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Bulfro kommt zurück
Fast zwanzig Jahre habe ich dort gearbeitet, in dem Gebäude hier. Ist an sich ein schönes Gebäude, wenn man es so sieht, von außen, und wenn man keine Beziehung dazu hat. Alt, aus dem 19. Jahrhundert, ehemaliges Mädchengymnasium, preußischer Bau, stabiler Kasten. Ist ja jetzt endgültig vorbei, deswegen macht mir das nichts mehr aus. Aber wenn du da drin arbeitest, den ganzen Tag, dann ist das schon hart. Kein Aufzug, Treppen rauf und runter, und wenn du was schleppen musst, die Luft stickig, und im Sommer erst … Es war nicht so, dass ich mir das ausgesucht hab: Hausmeister. Ich war damals ja zuerst bei der Telekom und hab im Hauptgebäude gearbeitet, aber das wirst du irgendwann leid. Die Kollegen und die ganze Bahnfahrerei immer nach Köln, nee. Da hätte ich mir lieber einen Strick genommen, wenn ich gewusst hätte, dass du das jetzt dein Leben lang machen wirst. Und dann hab ich mich halt auszahlen lassen und wollte einen auf Künstler machen. Ich sage das jetzt so locker daher, weil ich mittlerweile drüber lachen kann, doch zu der Zeit wars mir ernst, verdammt ernst sogar.
Gezeichnet hab ich immer schon. Comics, damit hat das Ganze angefangen. Ich hab alles gelesen, was ich in die Finger bekam. Batman, noch der von Jim Aparo, und Bessie mit Andy Canyon, die üblichen Sachen damals, Superhelden und Cowboys. Das, dieses Talent, diese Gabe, das ist mir in die Wiege gelegt worden, wie man so schön sagt. Gab ansonsten niemanden bei uns in der Familie, der ähnlich veranlagt war, also musisch, oder geschweige denn damit was hätte anfangen können. Für die war das einfach eine Spielerei: so is der Jung wenigstens beschäftigt! Ernst genommen hat das keiner, ich mache aber auch niemandem mehr einen Vorwurf deswegen, darüber bin ich lange hinweg. Was der Bauer nicht kennt … Hat mich ein halbes Jahr gekostet, meine Eltern zu überreden, dass ich mir einen Ausweis für die Stadtbücherei zulegen durfte. Die dachten, das versaut den Jungen nur. Mein Alter war Schließer in der JVA und meine Mutter Näherin. Alles, was die nicht verstanden haben, da dachten die eben, dass es gefährlich sein muss. Kunst und so, nee. Die wollten auf Nummer sicher gehen für mich, dass da auch ja nichts schiefgeht, aber hat wohl trotzdem nichts genutzt. Im Grunde war es ja auch so, klar hat mich das versaut, das mit dem Ausweis für die Bücherei, denn da habe ich die Kunstbände für mich entdeckt: Otto Dix, Odilon Redon, George Grosz. Die habe ich mir alle nacheinander ausgeliehen, angeschaut, ach was, richtig studiert habe ich die, und dann versucht, den Stil nachzuahmen, so dazuzulernen. Stunden habe ich da verbracht. Ich bin nicht so der gesellige Typ, hatte nie besonders viele Freunde. Um ehrlich zu sein, hat mir die Gesellschaft anderer auch nie so viel bedeutet, ich bin immer schon ganz gut allein zurechtgekommen. Ich habe zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester, da war zu Hause so viel los, dass ich das gar nicht brauchte, nicht noch zusätzliche Unterhaltung, sag ich mal. Ganz im Gegenteil. Es war eigentlich eher so, dass ich mich zurückgezogen habe, wenn es ging, weil ich anfangs auch kein eigenes Zimmer hatte, das musste ich mir mit meinem Bruder Simon teilen, wirklich Ruhe gab es da einfach nicht.
Das Zeichnen hat mir auch gereicht. Das war alles, was ich machen wollte. Da war ich ganz bei mir, ein weißes Blatt Papier, paar Stifte, Tusche. Mir ist das einfach aus den Fingern geflossen, ich habe nie bewusst nach einem Motiv gesucht oder geplant, was ich zeichnen will, das ist einfach so passiert, organisch. Ich brauchte nur Papier. Ich hatte auch keinen Lehrer oder so, der mir irgendetwas zeigt, da wäre weder Geld noch Verständnis für dagewesen, ich bin Autodidakt. Und hier, ich sag mal, das ist schon Provinz, da ist es mit der Kultur natürlich auch so eine Sache, da gibt es naturgemäß weniger Interesse. Ich hatte Glück, ich habe relativ früh den HaWe kennengelernt, das war zu Beginn meiner Ausbildung, der wurde dann so eine Art Künstlervater für mich. Eigentlich war das ein gelernter Reprofotograf, der aber auch Bilder machte, abstrakter Expressionismus, der war umtriebig und in der Stadt damals recht bekannt. Der hatte so eine kleine Ausstellung im Foyer der Stadtbücherei, da habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und ihn einfach angesprochen. Er fand das gut, mich so unter seine Fittiche zu nehmen. Der HaWe, das war schon auch ein Gernegroß, der machte sich immer etwas wichtiger, als er war. Es ist zwar richtig, dass er mal für den Professor Klauke und auch für den Sovak gearbeitet hat, aber solche Sachen musste man bei ihm immer mit einem Körnchen Salz nehmen, denn da hat er gerne maßlos übertrieben. Die Wahrheit ist, dass er in der Werkstatt die Handabzüge von Klaukes Fotografien gemacht hat, und ich sag mal, der Herr Professor wollte sich wahrscheinlich nicht mehr den lieben langen Tag im Dunst der Chemikalien aufhalten, dafür hatte er eben so Leute wie den HaWe, Kalfaktoren, wenn man es genau nimmt. Trotzdem war das ein guter Mann, der HaWe. Bei uns gab es ja nichts, nicht viel, ein paar Ateliers, wo die Stadt sich Alibi-mäßig dran beteiligt hat, damit da Ruhe ist und keine Diskussion aufkommt, dass die Kreisstadt ihre Künstler verhungern lässt. Einmal im Jahr gab es dann den Tag der offenen Ateliers, wo jeder mal reinkommen und schauen konnte, was man da so fabriziert, aber eigentlich hat sich da nie groß einer drum gekümmert. Und der HaWe, der hatte da so seine Nische gefunden, der war nicht nur Künstler, sondern zu gleichen Teilen auch Animateur, der wusste, wie man die Leute unterhält und wo man am besten Gelder abzapft. Er war damals ungefähr so alt wie mein eigener Vater, auch ein Mann im mittleren Alter, nur eben völlig anders drauf, der soff gerne und rauchte Kette und hatte dabei auch noch Ahnung von Kunst, ein echter Freigeist, ihm schien die Stadt gleich weniger klein und eng. Und immer, wenn ich den HaWe gesehen habe, wenn wir beim Bierchen zusammen saßen oder er mir in seinem Atelier gezeigt hat, woran er gerade arbeitet, da habe ich mir gedacht, sieh mal, geht auch anders, so könnte dein Vater auch sein, mit einem anderen Verständnis für dich und die Welt. Wer weiß, was dann passiert wäre? Aber war eben nicht so, konnte ich ja auch nichts dran ändern. Der HaWe war ein ganz sanfter Mann, ist nie laut geworden, den hat man auch nicht aus der Ruhe bringen können, er hat es einem auch das zehnte und elfte und zwölfte Mal erklärt, wenn man etwas nicht sofort verstanden hatte. Da hatte er eine Engelsgeduld, ruhig, verständnisvoll, das war wirklich eine Seele von Mensch. Lag wahrscheinlich daran, dass er keine eigenen Kinder hatte. Hat mir vieles beigebracht, vor allem Perspektive, Komposition, Strich, und er war auch ein kleiner Poet, der viel las, er hat mich mit Büchern zugeschüttet: Werd ein Schnellleser meinte er immer, und ich habe mich an seinen Rat gehalten.
Ich habe schon immer viel mit Schwarz gemacht, Schwarzflächen, Gesichter, Charaktere, alles ein bisschen verzerrt, krakelig, surreal, das mochte ich irgendwie schon immer, das Dunkle, das Düstere. Diese Figuren kamen aus meinem tiefsten Innersten, denke ich, das waren alles Versionen von mir selbst, immer etwas schräg ins Leben gebaut. Der HaWe hat sich regelmäßig meine neuen Zeichnungen angesehen und dann irgendwann erkannt, dass ich eigentlich seriell arbeite, dass alle meine Skizzen und Figuren zusammenhängen, dass die aufeinander aufbauen, einen größeren Sinn ergeben. Das sieht man selbst nicht so direkt, weil man sich ja mitten im Prozess befindet, doch der HaWe hatte da schon einen anderen, eher distanzierten Blick drauf und das gut erkannt, das muss ich sagen. Er hat mir noch ein paar andere gute Künstler gezeigt, Crumb, Mattotti, das hat meinen Horizont damals richtig erweitert, den Blick geöffnet, und in der Richtung habe ich weitergemacht, auch damit angefangen, alles mit kleinen Texten zu versehen, Gedanken, Beobachtungen, Zitate, das alles dichter zu machen, eine Art Geschichte zu erzählen, daraus wurden immer längere Strips und schließlich zusammenhängende Seiten.
Wegen der Telekom und wie ich dazu gekommen bin … Ich war kein besonders guter Schüler, bestenfalls mittelmäßig, und sonst auch ungeschickt, Handwerk wäre da nicht gegangen, große Auswahl hatte ich also nicht. Mein Vater hatte durch die JVA aber ganz gute Kontakte, zu allen möglichen Leuten, und irgendwann stand das eben fest: der Junge geht zur Telekom. Ich glaube, was das Ganze für sie so besonders machte, war, dass man damals dort noch verbeamtet werden konnte. Wenn man das geschafft hat, dann hat man es geschafft im Leben, zumindest in den Augen meiner Eltern war das so. Über die Telekom, die ganze Zeit, da gibt es eigentlich nicht so viel zu erzählen: ich war halt anwesend. Ich hab mich mehr oder weniger durchgeschlagen, wirklich motiviert war ich da nicht. Das war halt so die typische Sache, man musste dadurch irgendwie, man hatte es sich im Grunde auch nicht selbst ausgesucht, aber man hatte auch keinen Mut, keine eigene Idee, was man hätte machen sollen oder können. Man hat das so hingenommen. Heute sehe ich das natürlich anders, meine Eltern hatten aber überhaupt gar keinen Zugang zu mir, die haben mich auch nicht gefragt, es gab einfach kein Gespräch auf Augenhöhe, das wurde einmal entschieden und dann war das so. Ich wurde da nicht gefragt.
