hintergrund die Hände. Markus wollte helfen und holte schon die anderen Teller von der Anrichte, wobei er einen kurzen Blick in den Topf riskierte, der noch auf dem Herd stand. Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber es sah nach gestampften Kartoffeln aus und als er das sah, knurrte sein Magen laut auf. So laut, dass sich seine Mutter nach ihm umdrehte und ihn mit einem strengen Blick musterte.
„Ich glaub dir geht es wohl nicht gut!“ raunte sie ihn an. „Sieht mein Flur jetzt genauso aus wie du?“ Ihre Stimme klang fest. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Da kannst du so betroffen gucken wie du willst“, erwiderte sie auf den schuldigen Blick, den Markus ihr zuwarf.
Stephen trat von hinten heran und folgte mit seinem Blick der Spur aus Dreck, die sein Sohn hinterlassen hatte. Er schmunzelte. „Na. Wir wollen doch mal das Beste dabei sehen. Markus geht sich jetzt waschen und nach dem Essen nimmt er sich den ganzen Flur vor. Und zwar gründlich.“
„Ja, ja. Ist schon gut.“ Mit diesen Worten verschwand Markus wieder und folgte den Bilderreihen, den Flur entlang, zum Badezimmer.
„Deine Schwester ist noch drin,“ rief Jane ihm hinterher, ohne gehört zu werden.
Um die Türklinke nicht mit seinen schmutzigen Fingern zu umfassen, verdrehte er sich so umständlich, dass er mit dem Rücken zuerst in den Raum kam und seine Schwester nicht sah. Mit einem leichten Fußtritt schloss sich die Tür wieder und erst da bemerkte er Val. Markus erschrak. Nicht weil der Anblick so unerwartet war, sondern weil seine Schwester nackt war. Er drehte sich verschämt weg und reagierte gleichzeitig so unkontrolliert, dass er sich das Knie am Türrahmen stieß. Sein ganzer Körper schien aus einem einzigen Klopfen zu bestehen; spürte er sein Herz doch nicht nur in seiner Brust, sondern auch im schmerzenden Knie und in seinem Kopf, der hochrot anlief und sich anfühlte, als brenne darauf ein Feuer. Val lachte nur, aber was sollte sie auch tun, wusste sie doch nichts von dem, was sich in Markus Kopf wirklich abspielte.
„Nun stell dich mal nicht so an. Ich glaube, wir haben uns schon ein- oder zweimal nackt gesehen. Also bleib ruhig hier und wasch dir die Hände.“
Markus holte tief Luft und überlegte, wie er sich verhalten sollte. Würde er nun weglaufen, dann wüsste seine Schwester, dass etwas nicht in Ordnung wäre. Er musste sich ganz normal verhalten und er musste endlich seine Gedanken und seine Paranoia in den Griff bekommen. „Hast ja recht. Und so schön, dass du mich blendest bist du ja auch nicht.“ Mit einem Auge blinzelte er ihr zu und sagte sich selbst, dass er genau richtig reagiert hatte. Er drehte sich zum Waschbecken und begann sich nervös die Hände zu säubern.
„Ha ha. Macht es dir wieder Spaß mich zu ärgern?“ gab sie ihm zur Antwort, wobei ihre Stimme eher amüsiert klang.
Val stieg geschmeidig aus der Wanne und achtete darauf, dass sie so wenig wie möglich von dem schaumigen Wasser auf dem Boden verteilte.
Markus vergaß zu atmen, als er das Plätschern des Wassers und das schmatzende Geräusch ihrer Füße hörte, die sich über den steinernen Boden auf ihn zu bewegten. Er versuchte sich zu konzentrieren und sein Empfinden wie eine Maschine abzustellen. Er stellte sich den alten Traktor vor und drehte im Geiste einfach den Zündschlüssel.
Erst vor ein paar Wochen hatte er sie noch nackt gesehen, wie sie ein paar kleinere Flecken aus einem Kleid wusch und dieses Bild hatte ihn die ganze Nacht hindurch verfolgt. Schon vorher war ihm immer wieder aufgefallen, dass er oft an seine Schwester dachte. Dabei war es nicht nur ihr Körper, der ihn reizte, sondern es war ihre Art zu sprechen. Ihre Art zu gehen und die Art, wie sie nachdachte. Ihre Stirn legte sich dabei in Falten und ihre Augen wurden ganz groß, so dass ihr strahlendes Grün alles beherrschte. Nie hatte er viel darum gegeben, waren sie doch Bruder und Schwester, die sich liebten, aber schon bald hatte sich ein Gefühl unter diese Gedanken gemischt. Ein warmes Gefühl, das die Gedanken an den Menschen Val begleitete und ein brennendes Gefühl, das die Gedanken an ihren Körper begleitete. Seitdem versuchte er sich von ihr fern zu halten und diese Gedanken zu vertreiben, aber er konnte es nicht. Val war in seinem Kopf und er versuchte seine Gefühle zu sortieren. Er versuchte die Liebe zu seiner Schwester auch als solche zu sehen, doch dabei stieß er auf etwas, das er nicht beschreiben konnte. Und als dieses Etwas nun wieder die Kontrolle seiner Denkweise übernahm, gab es keinen Schlüssel mehr, den man einfach hätte umdrehen können.
