Brunnen und Wahrheit
Ich empfand die schwüle Hitze als unerträglich, aber Leah ließ sich nichts anmerken. Ihre Schritte schienen leicht und lang zu sein. "Ich habe heute morgen nicht genug getrunken!", sagte ich und ließ meine Hand von ihrer umschließen, sodass sich allmählich unser Schweiß vereinte. Wir pausierten auf einer grünen verblichenen Bank, hinter denen rostige und überwucherte Schienen ins Dickicht führten. Insekten zirpten. Die Steine eines ausgetrockneten Brunnens zwei, drei Meter vor unseren Nasen waren fast schwarz vor Dreck und überwuchert von Gestrüpp, aber wenn es geregnet hatte, schmissen wir Steine in seine Tiefe, um dem Platschen zu lauschen.
Leah reichte mir lächelnd eine Kakaotüte, die sie aus ihrem Rucksack gekramt hatte. "Ich habe heute nacht geträumt...", bemerkte sie und ich sah sie erwartungsvoll an, während ich den Kakao durch einen Strohhalm schlürfte. Aber sie sagte nichts mehr. "Wovon...?", fragte ich. Ihr gesenkter Blick schien tatsächlich durch den Boden und bis ins Innere der Welt blicken zu können. Das braune Haar kurvte über die Schultern, die Flügel der Stubsnase flatterten regelmäßig und manchmal glitt ihre Zunge gemächlich entlang der schmalen Lippen; sie war hübsch, dennoch, diese verträumten Augen erzeugten stets den Eindruck, das die Gedanken im Unbekannten kreisten. Ich stubste Leah an und fragte noch mal: "Wovon?"
Sie sah mich an, lächelnd, dann spürte ich den warmen sanften Druck ihrer Lippen auf meinen Wangen. Sie lösten sich wieder - Leah positionierte meinen Kopf, um die Lippen richtig auf den Mund setzen zu können; ihre Zunge schnellte hervor und tanzte mit meiner. Die Lippen lösten sich wieder, aber ihre Hand ruhte inzwischen auf meinem Oberschenkel und streichelte langsam hin und her. "Soll ich dir einen blasen?", fragte sie und ich nickte wild. Wie einen kleinen Jungen nahm sie mich an der Hand und führte mich hinter die Bank, auf die Schienen, wo sie mir - verdeckt vom Dickicht - die Hose öffnete und mit ihrem Mund meinen Penis umschloß. Irgendwie konnte ich nicht hinsehen, aber die Helligkeit der Sonne stach mir in die Augen, sodass ich hinab blicken musste und Leah unterbrach auch manchmal, nur um zu sagen: "Siehe doch hin!"
Also schaute ich, lächelte verkrampft, wenn sie auf den Knien eine angenehme Haltung suchte und dabei zu mir hinauf sah. "Gut?" - Ich nickte.
Sie tupfte sich danach die Mundwinkel ab, erhob sich, klopfte sich den Dreck von der Hose und zog mich wieder an der Hand bis zum Brunnen. Am Rand abgestützt, beugten wir synchron unsere Köpfe vornüber und ließen schweigend unsere Blicke in der Dunkelheit suchen. Leah zückte aus ihrer Jackentasche einen gefalteten Zettel und las vor:
Bitte vergesse nie, das wir dich lieben und jeden Tag um Vergebung bitten... Wir wissen nicht, wie wir mit der Situation umgehen sollen. Darum schreiben wir dir so regelmäßig...
Sie stoppte abrupt, wartete auf mein Nicken und ließ den Brief fallen, sodass er in Zirkeln in die Tiefe gleitete, bis die Dunkelheit ihn verschluckte. Ich ließ nicht locker und brach das Schweigen:
"Sagst du mir jetzt, wovon du geträumt hast?"
Sie schwieg einige Sekunden. Ich zündete mir unterdessen eine Zigarette an, aber sie reagierte erwartungsgemäß aufgebracht: "Du hast gesagt, du würdest aufhören!"
"Ich will sie jetzt rauchen..."
"Du weißt ganz genau, das mir das weh tut und Angst macht... Die Dinger können dich umbringen..."