Und bei der Telekom, das kann ich heute so sagen, da haben die mich mehr oder weniger wie einen Hund behandelt. Ich war damals schüchtern, scheu, ich hab komische Klamotten angehabt, immer noch Cord und hatte auch nur Flaum über der Lippe, ich sah aus wie ein Junge, und das war ich ja auch, ein Junge. Ich konnte keinem so richtig in die Augen sehen, hatte auch keinen richtigen Händedruck, ich hab mich da nicht wohl gefühlt. Waren ja auch alle älter, ziemlich konservativ. Ich glaube, da habe ich das erste Mal erlebt, wie grausam die Menschen sein können, wie sie dich behandeln, mit dir reden … am Ende, da war es für mich eine einfache Rechnung: ich hätte abbrechen können, ja, und dann hätte ich mit Nichts dagestanden, meine Eltern hätten mir die Hölle heiß gemacht, und am Ende wäre alles so wie vorher gewesen, nichts hätte sich geändert. Das wusste ich. Dann habe ich mir gesagt, scheiß was drauf, du hälst das aus, du zeigst es allen, aber du machst das im Stillen, du machst das mit dir selbst aus, du frisst das alles in dich rein und lässt es dir nicht anmerken.
Danach, nach der Ausbildung, bin ich nur wegen der Kohle geblieben, ganz einfach. Ich wollte auch raus, ich hätte mit meinen Eltern nicht mehr länger unter einem Dach leben können, das wäre nicht gut gegangen. Gab nur noch Streit, weil es ja offensichtlich war, dass der Junge anders war, anders wurde, als sie sich das vielleicht vorgestellt hatten. Mit dem konnten sie jedenfalls nicht prahlen, der würde es nie weit bringen. Das stand fest. Anfangs, da gab es immer noch richtig Palaver und den immergleichen Sermon, dass man es zu etwas bringen muss und all das, aber irgendwann hatte sich das auch erledigt, da wurde nur noch geschwiegen. Ich bin dann ausgezogen, 35 Quadratmeter ganz hinten an der Viehtrift, Einliegerwohnung und auch noch Souterrain, aber das war mir vollkommen egal. Ich hatte zwar kaum Tageslicht da unten in dem Loch, aber ich habe mich trotzdem wie ein König gefühlt. Jeden Tag zu Fuß runter in die Stadt, mit der Bahn nach Köln, arbeide, wieder nach Hause, am Kiosk auf der Papagei noch ein paar Dosen Bier mitgenommen, dann an den Tisch gesetzt und gezeichnet. Anders hätte ich die Zeit nicht überlebt. Gibt noch ein paar Sachen aus der Zeit, meistens habe ich mich selbst gezeichnet, ein Alter Ego, wenn man das so nennen will - ich habe ihn Fred Jedermann genannt. Wie Fred in der Bahn sitzt, auf der Arbeit, umringt von seinen Kollegen, die alles besser wissen, die wissen, wie es läuft im Leben, die auf ihn einschreien, ihn zurechtweisen, dann Fred allein in der Mittagspause, wie er Sardinen aus der Dose isst, wie sich seine Kollegen über den Knoblauchgeruch echauffieren, wie er sich abends müde und abgekämpft in die Bahn schleppt, sein Bier trinkt, und immer schwer und wuchtig, mit breitem Strich, zerfetzten Gesichtern, die Posen und Bewegungen nur angedeutet, alles fast schon aufgelöst, als wäre das eigentlich keine Zeichnung, kein Bildnis, sondern eine schlechte Fotografie, unscharf, aus der Hüfte geschossen, grobkörnig, aber mit Seele, ein Moment, der alles sagt, der alles einfängt, die ganze Einsamkeit und Traurigkeit, einfach alles.
Und ich habe das ja die ganze Zeit über schon gewusst, dass das nichts für mich ist, immer jeden Tag arbeiten, die gleiche Scheiße, du siehst immer dieselben Fressen, und dann die ganze Heuchelei, dieses Nachobenkommenwollen, die Kollegen ausstechen, das Schlechtmachen … das war etwas, dass ich nicht verstanden habe, und das ich auch nicht verstehen wollte. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Die Jahre, die habe ich mich gezwungen, hinzugehen, zur Arbeit zu gehen, und ich glaube, was mich gerettet hat, war das Wissen, dass ich das nicht ewig mache. Das hat mich gerettet. Ich bin ausgezogen, war für mich, brauchte mich vor niemandem rechtfertigen, konnte tun und lassen, was ich wollte … in der Zeit, da habe ich gelernt, was ich auf keinen Fall will, und ich habe auch gelernt, was für ein Mensch ich nicht sein will. Ich habe viel Staub gefressen, und meistens meine Schnauze gehalten, weil ich wusste, bald bin ich hier raus. Und als dann das erste Angebot kam, Stellen sollten reduziert werden, Abfindung, da war ich sofort dabei. Und nach der Telekom, da dachte ich, jetzt ist meine Zeit gekommen, wrrrromm, Superman!, die Abfindung auf der hohen Kante und dann irgendwelchen lila Röcken für viel Kohle das Zeichnen beibringen und selbst groß rauskommen, aber wie das so ist im Leben … war aber eine gute Zeit, trotz allem. Ich hatte eine große Wohnung, direkt am Marktplatz, und jede Nacht Tassen hoch, in Ateliers und Proberäumen rumgehangen, die Nächte durchgefeiert, an ein paar Ausstellungen teilgenommen, unbedeutender Kram in der Provinz, aber einmal war ich bei einer Sache im Kinderbuchmuseum dabei, da hatte ich eine Radierung abgegeben, die wurde prämiert, da war ich schon stolz, das muss ich sagen. War nichts Großes, ein kleines Kind beim Spielen draußen im Garten, das saß allein unter einem Baum, war mit sich selbst beschäftigt, und es schien glücklich zu sein … jeder Künstler sieht sich auch immer selbst in seinen Sachen, so ist das einfach, man vertraut sich selbst, man vertraut auf seinem Schmerz, auch wenn das wie ein Klischee klingt, man sucht ja immer irgendwie nach Glück, nach einer Vorstellung von Glück, und wenn man das nicht findet, versucht man das eben anders auszudrücken, man versucht das auszudrücken, was man nicht hat, nach dem man Sehnsucht hat, und ich denke, das haben die in dieser Radierung gesehen. Das kleine Kind, das von all diesen Dingen noch nichts weiß, das vollkommen unbeleckt da sitzt und mit seinem Schippchen im Sand schaufelt, das von der Welt noch nichts weiß. Der HaWe hat mir das beigebracht, wie man eine Radierung anfertig, wie man die Nadel richtig reinätzt und das plastisch macht, wie man Tiefe erzeugt, wie man ein Bild echt macht, so dass es etwas aussagt. Ich habe danach nie wieder eine Radierung gemacht, nie wieder. Ich wollte das so behalten, diese Erinnerung, dass es den Leuten einmal etwas bedeutet hat, ich wusste ja, das kommt so schnell nicht wieder, an wen erinnert man sich denn schon? An fast niemanden, alle verschwinden sie aus dem Gedächtnis, einer nach dem anderen, und wenn man es nur für einen kurzen Moment schafft, die Menschen zum Hingucken zu bewegen, nur ein Blick, ein Augenblick, dann ist das schon viel wert. Ich klinge jetzt original so wie der HaWe, aber macht nichts, er war ja auch ganz begeistert von Beuys und diesen Leuten, mir hat das nie so viel gegeben, aber er war da ein großer Verfechter von, soziale Plastik undsoweiter.
Meine ersten Schüler habe ich mir dann auch vom HaWe abgegriffen, der machte damals Skulpturen, riesige Dinger aus Stein oder Holz, der hat davon sogar mal eine an RTL verkauft, die wollten die für das Set von einer Sendung, die keltische Kampftrinkerin hieß die, Trümmer aus Naturstein, 3000 Mark hat er dafür bekommen. Der gab auch dafür Kurse in einer alten Champignonfabrik, Klopperkurse, wie er sie nannte, wo er den Leuten das eben beibrachte, wie man eine Skulptur erschafft, zuerst aus Holz, dann aus dem richtigen Stein. Da gingen schon die besser Betuchten hin, würde ich sagen, alles Leute, die sich das leisten konnten, denn billig war das nicht: Lehrer, Beamte, so diese Richtung. Ich habe ihn einfach gefragt, ob er nicht was für mich tun kann, Zettel aufhängen, persönlich nachfragen, und er hat das richtig gut gemacht, das muss ich sagen, ich hatte schnell zehn, zwölf Schüler zusammen. Das war natürlich die gleiche Klientel, aber das war mir egal, denn die hatten schließlich das Geld. Wir trafen uns jeden Mittwoch in meiner Wohnung, da gab es ein Zimmer zur Abtei raus, mit großen Panoramafenster, Aussicht auf den Michaelsberg, schön malerisch. Die meisten wollen Porträts zeichnen, ich weiß nicht warum, aber so ist es. Die wollen Gesichter zeichnen, und das möglichst realistisch, möglichst genau, aber wenn sie das wollen, sollen sie doch fotografieren, oder nicht? Da will keiner eine zweite Ebene, Tiefe, irgendetwas verrücken, verzerren, Formen auflösen, die wollen exakt und präzise etwas abbilden, den Mann, die Frau, die Kinder … ich glaube, das ist so ein Kunstverständnis, Handwerk, und dann muss man dabei auch noch schön schwitzen, denn das ist der Beweis, dass man Zeit und Arbeit investiert hat, das man gelernt hat, sich Mühe gegeben hat, es muss alles möglichst echt wirken, realistisch. Kunst, Kunst, nein, das ist Abbildung, Dokumentation, und da ist nichts verkehrt dran, das sage ich nicht, aber ich war einfach woanders, und ich habe schnell gemerkt, dass ich kein guter Lehrer bin. Ich war da viel zu nah dran, viel zu sehr in meinem Kopf, ich wollte, dass meine Schüler so zeichnen wie ich, dass die das gleiche Verständnis entwickeln, und da war ich extrem, zu extrem. Da war ich schließlich König in meinem eigenen Königreich. Das war auch das erste Mal, dass ich alles selbst in der Hand hielt, dass ich die Ansagen machte, und da habe ich einfach kein Maß dafür gefunden. Ich hatte so eine wilde Phase, wo ich wie Fratezza gemalt habe, Wikinger, nackte Frauen, Schädel, Äxte, die Frauen natürlich alle nackt und mit großen Brüsten, viel Blut und Gewalt, zuerst als Skizze in schwarz-weiß, dann im großen Format und in Öl, ich habe richtig dick aufgetragen, im Atelier vom HaWE, teuren Rotwein und Oberkörperfrei, dutzende Kerzen an, Tom Waits auf dem Plattenspieler, die frühen Neunziger Jahre. Ich habe mich wirklich für ein Genie gehalten, glaube ich, ganz ohne Zwang, einfach gemacht, was ich wollte. Die Schüler wurden zwar immer weniger, aber mich hat das nicht weiter gekümmert, weil ich ja noch genug Geld hatte. Ich weiß noch, da gab es diese fast Neunzigjährige, die hat mir die Treue gehalten bis ganz zuletzt. Und dann war nach einem Jahr finito. Geld weg. Da war Britta schon schwanger, und ich wusste natürlich, irgendwoher muss das Geld ja jetzt kommen, also wieder an die Schippe, und das Erstbeste, was damals kam, war eben der Job: Hausmeister in der VHS.