Sie stand mittlerweile hinter ihm. „Hey mein Lieber. Willst du das Wasser noch lange laufen lassen. Siehst du da vielleicht irgendetwas drin?“ Sie schob ihren Kopf vorwitzig über seine Schulter und blickte angestrengt in das fließende Wasser. „Nee, da ist nichts. Also stell es ab.“
Markus drehte den Hahn ab, aber das Geräusch verschwand nicht, sondern wurde nur etwas leiser und änderte seinen Klang. Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen und die Tropfen, die gegen das längliche Badezimmerfenster fielen wurden zu kleinen Bächen, die einen flüssigen Vorhang bildeten. Das Licht brach sich darin und verwandelte die Wände in ein Meer aus Licht. Wie Wellen lief es darüber und das Badezimmer formte sich zu einem der Realität entrücktem Bild. Markus hatte das Gefühl, dass er tief in einem Meer versank. Ein Meer, dass ihn für immer bei sich behalten würde.
Es nagte an ihm. Dieses Gefühl der Liebe und der damit verbundene Schmerz, dass es eine Liebe war, die dem Untergang geweiht war. Konnte er sie möglich machen? Er wusste nur, dass es ihn langsam auffraß und bald würde er daran zugrunde gehen.
Er musste es tun. Musste! Markus fasste all seinen Mut zusammen. Er wollte nur eine Frage an sie richten; eine versteckte Frage, denn für mehr reichte der Mut nicht, aber als die Worte seinen Mund verließen, waren sie viel mehr.
„Val? Fühlst du eigentlich etwas, wenn du an mich denkst?“ Oh Gott, hallte es in seinem Kopf, der einer riesigen, leeren Höhle glich.
„Was soll ich schon fühlen?“ Sie wirkte ein wenig konsterniert.
Er machte weiter, kamen die Fragen doch nun wie von selbst und absolut natürlich. Als hätte er sie schon tausendmal gestellt.
„Ich mein, ob es da ein Gefühl gibt, das du eigentlich nicht haben solltest?“
Val blieb immer noch hinter ihm stehen, antwortete aber nicht. Markus drehte sich nun zu ihr um und blickte ihr tief in die grünen Augen. „Ich will, dass du jetzt nicht erschrickst. Ich glaube, dass ich etwas für dich empfinde. Etwas, das über die Geschwisterliebe hinausgeht.“
Jetzt trat sie einen Schritt zurück, wobei ihre Augen hilfesuchend hin und her glitten.
„Ich weiß nicht was du meinst?“ Ihre Stimme zitterte leicht und Markus untersuchte jeden Ton darin. Es war eine Angst, die sie zum Zittern brachte, aber keine Angst vor seinem Geständnis.
„Ich glaub schon. Bitte sag es mir.“ Beide blickten sich nur an und beide wussten, dass jetzt alles gesagt war, hatten ihre Körper doch mehr verraten, als ihre Worte.
„Nein“, schrie sie. „Das geht nicht. Wir sind Bruder und Schwester.“
Markus ging ihr einen Schritt entgegen. „Das sind wir nicht. Nicht leiblich.“
„Es geht nicht, Markus. Bitte! Für alle anderen sind wir das. Bitte lass mich in Ruhe!“
Er wollte ihr diesen Gefallen tun, wollte er sich doch selbst am liebsten in eine dunkle Ecke verkriechen, aber er konnte es nicht.
„Das kann ich nicht. Ich muss wissen, ob es eine Chance gibt.“
Der Regen nahm zu und verschluckte das Licht. Das Meer verschwand.
Val schlang ihre Arme ohne ein weiteres Wort um ihn und drückte sich ganz fest an seinen Körper. Es kam ihm vor, als hätte sie sich ebenso danach gesehnt wie er selbst, aber es kam ihm auch so vor, wie ein Abschied. Sein Herz raste und als er noch darüber nachdachte, was es nun sein könnte, Abschied oder Willkommen, da löste sich Val von ihm und küsste ihn auf den Mund. Es war kein freundschaftlicher Kuss. Es war ein Kuss, der mehr aussagte, als alles was gesagt, oder geschrieben werden konnte.