"Es ist mir jetzt egal..."
Da mich die Schwüle der Hitze erneut bedrückte und das Herz schneller zu pochen begann, setzte ich mich schwitzend hin. Leah blieb am Brunnenrand stehen, weiterhin in die Tiefe starrend, mit ihren verträumten Augen wirkte sie wie eine Erweiterung des Brunnens; als ob sie genau in dieser Pose dort stehen und ewig in seine Tiefe starren müsste.
"Dir ist es also egal?"
Ich erboste, aber merkte, das meine Stimme nur schwach und leise klang: "Was willst du eigentlich? Du redest mit mir über nichts... redest immer nur in Andeutungen, aber hast nicht in den Mumm endlich Klartext zu reden. Ich soll mit dem Rauchen aufhören und du kannst mir noch nicht einmal einen deiner bescheuerten Träume erzählen... Ach..."
Leah strich über den Brunnenrand, schüttelte traurig den Kopf und nahm danach neben mir Platz, indes verspürte ich nicht diese Wärme, die ihre Nähe sonst in mir erzeugte, sondern war nur noch wütend und traurig. Als sie dann ihren Arm um meine Schultern legte und ich mich an sie schmiegte, verschwanden Wut und Trauer wieder. Sie erzählte:
"Ich schlafe wenig. Wenn ich schlafen kann, dann nur nachdem ich Stunden wach war. Ich kann mich in letzter Zeit immer häufiger an die Träume erinnern. Gestern Nacht habe ich geträumt, das ich in dein Zimmer komme und du dabei bist, dich selbst anzuzünden. Du schreist furchtbar laut und läufst auf mich zu, aber ich laufe vor dir weg und laufe aus dem Haus heraus. Aber du heftest dich an meine Fersen, schreiend, mit zappelnden Armen, aber du stirbst einfach nicht... Ich laufe bis zum Brunnen hin und habe solche Angst vor dir, das ich mich hinein stürze und ich falle in die Dunkelheit, sehe jedoch über mir noch deinen brennenden Körper. Du bist hinterhergesprungen und als wir am Grunde landen, lebe ich noch und die Flammen erhellen das Innere und ich sehe die Leiche unseres Vaters..."
Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich gebe ihr eine Ohrfeige. Wir hatten uns geschworen, kein Wort mehr darüber zu verlieren. Aber Leah sprach weiter:
"Du kannst doch nichts dafür. Es war ein Unfall, aber das musst du endlich einsehen und darüber reden. Du lachst nicht mehr, du lachst gar nicht mehr. Sehe es ein... Er hätte das Gewehr verstecken müssen... Du hast es gefunden und geschossen... Aber für dich wirkte das nicht wie Realität. Du warst viel zu klein. Für dich war das nur ein Spielzeug..." Ich weinte und schüttelte entsetzt den Kopf. Hiernach spuckte ich ihr ins Gesicht und schrie: "Lügnerin!"
Sie sah mich mitleidig an, wischte sich den Speichel mit einem Ärmel vom Gesicht und stand auf, um Abstand von mir zu nehmen. Immerzu schüttelte sie langsam den Kopf und starrte mich an, als würde ich auf dem falschen Schiff stehen und ihr mit einem Papiertuch zum Abschied winken. "Du hast ihn erschossen!", schluchzte ich. "Ich weiß doch genau, wie ich auf den Hof kam und ihn dort liegen sah und du dort konfus standest, völlig hilflos. Und ich habe dich umarmt und beruhigt. Ja, das habe ich... Du Lügnerin... Wir haben ihn zum Brunnen getragen, ich habe dir geholfen, immerzu geholfen.", schluchzte ich, aber ihr Entsetzen wuchs. Sie drehte sich um und ging einfach. "Lügnerin, du wirst allein sein, du wirst ganz allein sein.... Ich war der Einzige, den du hattest!", rief ich hinterher und lachte minutenlang schallend, bis das Lachen schließlich erstickte, weil ich das Gefühl bekam, es käme nicht aus meinem Mund, sondern würde aus dem Brunnen empor hallen.