Du musst im Grunde nicht viel machen, die Räume vorbereiten, mal da einen Bildschirm hin, mal da ein paar Stühle rücken, und die suchten ja auch jemanden, der an den Wochenenden arbeiten kann, und das konnte ich, oder sagen wir: musste ich. Mich hat das auch nicht gestört, muss ich sagen, ich hatte viel leere Zeit, da konnte ich lesen und zeichnen, das ging so nebenher, und am liebsten hab ich abends gearbeitet, da saß ich allein im Kabuff, hatte alles vorbereitet, die Kurse liefen, und ich konnt machen was ich wollte. Das Geld war auch nicht schlecht, sagen wir mal so. Reich wird man nicht, aber es ist eben ein Gehalt. Und damals, da haben wir auf schmalem Fuß gelebt, kleine Bude an der Dohkaule, das war schon in Ordnung. Anfangs war es nur eine Aushilfsstelle, dreiviertel, dann später, als einer der alten Kollegen verabschiedet wurde, haben sie mir Vollzeit angeboten, und das hab ich dann gemacht.
War eine seltsame Zeit, muss ich sagen, wenn ich so zurückblicke, alles ist sehr schnell passiert, konntest du kaum gucken. Das mit Britta war so eine Sache. Die habe ich im Atelier vom HaWe kennengelernt. Er hatte öfters Gäste da, meistens Frauen, er war immer noch ein ziemlicher Gigolo, sah ja auch gut aus, für sein Alter attraktiv, wie so ein leicht ergrauter Italiener, und es gab in seinen Kursen immer zwei oder drei Frauen, die auf ihn standen und ihn auch aushielten, seine Bilder kauften, ihm Wein und Schnaps mitbrachten. Und irgendwann war auch die Britta dabei. Sie war die Freundin von einer seiner Liebchen, sie ist mir sofort aufgefallen - jung, braune, lange Haare, dunkle Augen … aber ich hab nie gedacht, dass ich bei der einen Stich machen könnte. Aber sie war so, ja, so interessiert … das war die erste Person, die sich wirklich für mich interessiert hat, und die auch Ahnung hatte, die wusste, wo ich herkomme, was ich da so mache, die das einordnen konnte. Sie hat mich angesprochen. Ich glaube, ich selbst hätte das nicht hinbekommen. Und so kam eins zum anderen. War eine tolle Zeit, wir sind gemeinsam durch die Kneipen gezogen, haben uns Ausstellungen angesehen, ich bin damals richtig aufgetaut, menschlich, die Britta war die erste Person, die ich wirklich an mich rangelassen habe, auch emotional, mit der ich über alles reden konnte, und wo ich auch das Gefühl hatte, die versteht das, bei der ist das gut aufgehoben, die macht sich nicht über dich lächerlich, die lacht dich nicht aus. Ich habe mich eigentlich immer unzulänglich gefühlt, das kannte ich ja gar nicht anders, es hat nie gereicht, zuhause nicht, in der Lehre nicht, auf der Arbeit nicht, irgendwas war immer, ich konnte nur Fehler machen, und irgendwann fängst du eben an, das auch zu glauben. Die einzige Sache, von der ich immer überzeugt war, von der ich wusste, dass ich das kann, das war das Zeichnen. Da konnte mir keiner was vormachen, das wusste ich, nur gesehen, was ich so mache, hat eben auch keiner. Doch, die Britta hat das gesehen, sie hat auch an mich geglaubt, und sie hat immer gemeint, dass ich nicht aufgeben soll, dass ich weitermachen soll, dass es Zeit braucht. Ich war damals an einem eigenen Comic gearbeitet, ich habe diese Arbeiten anfangs niemandem gezeigt, wahrscheinlich war ich zu schüchtern, und ich glaube, ich hatte einfach Angst vor der Kritik. Die Idee war vom klassischen Tarzan-Stoff inspiriert, der aber in Deutschland um die Jahrhundertwende spielt, noch zur Zeit des Kaisers, eine Art Waisenjunge, der in einem Wald mit Füchsen, Wölfen und Bären aufwächst und durch Zufall entdeckt wird, Bulfro hieß der, Bulfro habe ich den genannt, ich habe die ganze Geschichte geträumt, wie er zuerst gefangen genommen wird, ausgestellt wie ein wildes Tier, aber dann in die höheren Kreise eingeführt wird, wo er vorgeführt wird wie eine Zirkusattraktion, und nachher tötet er den Kaiser und flieht mit seiner jüngsten Tochter in die Karpaten, wo er mit ihr dann in einem Erdloch lebt. Es hatte einen ganz eigenen Stil, ich habe lange daran gearbeitet, den richtigen Strich zu finden, zwischen Konkretem und Abstraktem, zwischen vage und präzise, am Ende wäre es dann etwas vollkommen Eigenes, Kurioses, ich war und bin immer noch der Überzeugung, dass es so etwas vorher nicht gegeben hätte. Als hätte Leyendecker einen Pulp-Comic illustriert. Ist auf jeden Fall mein Meisterwerk, ich habe daran gearbeitet wie ein Besessener, Tag und Nacht, gegen Ende habe ich in diesem Comic gelebt, ich habe davon geträumt, das war Wahnsinn. Ich konnte mich da nur schlecht von lösen, von der Arbeit daran, das hat mich so gefesselt, und ich wollte es perfekt machen, jeder Strich musste sitzen, ich habe lange daran gearbeitet, intensiv, wie im Fieber. Britta sagte dann, lass es jetzt mal gut sein, du brauchst auch mal eine Pause, mach mal eine Pause, Distanz ist wichtig, und ich musste mich wirklich dazu zwingen, mich nicht direkt wieder an den Zeichentisch zu setzen, aber sie hatte natürlich Recht, es war besser so, Abstand ist wichtig. Ich habe es dann ein paar Wochen lang gar nicht angefasst, habe alles weggepackt, die Arbeit einfach ruhen lassen, mir noch nicht mal einzelne Seiten angesehen, gar nichts. Ich habe auch versucht, nicht daran zu denken, habe gesoffen, gefressen und gevögelt, und dann, sechs, sieben Wochen später, da habe ich dann erstmal ganz zaghaft durch die Seiten geblättert, weil ich nicht wusste, wie ich es nach der Zeit finde, ich hatte Angst, dass ich es vollkommen missraten finde und alles in die Mülltonne schmeiße … war dann das genaue Gegenteil, ich dachte, das kann nicht von mir sein, das hat doch jemand anders gemacht! Ich meine, kommt ja auch nicht so oft vor, dass man begeistert ist von seiner eigenen Arbeit, oder? Und das hat mir das Selbstbewußtsein gegeben, es zu beenden, es fertig zu machen. Doch für so eine wilde Story, da hat sich keiner interessiert. Ich habe Leseproben an Verlage geschickt, an Magazine, an Zeitungen, nie kam etwas zurück. Und dann meinte die Britta, mach es einfach selbst. Der eine Teil ist das Kreative, der Schaffensprozess, da hatte ich alles in der Hand, hatte das Ganze im Griff gehabt. Vom Rest hatte ich natürlich überhaupt keine Ahnung, wie es dann weitergeht, das hat alles Britta organisiert. Satz, Gestaltung, bis man es schlussendlich an die Druckerei geben kann. Ich wäre damit vollkommen überfordert gewesen, das gebe ich gerne zu. Dafür, für die Auflage, da ist mein letztes Geld draufgegangen, dafür habe ich das Konto komplett leergeräumt. Es war mir egal, denn ich war von der Sache überzeugt.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie wir auf die Lieferung gewartet haben, jeden Tag nach der Post geschaut, und dann kam das Paket endlich … das erste Exemplar ausgepackt, einmal durchgeblättert, das war schon was. Auch das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich so richtig als Künstler wahrgenommen habe, als ich diesen Comic in der Hand hielt; da stand ja mein Name drauf, und alles, jede Zeichnung, jeder Strich, jedes Wort war von mir. Da hatte ich noch geglaubt, dass ich endlich etwas erreicht habe, ich hab’s geschafft. Wir haben es dann den Buchhandlungen in der Gegend angeboten, auf Kommission erstmal, auch den Comicläden, die es damals noch gab … anfangs lief es ganz gut, wir hatten so eine Art Premiere, wo ich in einem kleinen Cafe die Veröffentlichung gefeiert habe, mit paar Freunden undsoweiter, da sind viele Exemplare weggegangen, aber irgendwann bist du halt alle durch, und ohne Verlag oder Werbung wird ja auch keiner auf dich aufmerksam. Ich habe heute noch ein ganzes Paket unten im Keller stehen, gut verkauft hat sich der Bulfro also nicht besonders. Ich war damals Anfang Mitte Zwanzig, da denkt man noch anders , da willst du die Welt aus den Angeln heben und glaubst, alles muss dir zu Füßen liegen. Für mich war das der Anfang, und ich dachte im meiner Arroganz, so geht das jetzt weiter, Schritt für Schritt.