Die Tür sprang plötzlich auf. „Was schreit ihr hier...“. Die Worte verklangen ohne ein Ende und alles was blieb, war dieser fragende und erschrockene Blick der Mutter, bevor sie umkehrte und das Bad genauso schnell verlies, wie sie es betreten hatte.
Val stieß Markus von sich, der mit dem Rücken hart gegen das Waschbecken stieß. Er schrie kurz auf und blickte seine Schwester an, die nun ruhelos von einem Bein auf das andere trat und die Augen weit aufgerissen hatte. Sie denkt nach, dachte Markus noch, als aus der Küche ein merkwürdiges Geschrei zu ihnen drang. Dann wurde es wieder abrupt still und alles was er noch hörte waren der Regen und das leise Wimmern seiner Schwester.
Beide liefen in die Küche und was Markus dort sah, konnte er in seinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Sein Vater saß auf einem Stuhl und sein Rücken war weit nach vorne gebeugt. In seinen Augen lag eine große Enttäuschung. Es war ein Bild, das Markus weh tat. Niemals hätte er seinen Vater enttäuschen wollen. Das war für ihn immer das Schlimmste gewesen. Sein ganzes Leben hatte er sich stets bemüht in den Augen seines Vaters als ausreichend zu gelten. Und nun war er nicht einmal mehr das.
Er drehte sich zu seiner Mutter und in ihren Augen las er etwas ganz anderes. Es war Zorn und er konnte ihn ihr nicht übel nehmen. Markus wusste nicht, was er sagen sollte und seine Schwester starrte einfach nur vor sich hin. Es lag an ihm, aber jedes Mal, wenn er begann etwas zu sagen, stotterte er nur hilflos wie ein weinendes Kind vor sich hin. Dann brach das Bild. Seine Mutter holte weit aus und schlug Markus mit der flachen Hand ins Gesicht. Es bleib nicht bei diesem einen Schlag. Immer wieder ohrfeigte sie ihren Sohn, wobei die Tränen wie reißende Flüsse aus ihren Augen liefen. Sie waren Zeichen ihrer Hilflosigkeit und Enttäuschung. „Ihr seid Bruder und Schwester“, schrie sie gellend und mit jedem weiteren Schlag wuchs auch in Markus der Zorn, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte.
Er fing ihre Hand ab und schleuderte sie wie einen Stein von sich fort. „Das sind wir nicht. Ihr seid nicht meine Eltern und ich nicht ihr Bruder!“
Die Mutter stolperte zurück und die Enttäuschung seines Vater wich einer Leere. „Wir sind nicht deine Eltern?“ flüsterte er. Val blickte auf und starrte ängstlich ihren Vater an. So hatte sie ihn noch nie gesehen. „Daddy, ich kann nichts dafür. Bitte. Er hat mich einfach angefasst.“
„Val?“ Markus Stimme klang wie die eines Erstickenden.
„Dann gehörst du also nicht zur Familie. Verschwinde! Verschwinde einfach!“
Stephen drehte sich um und blieb dann regungslos sitzen, während seine Frau auf dem Boden zusammensackte und immer noch weinte. Val blickte Markus an und er wusste nicht, was sie ihm sagen wollte. Dann lief sie einfach aus dem Zimmer und die Situation glich einem Bild aus einem billigen Groschenroman. Alle schwiegen sich an. Im Hintergrund nur der rauschende Regen.
„Bitte“, brachte er noch hervor, aber niemand schien ihn wahrzunehmen. Er ging hinaus in den Flur und nun wirkten die Fotos und die fremden Gesichter darauf ganz anders. Sie alle schienen ihn anzusehen und Markus fragte sich, ob diese Menschen vielleicht auch so etwas erlebt hatten, ob auch sie einen solchen Schmerz kannten? War das Lächeln des Blumenmädchens nur ein Trugbild? War das Leben hart zu ihr gewesen und sie versuchte das Beste daraus zu machen? War er nun auch eines dieser Bilder an der Wand? Er fühlte sich so. Und auch jetzt schien er das Gesicht, das er auf diesem, seinem eigenen Bild sah nicht zu kennen.
Er torkelte wie ein Betrunkener nach draußen, mit schmerzendem Knie, mit schmerzendem Rücken und mit einem schmerzenden Kopf, wo sich gerade ein Windhauch in den Wipfeln der Bäume verfangen hatte. Er stieg hinab, glitt über die Gräser und umfing schließlich Markus, der verloren in den Regen blickte. Der Wind flüstere von seiner Einsamkeit und zog weiter, ohne gehört zu werden.