Britta wollte dann unbedingt ein Kind, eine richtige Familie gründen, ich war da anfangs gar nicht so für, aber ich dachte, wenn ich ihr kein Kind mache, dann verlässt sie mich auf jeden Fall. Ich hatte Angst davor, wieder alleine zu sein, nie mehr jemanden wie Britta kennenzulernen, ich habe nicht daran geglaubt, dass noch eine andere Frau gibt, die sich so für mich interessiert. Es war ja auch so, dass ich vor ihr noch Jungfrau war, sie war die erste Frau, mit der ich Sex hatte, mit der ich geschlafen habe, ich kannte das vorher gar nicht, diese Körperlichkeit, diese Nähe, ich wurde da richtig süchtig nach, und das wollte ich auf keinen Fall verlieren. Sie hat mich halt hochgehandelt, das habe ich damals zu Freunden gesagt, als man es nicht mehr übersehen konnte, dass sie schwanger ist. Ich habe das irgendwie gar nicht so richtig ernst genommen. Ich habe auch gedacht, das gibt sowieso nichts, oder das dauert ewig, bis da wirklich was passiert, aber kaum hatte die Britte die Pille abgesetzt, war’s schon passiert. Erster Schuss direkt ein Treffer. Ich habe das gar nicht verstanden, was das bedeutet. Britta war glücklich, und ich wusste, wenn sie glücklich ist, ist alles in Ordnung. Ob ich bereit war, eine Familie zu gründen … ich war die meiste Zeit mit mir selbst beschäftigt. Ich bin rumgerannt und habe allen möglichen Leuten versucht meinen Bulfro anzudrehen, habe mich bei der Agentur vorgestellt, bei dem Verlag, die Comicläden überredet, noch ein paar mehr Exemplare auf Kommission zu nehmen, aber keiner hat so richtig angebissen. Ich glaube, die haben mich auch ein wenig belächelt, ein deutscher Tarzan?, was soll das denn schon sein? In Deutschland gibt es da eben auch keine Geschichte, keine Historie, was das angeht, Comics sind was für kleine Kinder, die Leute denken, das ist doch keine Kunst!, das ist Pille-Palle. Und es ist ja so, ich hatte auch sonst nichts vorzuweisen, keine künstlerische Ausbildung, keine Kontakte, nichts. Ich hatte schon Ambitionen, so ist es nicht. Zweimal habe ich mich dann an der Akademie in Düsseldorf beworben, das geht ja ohne Abitur, zweimal wurde ich abgelehnt. Ich wollte was Offizielles, das man mich ernst nimmt, das ich eine Ausbildung vorzuweisen habe, denn am Ende ist es egal, was du machen willst, ob du jetzt Comics machst oder abstrakte Kunst, wenn du mitspielen willst, musst du ein Papier haben, auf dem steht, dass du das kannst, amtlich beglaubigt, du brauchst immer ein Nachweis, die Begnadigung von oben, so ist das in Deutschland eben.
Verstanden habe ich das damals nicht, dass die mich abgelehnt haben. Ich habe natürlich gedacht, dass ich gut genug bin, auf einem Niveau mit Alfred Kubin, mindestens. Aber als ich das erste Mal mit meiner Mappe da aufgetaucht bin, in Düsseldorf, an der Akademie, habe ich sofort gespürt: das gibt nichts. Ich habe mich wie ein Fremder gefühlt, die ganzen Leute da, alle so modisch angezogen, dann taten sie so klug und kamen sich fürchterlich wichtig bei allem vor, die haben einen wie mich gar nicht beachtet, gar nicht ernst genommen, und ich wusste, nee, egal was du kannst, was du machst, egal wie gut deine Sachen sind, die würden dich niemals nehmen, einfach weil du so bist, wie du bist. Die denken, du bist irgendein Spinner aus der Provinz. Ich habe mich, glaube ich, nie wieder so deplatziert gefühlt. Einer der Professoren sagte auf dem Weg raus noch so ganz lapidar zu mir: Tun Sie sich einen Gefallen und malen Sie Löffelstiele. Ich habe das zuerst für einen Witz gehalten, aber der meinte das ernst. Malen Sie Löffelstiele. Da habe ich begriffen, das ist nicht meine Welt und wird sie auch nie sein.
Enttäuscht war ich trotzdem, weil das eben die nächste Sackgasse war, ich wusste, da komme ich auch nicht weiter, und ich denke, man findet seine Wege, damit umzugehen. Zuerst sagt man sich, einfach um das zu rationalisieren, die haben dich einfach nicht verstanden, die verstehen deine Kunst nicht, das kann nicht anders sein, van Gogh haben sie auch erst nach seinem Tod entdeckt, und im Grunde gehörst du da auch gar nicht hin, das wäre sowieso nicht gut gegangen, die hätten dir da auch nichts beibringen können, was du nicht schon kannst, sowieso alles nur Arztsöhne da, und dann, ein bisschen später, da wirst du dann gefrustet und suchst dir andere Gründe, warum es nicht geklappt hat, dann waren deine Eltern eben verantwortlich, weil sie dir den Zugang zu Kunst und Kultur verwehrt haben, von Anfang an, weil sie dich nicht unterstützt und gefördert haben, alles Kleinbürger und dumme Proletarier, dann deine Lehrer, die Gesellschaft, das System - alles, nur du selbst nicht, klar. Und wenn du das einmal verdaut hast, bleibt der Neid übrig, der Neid auf die, die es geschafft haben, man findet ja immer irgendetwas. Warum darf der studieren und ich nicht?, warum ist der bekannt und berühmt und ich nicht?, warum hat der es geschafft und ich nicht?, das kann auf keinen Fall an mir liegen, es muss auf jeden Fall an etwas anderem liegen, meine Sachen sind doch viel besser als dem seine, also hatte der eben einfach die richtigen Beziehungen, Verbindungen, oder der hat sich hochgeschlafen … irgendwas, nur nicht das eigene Unvermögen, dass es vielleicht einfach nicht reicht oder es auch die falsche Zeit ist, dass man nicht so gut ist, wie man selbst denkt. Das kommt als allerletztes. Man weiß das im Grunde ja schon, natürlich weiß man dass, man spürt das, aber man will es eben einfach nicht wahrhaben.
Und als Britta dann die Esther geboren hat, da war das für mich erstmal eine totale Umstellung, da hast du dann plötzlich so ein kleines Kind, ein Neugeborenes, und du weißt nicht, was du damit anfangen sollst, das war schon hart. Kommst von der Arbeit heim, meistens so gegen Zehn, viertel nach Zehn, und da ist dann keine Ruhe oder so, wie früher, da ist auch keine Zeit für ein Glas Wein oder ein richtiges Gespräch, also zwischen zwei erwachsenen Menschen, wie der Tag so war, dafür bleibt einfach keine Zeit, dafür ist keine Zeit. Baby hier, Baby da, ich hab dann zwei Flaschbier getrunken und bin auf dem Sessel eingeschlafen, da bin ich ganz ehrlich, so war das. Und die andere Sache: Ich musste immer an meinen Vater denken, wie der mich kleingemacht hat, kleingehalten im Grunde, mich gedemütigt hat, und dann hab ich die Esther gesehen, da in ihrem Bettchen, und ich wusste es eigentlich von Anfang an: du hast gar nicht das Rüstzeug dafür, du bist noch kein Mann, du bist niemand, der wirklich Verantwortung übernehmen kann, du bist im Grunde noch ein Junge, du willst das alles gar nicht. Das habe ich gedacht, ich konnte da nicht gegen an, es war einfach so. Man versucht das natürlich, man will der liebevolle Vater sein, alles richtig machen, und das klappt auch, das funktioniert eine Weile ganz gut, aber irgendwann ist es so, dass du denkst, so, und jetzt noch schnell die Theaterschminke, das wird ja wie eine Rolle, die spielst, spielen musst.
Das hatte natürlich auch etwas mit dem Verhältnis zu meinem eigenen Vater zu tun. Ich versuche ja immer wieder, mich zu erinnern, ob es da nicht auch gute Momente gab, ob es da eine Zeit gab, wo ich mich nicht fehl am Platze gefühlt habe, wo er mal stolz auf mich gewesen ist, wo ich mir nicht vorkam wie der letzte Dreck, aber da gibt es einfach nichts. Ich konnte es ihm nie recht machen. Meine Brüder und auch meine Schwester, die wurden und waren halt wie er, die haben sich für Fußball interessiert, ihre Lehren gemacht, Schlosser, KFZ und Bürokauffrau, die hatten auch früh Familie, die wurden genauso ein Kleinbürger wie er es selbst auch, wollten ein Haus bauen, in Urlaub an der Ostsee, neues Auto, das gleiche, beschissene Leben, und die würden die Geschichte wahrscheinlich anders erzählen, die kannten eben einen anderen Vater, als ich ihn kannte. Ich war immer der missratene Sohn, zu still, dann mit Kunst, mein Vater dachte damals auch, ich werde schwul, das wäre das Schlimmste für ihn gewesen. Da denkst du drüber nach, wie das gewesen ist und wie das jetzt bei einem selbst werden soll, was für ein Vater willst du eigentlich sein, was gehört dazu? Und ich wollte mir diese Gedanken einfach nicht machen, das war zu früh für mich, ich war da gar nicht drauf vorbereitet, das wusste ich auch. Mein Vater hat sich auch nie für die Esther interessiert, für ihn war das sowieso keine richtige Beziehung, ich war mit Britta ja nie verheiratet, und ich hatte zu dem Zeitpunkt auch schon Jahre kein Wort mehr mit ihm gewechselt, nur ab und zu mit meiner Mutter. Mit meinen Geschwistern auch nicht, wir hatten uns einfach schon auseinandergelebt, da gab es nichts mehr zu sagen. Ich wünschte, es wäre anders gelaufen, ist es aber nicht.
Ich habe mich immer noch als Künstler verstanden. Der Job bei der VHS, das war für mich nur eine Durchgangsstation. Ich habe auf Tapetenrollen gezeichnet, weil ich keine Kohle für ordentliches Papier hatte, und nebenbei hab ich die Milch für die Esther aufgewärmt … wie lange geht das gut? Klar, ich stand oft neben mir. Und ich hatte mir angewöhnt, auf dem Heimweg immer noch beim Charlie reinzuschauen, das war eine Kneipe die auf dem Weg lag, da hat sich damals die Schickeria getroffen, auch die ganzen Intellektuellen, oder wenigsten die, die sich dafür hielten, Maler, Künstler. Wnn ich bei der VHS abgeschlossen hatte, waren die schon immer gut dabei, und da habe ich dann drei, vier Kölsch mitgetrunken, der Alkohol hat mich aufgetaut, mir die Zunge lockerer gemacht, einfach bisschen klönen, an der Welt teilnehmen, gesagt hab ich natürlich, dass ich länger machen musste auf Arbeit, irgendein Kurs, wo noch was nachzubereiten war oder Besprechung mit Numero Uno.
Gut geht das nicht besonders lang, das kann ich sagen. Ich bin immer länger geblieben, länger und länger, und noch ein Kölsch und hier noch ein Palaver, das war ja alles interessanter als Zuhause, oder mit ein paar befreundeten Künstlern ins Atelier, gucken, was die so machen, und es war ja so, ich hab drauf gewartet, dass es knallt, so richtig. Und es war im Nachhinein wohl auch einfach das Beste. Ich war mir einfach nicht sicher, was ich wollte, wer ich sein wollte, und dann ist Britta ausgezogen, hat Esther mitgenommen, von heute auf morgen. Ich habe das kommen sehen, ich will mich nicht rausreden, das wäre feige, und das bin ich nicht. War mein Fehler, ganz klar. Die Britta ist mit der Kleinen in den Norden, die hatte da oben noch erweiterte Familie, wollte sich neu aufstellen, und wir waren ja nie verheiratet, nichts Offizielles, deswegen konnte ich da auch nichts dran machen. Wenn du einmal die Vaterschaft anerkannt hast, tja, dann wissen die eben, wo sie sich die Alimente holen müssen. Aber ich will gar nichts sagen, denn es ist ja schon alles in Ordnung so. Erstmal habe ich sie machen lassen, ich dachte ja, die kommt wieder zurück, die muss sich nur etwas abreagieren, die Situation muss sich abkühlen, ich habe ihr dann hinterher telefoniert, Britta, jetzt komm doch zurück, das hat doch alles keinen Sinn, ich werde mich ändern. Am Ende hat sie gar nicht mehr abgenommen. Das ging ein Jahr, zwei Jahre, und dann wurde mir klar, das wird nichts mehr, die kommt nicht mehr zurück.
Ich habe sie besucht, das ja, beziehungsweise habe ich das versucht. Ich habe ja nie den Führerschein gemacht, also bin ich mit einem Kollegen, der in der Gegend zu tun hatte hingefahren, habe mich da absetzen lassen, ich wollte sie überraschen, hatte extra noch einen kleinen Malkasten besorgt mit Öl und Acrylfarben, weil ich dachte, vielleicht gerät sie nach dir, vielleicht hat sie auch Interesse am Malen, an Kunst. Ich hatte nichts mit Britta abgesprochen, ich tauchte da einfach am Haus auf, und sie hat mich vom Küchenfenster aus gesehen und ist rausgekommen. Nein, meinte sie nur, das ist keine gute Idee, was ich mir überhaupt rausnehmen würde, die Kleine hätte das nicht verdient, einfach so überfallen zu werden, du bist doch mittlerweile ein Fremder für sie, was denkst du dir eigentlich? Ich will nur meine Tochter sehen, habe ich gesagt, ich hatte sie ja seit gut einem Jahr nicht mehr gesehen, aber es war klar, wie es läuft. Britta hat dann gedroht, die Polizei zu rufen, wenn ich sie sehen will, muss ich das vorher ankündigen, du musst deinen Besuch ankündigen, anders geht das nicht, das Kind muss das wissen, das muss das auch wollen, und ich wusste, worauf das hinausläuft, und dann habe ich gesagt, komm, lass sein, ist gut, nimm bitte nur das Geschenk hier, das habe ich extra für die Esther gekauft. Ich hatte da nichts zu melden. Klar hat man Rechte, ich hätte sie jede Woche ein paar Stunden sehen können, oder alle zwei Wochen einen Tag, da gibt es Regelungen, aber wie hätte das funktionieren sollen? Die Entfernung, ich habe keinen Führerschein, also mit Bus und Bahn, das organisieren, das kostet ja auch alles, und dann hatte ich immer die Wochenenddienste, samstags, sonntags, das wäre einfach nicht machbar gewesen. Und dazu kam noch, dass ich mich nicht aufzwingen wollte, so habe ich mich ja gefühlt, als würde ich mich da reindrängen, und am Ende dachte ich dann, vielleicht ist es besser so, wenn alles so bleibt, wie es ist.
Ich habe einfach weitergemacht. Am Anfang merkst du das gar nicht, du gehst arbeiten, machst dein Ding, ich hab weiter gezeichnet, meistens für mich selbst, Kladde um Kladde voll, ab und zu mal paar Wände in Kneipen bemalt, der große Löwenkopf damals im Pub zum Beispiel, der ist von mir, gab immer ganz gutes Geld dafür, jetzt nichts Wildes, aber immerhin, und alles bar auf die Hand. Getrunken habe ich ja schon immer gerne, ich habe halt darauf geachtet, dass es nie zu viel wurde, das ging ja auch gar nicht, allein schon wegen der Arbeit, da konnte ich jetzt nicht vollkommen derangiert ankommen oder so. Zu dem Zeitpunkt war das noch alles relativ kontrolliert, ich hatte mich da immer gut in der Hand. Mir war auch bewusst, dass es nicht nur um mich geht, dass ich nicht einfach alles sausen lassen kann, dass ich auch irgendwo einen letzten Rest Verantwortung habe, für meine Tochter, die Esther. So nach vier, fünf Jahren, da habe ich das das erste Mal richtig gespürt, das ist nur schwer zu beschreiben, ich war allein, und das hat mir bis dahin nichts ausgemacht, aber ich wusste doch schon die ganze Zeit über, dass es früher besser war, dass ich nicht hätte allein sein sollen, das spürt man einfach … Das sind so kleine Sachen, denen man erstmal keine große Bedeutung beimisst. Wenn du mit jemandem zusammen lebst, zum Beispiel, oder wenn du eine Familie hast, dann ist immer jemand da, es sind immer Geräusche in der Wohnung. Britta ist ja früher aufgestanden als ich, ich bin eher eine Nachteule, komme morgens nur schlecht raus, aber sie ist so eine gewesen, die direkt nach dem Aufstehen schon rumgewuselt hat, was habe ich das genossen, noch ein paar Minuten im Schlafzimmer liegen bleiben zu können, ganz alleine im Bett, während sie den Kaffee aufgesetzt hat, Teller rausstellen, Fenster auf, wenn dann die Welt so langsam um einen herum erwacht. Klar, als die Esther da war, wurde das alles hektischer, aber auch da gab es diese Momente, das klingt jetzt vielleicht irgendwie albern, man hat sich zusammengehörig gefühlt, und das eigentliche Schlimme war ja, dass mir das damals gar nicht so aufgegangen ist, ich hab das damals nicht so empfunden, oder ich habe es so empfunden, konnte das aber nicht richtig einschätzen, nicht richtig wertschätzen, das war das eher eine Belastung, so habe ich das empfunden. Ich glaube, im Grunde war es wirklich so, ich hatte damals das Gefühl, das steht mir im Weg, eine Familie zu haben und alles, das ist lästig, das wird mir lästig, und um ehrlich zu sein, ich wusste überhaupt nicht, was ich hätte tun sollen. Was hätte ich denn meiner Tochter zu bieten gehabt? Wer war ich denn? Irgendsoein abgebrochener Tüppes, verhindertes Genie, und dann, und weiter? Ich glaube, man wartet ja doch immer darauf, dass irgendetwas Großes im Leben passiert, dass dich einer entdeckt oder sonstwas, aber wie soll das laufen?
Ich habe dann einen radikalen Schnitt gemacht und mich von der Idee, Künstler zu sein oder zu werden, vollkommen verabschiedet. Für mich war das am Ende nur noch eine Illusion, der ich selbst geglaubt habe, der ich viel zu lange nachgehangen habe, ich wollte mich einfach nicht mehr selbst belügen. Ich habe einfach aufgehört. Ich habe alles weggepackt, die ganzen Stifte und das Papier - nicht weggeschmissen, nur weggepackt, und es hat mir auch nicht gefehlt, ich habe es nicht vermisst, es hat sich sogar richtig gut angefühlt, da war auf einmal kein Druck mehr, nichts, was ich unbedingt erreichen musste, das war schon eine Art Befreiung für mich. Damals bin ich oft nachts spazieren gegangen, weil ich nicht einschlafen oder durchschlafen konnte, und wenn ich erstmal wach war, lag ich nur noch rum und habe gegrübelt und kein Auge mehr zubekommen. Dann habe ich mich eben angezogen und bin raus. Ist was Schönes eigentlich, nachts einfach so spazieren zu gehen, ohne Ziel, ohne Hast, alles ist ruhig und verlassen, und du bist wirklich allein, muss nicht nachdenken, kannst dich selbst ein wenig vergessen. Auch erstaunlich, was du nachts so alles sieht, so alles mitbekommst - die Bäckereien, geschlossene Kneipen, in denen aber noch geputzt wird, und manchmal hörst du auch, wie zwei miteinander vögeln … Ich hab das gerne gemacht, oft bin ich einmal durch die ganze Fußgängerzone und habe dann die große Runde gemacht, die Geschäfte und alles, das wirkt nachts anders, fast wie in einem Traum. Ich habe das immer sehr gemocht, diese Stimmung, die Ruhe. Das hat sich dann geändert, als mich ein paar Jugendliche zusammengeschlagen haben.
Ist unter der Woche passiert, ich hatte mit so etwas natürlich gar nicht gerechnet, hatte ja vorher nie irgendwelchen Ärger gegeben. Ich bin halt raus, wie meistens, so gegen zwei, halb drei, Kaiserstraße runter, da gab es damals noch ein Antiquariat, da habe ich mir immer das Schaufenster angeguckt und oft drüber nachgedacht, mir die originale Ausgabe von Unter Krahnenbäumen zu kaufen, die da lag. Weiter über den Marktplatz, da war alles ruhig und leer, am Bahnhof schließlich kehrt gemacht, es ist eigentlich eine schöne Nacht gewesen, klar, kalt, leichter Nebel, ich mag so eine Stimmung ja, nur habe ich den Fehler gemacht, eine Abkürzung zu nehmen, einen Verbindungsweg durch das Minoritenviertel, und da kam mir eben diese Gruppe entgegen … ich nehme mal an, die waren besoffen oder auf irgendwas anderem drauf, das habe ich sofort gespürt, die Aggression, die von denen ausging, ich bin direkt zur Seite, der Weg ist da ziemlich schmal, und die waren zu viert oder fünft, ich also versucht an denen vorbeizukommen, ja nicht angucken!, Blick auf den Boden, aber … als ich schon fast an denen vorbei bin, sagt der eine: Was kostet das eigentlich, einen umlegen zu lassen?, und im nächsten Moment kriege ich einen Tritt ab, fall hin, lieg da … ich habe davon, ehrlich gesagt, nicht so viel mitbekommen, ging ganz schnell, jeder durfte mal … ein Spaziergänger, der früh mit seinem Hund raus ist, hat mich dann gefunden und den Notarzt gerufen.
Ich habe lange im Krankenhaus gelegen, ein paar Wochen sicherlich. Milzriss, Nasenbein gebrochen, Rippen gebrochen, die haben sich richtig an mir verausgabt. Da haben sie natürlich nie einen für belangt, die haben sie nie drangekriegt. Ich konnte der Polizei auch nicht viel sagen, nicht viel helfen, ich habe die ja kaum gesehen. Während dieser Zeit, als ich da nur im Bett lag, mich kaum bewegen konnte, nur noch Schmerzen, da habe ich oft gedacht, es wäre besser, wenn es einfach vorbei ist. Augen zu und nicht mehr aufwachen. Das habe ich mir manchmal sogar gewünscht, dass ich nicht mehr aufwache. Aber irgendwas hält dich ja doch am Leben, oder nicht? Ich habe oft an meine Tochter gedacht, an die Esther, die hatte ich schon Jahre lang nicht mehr gesehen, ich wusste gar nicht, wie sie jetzt aussieht. Das klingt jetzt so dramatisch, aber ich dachte, bevor ich abtrete, muss ich sie wenigstens noch einmal gesehen haben. Ich habe viel falsch gemacht, viele Fehler gemacht, mich oft benommen wie ein Arschloch, viele Dinge für selbstverständlich genommen, mich einen Scheißdreck um andere gekümmert, hatte den Kopf immer nur im eigenen Arsch auf gut Deutsch, das ist mir im Krankenhaus erst so richtig klar geworden, denn da hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, wie das alles so gelaufen ist. Was alles nicht richtig gelaufen ist. Man denkt da viel zu selten drüber nach, weil man ja immer irgendwie sehen muss, dass man selbst den Kopf über Wasser hält, und dabei vergisst man das oft. Man wird richtig verschlungen, von allem, arbeiten, gerade genug Geld verdienen, so dass es reicht, klar kommen mit dem Rest. Und ich will das nicht schönreden, es lag natürlich auch an mir selbst, da war eine Menge verletzter Stolz, ich habe mich ungerecht behandelt gefühlt, mich übersehen gefühlt, und das macht etwas mit dir, das macht einen müde und gleichgültig, und ich denke, das war ich am Ende auch, müde und gleichgültig.
Als ich aus dem Krankenhaus endlich raus war, da habe ich Angst gehabt, ich habe unter ständiger Angst gelebt, vor allem, vor jedem. Ich habe diese Szene immer wieder erlebt, aus dieser Nacht, im Dunkeln, ich habe bei jedem gedacht, der war’s, der war dabei, das ist einer von denen … ich konnte gar nichts mehr, nicht mehr richtig arbeiten, mich auf eine Sache konzentrieren, nicht mehr zeichnen, schlafen ging nur mit eingeschaltetem Fernseher, es durfte auf keinen Fall dunkel sein. So ging das immer weiter, und dann habe ich mir ein Klappmesser und eine Gaspistole besorgt, die habe ich dann bei mir getragen, das Messer in der Jackentasche, die Pistole in meinem Rucksack, und ich wurde vorsichtig, wachsam, ich habe überall Gefahr gesehen, ich konnte es nicht haben, wenn in einer Schlange jemand hinter mir stand, beim Bäcker oder im Supermarkt, das ging nicht, da habe ich direkt feuchte Hände bekommen und nach dem Messer gegriffen, wurde fast panisch. Manchmal habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin einfach nur raus, weil mir dann auch die Luft wegblieb, ich konnte dann nicht mehr atmen, nichts. Ich konnte da auch mit keinem drüber sprechen, mit keinem reden, denn was hätte ich sagen sollen, und zu wem? Der HaWe sagte zu mir, ich muss mich dem stellen, stell dich der Sache, aber von was hatte der schon eine Ahnung? Das ist nicht so einfach, das ist auch nicht nachzuvollziehen, nichts daran ist logisch, das weiß man selbst, aber man kann trotzdem nicht anders. Ich habe mich dann zurückgezogen, nur zur Arbeit und sofort wieder nach Hause, und dann habe ich richtig ernsthaft mit dem Trinken angefangen, weil mir einfach nichts mehr anderes übrig blieb. Ich habe mich betäubt, ganz einfach. Ich habe mich an den Küchentisch gesetzt und jeden Abend eine Flasche getrunken: meistens Whisky. Ich habe kaum mehr was gegessen, nur hartgekochte Eier mit Selleriesalz, bisschen Käse, das war’s. Und dann ab dafür. Ich habe den Alkohol irgendwann gar nicht mehr gespürt, ich habe das einfach gebraucht, das war wie in Watte gepackt zu sein, und wenn ich richtig voll war, dann habe ich auch plötzlich keine Angst mehr gehabt, die war einfach nicht mehr da. Ich bin dann durch meine kleine Wohnung gegangen, so, als würde ich spazieren gehen, habe da meine Runden gedreht, Küche, Schlafzimmer, Diele, Bad, immer wieder, wahrscheinlich habe ich jeden Abend ein paar Kilometer abgerissen, aber es hat sich gut angefühlt, es hat sich so angefühlt, als wäre ich wieder normal, ein normaler Mensch.
Ich habe ja gedacht, natürlich, so ist es ja immer, man denkt immer, dass man das noch unter Kontrolle hat. Man glaubt auch, man aufhören, wenn man will, noch ein paar Tage, noch ein paar Wochen, bis zum Wochenende, zum nächsten Ersten, dann geht’s wieder, dann höre ich auf. Die Arbeit, da habe ich mich gerade noch so hingeschleppt, morgens eine Kanne Kaffee, und ich wusste auch, die sehen ja, dass deine Hände zittern, dass du gehst wie ein alter Mann, aber gesagt hat nie einer was, und ich habe ja auch alles immer noch hinbekommen, irgendwie ging das dann, langsam, aber es ging. Ich wusste aber auch, so geht es nicht weiter, aber was hatte ich denn sonst? Nichts, ich stand mit leeren Händen da. Das war wie damals mit Britta, ich habe drauf gewartet, dass es knallt, dass es kracht. Und eins habe ich in der Zeit auch gelernt: im Grunde hat man keine Freunde, man ist immer allein. Sich helfen, sich gegenseitig unterstützen, das macht man alles nur, wenn es bei einem selber läuft. Ansonsten kannst du da nicht viel drauf geben. Der HaWE hat sich irgendwann nicht mehr blicken lassen, weil ihm das zu viel wurde, das hat er auch gesagt, mit dir kann man ja nichts mehr anfangen. Und von der Britta hatte ich eh nichts mehr gehört, die hat alles daran gesetzt, dass es auch so bleibt, jeden Kontaktversuch mit der Esther abgeblockt, ich soll mich erstmal wieder in den Griff kriegen, da war nichts zu machen.
Am Ende, da war es so, dass ich auf der Arbeit zusammengebrochen bin. Ich bin einfach umgefallen wie ein nasser Sack, mitten auf der Treppe, vor Kursteilnehmern. Einer von denen hat den Notarzt gerufen, ich habe es ja nicht mitbekommen, ich war ohnmächtig, das hat man mir später erzählt. Wieder ins Krankenhaus, die haben mich an den Tropf gehangen, und nachdem ich wieder halbwegs klar im Kopf war, da wusste ich, das muss ein Ende haben. Nach drei Tagen haben sie mich wieder gehen lassen, und es war klar, auf Arbeit, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, die hatten ja alles mitbekommen, auch vorher schon, das mit dem Saufen, dieser ganze Absturz, lang angekündigt im Grunde. Numero Uno, mein Chef, der sagte dann zu mir, so geht das nicht weiter, da muss was passieren, tun Sie etwas, ändern Sie etwas. Heute denke ich, heute weiß ich, das ist zwar schon alles richtig gewesen, er hat es gut gemeint, aber es waren doch nicht mehr als ein paar warme Worte. Sich wirklich für mich interessiert, in dem Sinne, dass er mir helfen wollte, dass er mir aus meiner Situation heraus helfen wollte, hat er nicht - er wollte nur nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn irgendetwas schief läuft, dass man ihm da etwas hätte ankreiden können. Dann hätte es geheißen, der Mann hat seinen Laden nicht unter Kontrolle, darum ging es ihm letztendlich, nicht etwa um mich.
Heute reden sie alle über professionelle Hilfe, aber was soll das sein? Jemand wie ich, der hat das nie gelernt, der hat nie gelernt, dass es in Ordnung ist, sich Hilfe zu holen. Und von wem auch? Ich wäre nie zu einem Seelenklempner gegangen, weil man das einfach nicht macht. Da wo ich herkomme, macht man so etwas nicht. Und das ist etwas, was viele nicht verstehen, das spielt eine große Rolle, wie man aufwächst, wem man vertrauen kann. Ich hätte mich nicht einfach so in einen Sessel setzen und irgendeinem Wildfremden erzählen können, dass ich meine Tochter vermisse, dass ich nicht einmal mehr weiß, wie sie aussieht, und dass ich denke, mein eigenes Leben ist sowieso nicht mehr wert, ist es vielleicht nie gewesen. Das sind Dinge, die man mit sich selbst ausmacht. Ob das richtig ist oder falsch, das weiß ich nicht, das kann ich nicht beantworten. Ich hätte es nicht anders gekonnt. Ich habe alle Schnapsflaschen, die ich noch in meiner Bude hatte, leer gemacht, ich habe sie einfach ins Klo gekippt, die Flaschen direkt ins Altglas gebracht, und von da an habe ich halt geguckt, wie ich durch jeden einzelnen Tag komme. Zuerst war’s hart, ich habe jeden Tag gekämpft, es ist ja so einfach, ein Schritt und du stehst vor dem Regal mit den scharfen Sachen, und das Zeug ist so billig, nur ein paar Euro die Flasche. Es wäre so einfach gewesen, auch weil es etwas ist, das du kennst, von dem du weißt, wie es funktioniert. Doch ich habe durchgehalten, und irgendwann habe ich dann gemerkt, es geht auch ohne, und auch die Angst ließ immer mehr nach, ich brauchte die Pistole nicht mehr, das Messer nicht mehr, dann war es einfach irgendwann vorbei, von heute auf morgen, da konnte ich auf einmal wieder atmen, wieder durchschlafen. Ich hab sogar wieder angefangen mit dem Zeichnen, nur ein bisschen, paar Skizzen, aber es hat nichts so richtig geklappt, die Finger steif, aus der Übung, und auch keine Inspiration, ich habe mich leer gefühlt, leer und müde, ausgelaugt, da war nichts mehr, kein Feuer. Das war aber gar nicht weiter schlimm, überhaupt nicht, ich habe mich nur gewundert, früher ist es einfach so auf das Papier geflossen, da hat der Stift genau gemacht, was ich wollte, ich musste da gar nicht drüber nachdenken, und dann … als verstumme man, als wäre da nichts mehr in einem, was raus will. Ich war deswegen nicht traurig oder so, nur erstaunt, wie schnell das gehen kann. Auf der anderen Seite war ich aber auch erleichtert, denn so entspannt hatte ich mich selten gefühlt, das war eine ganz neue Erfahrung, und ich denke, vielleicht war ich viel zu lange ein Getriebener, der zwanghaft weitermachen musste, ohne selbst zu merken, wie mich das immer mehr kaputt macht. Ich habe also einfach gelebt, habe versucht meine Arbeit gut zu machen, mich vom Alkohol fernzuhalten
Meine Tochter hat sich dann das erste Mal kurz vor ihrem zwölften Geburtstag bei mir gemeldet, ganz von selbst. Sie hat mich angerufen, und ich erinnere mich, ich erinnere mich sehr genau daran, weil ich erstmal nicht begriffen habe, wer da spricht, wer ist das überhaupt am anderen Ende der Leitung? Es war ein Sonntagabend, ich kam gerade vom Wochenenddienst nach Hause, und ich weiß noch, dass ich dachte, wer ruft mich denn jetzt an?, ich meine, ich hatte ja immer noch eine Festnetzleitung, die habe ich heute noch, unter der gleichen Nummer, ich denke einfach, man sollte ein richtiges Telefon haben, mit einer festen Nummer, die sich nicht so schnell ändert. Die einzigen, die diese Nummer sonst anriefen, waren Kollegen von der Arbeit, wenn Not am Mann war oder jemand ausfiel und sich der Plan änderte, aber ansonsten hat da nie jemand angerufen, noch nicht mal Werbeanrufe oder dergleichen. Ich wusste also nicht, wer da genau dran ist, als ich abnahme, und sie dann sagte, Esther, ich bin die Esther, da dachte ich, Mann, verdammt, ich erkenne meine eigene Tochter nicht mehr am Telefon, ich erkenne ihre Stimme nicht, nein, ich kenne ihre Stimme nicht! Wie sich das anfühlt. Das fühlt sich schäbig an, als hättest du es gar nicht verdient, eine Tochter zu haben. Und ihre Stimme war so schön, so weich, aber ich nehme mal an, das ist, was alle Väter denken, ihre Töchter haben natürlich immer die schönsten Stimmen … Ich stand da wie angewurzelt, ich stand da und hörte zu und sagte nur ja, ja, ja, ihren Geburtstag würde sie bei ihren Großeltern feiern, die ja immer noch hier in der Stadt lebten, zwar etwas weiter draußen, aber in der Stadt. Ob ich auch kommen möchte? Ich habe mir auf die Lippe beißen müssen, und dann habe ich schnell gesagt, klar, selbstverständlich, ich komme auch, ich komme auf jeden Fall. Sonst hätte ich angefangen zu heulen wie so ein Schlosshund. So lange nichts, und dann das, alles auf einmal. Ich konnte damit überhaupt nicht umgehen, ich konnte mit dem Saufen aufhören, ich habe die Angst besiegt, konnte wieder nach draußen gehen, ohne in Panik zu verfallen, nur meine eigene Tochter treffen, da, das … Ich wusste einfach nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich habe mir das vorgestellt, mich dabei selbst gesehen, mit meinen eigenen Augen, wie im Traum, da sieht man sich ja auch immer selbst, und dann dachte ich, das ist, was deine Tochter sieht. So wird sie dich sehen. Als was? Als am Leben Gescheiterten?
Ich habe mich wieder aufgerafft, bin wieder zur Arbeit, habe das hinter mir gelassen, den Absprung geschafft, und niemand hat mir dabei geholfen, das war ich alleine. Und ich denke, dass mit meiner Tochter, das war wirklich nochmal ein Lichtblick, der mir Kraft gegeben hat, dass sie mich nicht vergessen hatte. Ich glaube, das ist das Schlimmste, wenn du weißt, man hat dich vergessen. Der Tag kam also immer näher, ich war nervös, weil ich nicht wusste, wie sie auf mich reagieren wird. Wir hatten uns ja so lange nicht mehr gesehen, und ich hatte keine Ahnung, was sie über mich weiß, was ihre Mutter ihr über mich erzählt hat, ob sie sie geimpft hat oder nicht. Das wusste ich ja alles nicht. Wir hatten verabredet, dass wir alle gemeinsam essen gehen, bei einem Chinesen in der Innenstadt, die Großeltern hatten dort einen Tisch reserviert, Britta war auch mit dabei. Ich kann das nicht beschreiben, wie ich mich gefühlt habe … ich habe meine besten Klamotten rausgesucht, mich rasiert, alles, ich wollte manierlich aussehen, wie man so schön sagt, und dann habe ich gedacht, nee, komm, lass sein, das hat ja doch keinen Sinn. Wie weiter? Was danach? Das hat mich fertiggemacht, dass ich da selbst keine Zukunft gesehen hab, für mich, für die Esther, also eine gemeinsame Zukunft, das erschien mir alles vollkommen ausweglos, hoffnungslos, und das habe ich auf einmal gespürt, richtig gespürt, körperlich, und dann habe ich mich aufs Bett gesetzt und habe geweint, richtig aufgelöst war ich, richtig traurig, das gebe ich gerne zu, ich habe alles rausgelassen. Ich denke, ich war einfach überfordert, weil das natürlich die letzte Möglichkeit war, alles wieder geradezurücken, mich überhaupt irgendwie zu erklären, und das war ein wenig viel, ein wenig viel auf einmal, denke ich … aber danach, also nachdem alles raus war, der ganze Frust undsoweiter, da habe ich mich besser gefühlt, viel besser, und dann bin ich doch hin, ich bin doch noch hingegangen.
Ich kam als Letzter in dem Restaurant an, sie saßen ganz hinten, neben einem der Aquarien, ich musste durch zwei große Räume, alle Tische voll besetzt, laut, die Leute am lachen, am trinken, und dann stand ich da, sie saßen alle da, aßen schon die Vorspeise … das Seltsame war, dass ich zuerst die Britta angesehen habe, ich habe zuerst sie gesehen, sie sah gut aus, wirklich, andere Frisur, glatte Haut, sie hatte auch abgenommen, ich stand da und wusste erstmal nicht, was ich sagen sollte, bis Britta dann sagte, setz dich doch. Ich war perplex, ich habe mich gesetzt, an den letzten freien Platz am Tisch, und dann erst habe ich die Esther bemerkt, sie saß direkt neben mir … ich habe sie gar nicht erkannt, sie sah ganz anders aus, hochgeschossen, schlank, fast erwachsen, das Gesicht, ich kannte sie ja nur als Kind, ich hatte sie so in Erinnerung behalten, als kleines Kind, so hatte ich sie das letzte Mal gesehen, und jetzt … ich habe ganz leise Hallo gesagt, und da hat sie gelächelt, und dann war das Eis gebrochen. Ich glaube, es war für alle eine komische Situation, und wir haben das Beste draus gemacht. Brittas Eltern haben sich an small talk gehalten, wir haben nur über banale Dinge gesprochen, das Wetter, das Essen, sowas halt, und Britta hat ein wenig moderiert, wenn das Gespräch mal ins Stocken geriet … aber eigentlich habe ich die ganze Zeit über Esther beobachtet, und ihr Großvater meinte dann, dass sie mir ja schon sehr ähnlich sehe, jetzt, wo wir so nebeneinander sitzen, da fällt ihm das erst richtig auf. Nach dem Essen habe ich noch kurz mit Britta sprechen können, und da meinte sie, dass Esther von allein auf die Idee gekommen ist, mich einzuladen, sie habe schon eine ganze Zeit lang immer wieder nach mir gefragt, nach ihrem Vater, warum und wieso ich nicht da bin undsoweiter. Mir standen Tränen in den Augen, und dann habe ich mich bei Britta entschuldigt, das kam einfach so aus mir raus, ich habe gesagt, es tut mir leid, alles tut mir leid, ich habe es nicht besser gewusst, aber das kann es ja auch nicht sein, ich will mich gar nicht rausreden. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie das irgendwie versteht oder dass sie meine Entschuldigung annimmt, aber sie meinte, wir sollten einen Weg finden, wie wir damit umgehen wollen, weil sich bei ihr in Zukunft einiges ändern wird, sie plane wieder zurückzuziehen, und dann stelle sich eben auch die Frage, wie man da zusammenfindet, auch mit Esther.
An dem Tag, da habe ich begriffen, dass ich eigentlich bis dahin immer nur in der Vergangenheit gelebt habe. Zu lange, viel zu lange habe ich starr und stumpf an einer Vorstellung festgehalten, die mich im Grunde nur unglücklich gemacht hat. Ich habe mir selbst im Weg gestanden, und das habe ich endlich eingesehen, einsehen müssen. Mir fiel das auf einmal wie Schuppen von den Augen, ich habe wieder klar gesehen. Ich wusste auch, jetzt ist eine Zukunft möglich, ich wusste zwar nicht, wie genau die aussehen wird, aber ich wusste wenigstens, dass es eine gibt, dass die Möglichkeit besteht. Es hat noch zwei Jahre gedauert, bis Britta und Esther wieder ganz hier waren, doch das Warten hat mir nichts ausgemacht. Wir haben uns dann Zeit gelassen, ich habe mich erstmal mit Britta ausgesprochen, das war mir wichtig, ich habe ihr alles erzählt, die Sache mit der Schlägerei, das Krankenhaus, das Saufen, was das mit mir gemacht hat, wie ich so abgestürzt bin … Ich glaube, ich habe selbst versucht, zu verstehen, warum es so gekommen ist, wie es dann gekommen ist, und das hat gut getan, das loszuwerden, mich jemanden mitteilen zu können, und es ist ja auch so, ich habe die Britta irgendwann einmal geliebt, vielleicht tue ich das immer noch, vielleicht bin ich einfach nur kein guter Partner, nicht für Beziehungen dieser Art gemacht, aber das ist schließlich mein Problem, das ist ja ganz allein mein Problem. Wir haben vereinbart, dass wir es mit Esther langsam angehen, neues Umfeld, neue Schule, jetzt noch der leibliche Vater dazu, das erste Mal so nah, wir wollten sie nicht überfordern, das wäre nicht gut gewesen.
Wir haben schon eine Zeit gebraucht, um uns aneinander zu gewöhnen. Esther war ja ein ganz anderes Kind, als ich es gewesen bin, viel aufgeweckter und zugänglicher, viel spontaner, auch geselliger. Sie kann auf die Menschen zugehen, mit ihnen sprechen, sie ist überhaupt nicht schüchtern. Das war eine Erfahrung, sie so kennenzulernen, weil sie so ganz anders war, das war schön zu beobachten. Wir haben viel zusammen unternommen, sie mag Tiere sehr gerne, mochte sie schon immer, deswegen sind wir oft in den Zoo nach Köln oder ins Freigehege nach Troisdorf, haben da Stunden verbracht, die Tiere beobachtet. Wir konnten auch gut zusammen schweigen, jeder hing dann seinen eigenen Gedanken nach, wir mussten nicht ständig miteinander reden, das war von Anfang an so, und ich fand das angenehm, denn so hat jeder noch seinen eigenen Freiraum, die Zeit wurde einem nie lang. Sie war ja schon ein Teenager, und ich wollte mich auch nicht aufdrängen, es hat sich ganz organisch entwickelt, ganz langsam. Am Anfang hatte ich immer noch die Angst, dass der Kontakt wieder abbricht, dass sie sich aus meinem Leben verabschiedet, und ich glaube, sie hat das auch mitbekommen, alleine schon daran, wie ich auf sie reagiert habe, wie ich mich gefreut habe, wenn wir uns sehen. Aber sie hat mir diese Angst genommen, sie musste das gar nicht aussprechen, ich habe das gespürt. Ich habe ihr irgendwann mal ein Exemplar von Bulfro mitgebracht, ich wollte sie überraschen, weil mir das natürlich immer noch am Herzen liegt, und da sagt sie, das kenne sie schon. Britta hatte ihr das schon vor Jahren gezeigt, sie hatte das schon gelesen, sie kannte Bulfro, sie kannte die Geschichte. Ich konnte erstmal gar nichts sagen, mir hat es wirklich die Sprache verschlagen, das hätte ich nie erwartet. Das war das eine Mal, wo ich wirklich in Versuchung gekommen bin, etwas zu trinken, einen kühlen Weißwein oder ein dunkles Weizen, einfach, weil ich so glücklich war, das war so ein perfekter Moment, da dachte ich zuerst, Alkohol würde diesen Moment noch perfekter machen, aber dann wurde mir klar, nein, der kann einfach nicht mehr perfekter werden, das geht gar nicht, ich wollte das alles in mich aufsaugen, jede Sekunde, ich dachte, ich will mich an jedes Wort erinnern, an den Blick meiner Tochter, als sie mir das erzählt hat, an alles, jeden einzelnen Augenblick, ich will mich daran genau erinnern können, und dafür brauche ich einen klaren Kopf und keinen Alkohol. Ich habe mir dann ein Tonic-Water mit Eiswürfeln und Zitrone bestellt und meiner Tochter einen großen Eisbecher. Auf Bulfro!, habe ich gesagt und das Glas in einem Zug leergetrunken.
Ich habe dann in der Folgezeit gesundheitlich ziemlich abgebaut, das Herz und auch neurologische Probleme, ich habe immer wieder richtig heftige Migräneanfälle bekommen, die Ärzte meinen, das sind noch Spätfolgen von der Schlägerei, im Grunde nicht heilbar, also musste ich in Erwerbsminderungsrente. Die Arbeit vermisse ich nicht, überhaupt nicht, nur das volle Gehalt fehlt, natürlich fehlt das Geld, andererseits brauche ich ja auch fast nichts mehr, ich gebe kaum was aus, bisschen was für Lebensmittel, paar neue Klamotten, Schuhe, den Rest spare ich, und davon lade ich meine Tochter ein, wenn sie in der Stadt ist. Sie hat diesen Sommer ihr Abitur gemacht und studiert jetzt Veterinärmedizin in Gießen, sie wohnt auch da, aber wir treffen uns regelmäßig, und dann versuche ich ihr schon etwas zu bieten, Ausstellungen, Museen, Ausflüge, oder wir setzen uns einfach zum Italiener und sie erzählt mir, was so alles los ist in ihrem Leben. Bei ihr läuft es gut, und ich will ihr einfach der beste Vater sein, der ich sein kann, nach all dem ist das doch das Mindeste, oder? Nur hatte ich auf einmal so viel freie Zeit an der Hand, ich wusste zuerst gar nicht, was ich tun sollte. Also habe ich eine kleine Routine entwickelt, damit ich nicht rammdösig werde und versacke: ich stehe früh morgens auf, trinke Kaffee, danach gehe ich in die Stadt, dreh meine Runde, setze mich in die Bücherei und lese, ich lese alles Mögliche, worauf ich eben gerade Lust habe, Tageszeitungen, Magazine, schaue mir Kunstbücher an, die neusten Comics, gehe am Stadtmuseum vorbei, trinke dort noch einen Kaffee, koche mir zu Hause was Fettarmes, ich muss auf meine Ernährung achten, dann schaue mir ein paar alte Filme an, bis es Zeit wird um ins Bett zu gehen. Es ist seltsam, aber ich schlafe so gut wie seit Jahren nicht mehr, ich habe eigentlich noch nie so gut geschlafen wie jetzt, wie heute. Ich denke, das hat mit den Umständen zu tun, dass ich mit Esther so gut klarkomme, dass ich das mit Britta geklärt habe, vielleicht kann man sagen, ich habe meinen Frieden mit allem gemacht. Ich kann mich nicht beklagen. Ich zeichne sogar wieder regelmäßig, ich habe meine Kladde immer dabei, wenn ich in der Bücherei oder im Cafe sitze, dann vertreibe ich mir eben so die Zeit, beobachte die Menschen, zeichne an meinen Skizzen, langsam kommt alles wieder, ich denke, das verliert man auch nicht, Talent verliert man nicht, nur das Handwerk, die Übung, das kommt erst wieder nach und nach. Man kann es ja nicht erzwingen, man kann nichts erzwingen. Und dadurch, dass ich wieder angefangen habe, so kleine Sachen zu zeichnen, hatte ich mich wieder an den HaWe erinnert, und dann bin ich nach langen Jahren mal wieder zu ihm ins Atelier. Ich wollte ihn einfach mal wiedersehen, was mit ihm klönen, über alte Zeiten, was er sonst so gerade treibt, der alte Strauchdieb … war ganz schöner Ausflug, bis dahin, zur Champignonfabrik, ich musste ein paar Mal Pause machen, und als ich schließlich ankam, da musste ich erfahren, dass der HaWE schon seit einem Jahr nicht mehr ist. Thrombose, und dann im Krankenhaus gestorben. Ich war richtig fassungslos, auch weil ich davon so gar nichts wusste, ich hatte ja überhaupt keine Ahnung, und ich glaube, ich war so schockiert, weil ich dachte, so ist das also, du stirbst und niemand erfährt etwas davon, du stirbst einfach und keiner kriegt was mit. Das hat mir ein paar Tage richtig zu schaffen gemacht. Ich habe dann herausgefunden, dass der HaWe auf dem Nordfriedhof liegt und habe dort sein Grab besucht, ihm ein paar Blumen dagelassen, mich da ein wenig auf die Bank in die Sonne gesetzt, es war ein schöner Tag. Manchmal geht das so, denke ich, das ist eben das Leben, man verliert sich aus den Augen, aus dem Sinn, und dann ist es auf einmal zu spät. Was man sagen will, sollte man sofort sagen. Ich habe ein altes Foto vom HaWe bei mir gefunden, in schwarz-weiß, wie er in seinem Atelier auf einem Ohrensessel sitzt, Pinsel in den Ohren und der Nase, ein Bart wie Käpt'n Ahab, das habe ich gerahmt und mir über die Spüle gehangen, so sehe ich ihn jeden Morgen, wenn ich meine erste Tasse trinke. Der HaWe ist nicht vergessen und wird auch nicht vergessen werden. Das ist mir wichtig, denn ich will auch nicht vergessen werden.
Ich nehme jeden Tag, wie er kommt. Ich habe auch darüber nachgedacht, noch einmal Kontakt mit meiner Familie aufzunehmen, aber ich glaube, da ist zu viel verbrannte Erde, diese Gräben sind zu tief, wissen tue ich es natürlich nicht, ich denke nur, momentan ist nicht der richtige Zeitpunkt, dafür braucht es einfach noch etwas, vielleicht in der Zukunft, ich kann und will nichts ausschließen. Neulich, letzte Woche erst, da habe ich mir einen kleinen Streich erlaubt, ich habe ein Exemplar von Bulfro in das Regal mit den Comics geschmuggelt, es da einfach neben die Neuausgaben gestellt, als würde es da hingehören. Noch ist nichts passiert, ich gehe immer vormittags mal vorbei, setze mich da ganz unauffällig für eine halbe Stunde in die Ecke und überprüfe, ob den jemand mitgenommen hat. Wer weiß. Vielleicht gefällt es ja einem. Auch Bulfro darf nicht vergessen werden. Nein, Bulfro wird nicht vergessen. Bulfro kommt immer wieder zurück.