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Carmen

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07.12.2004
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Carmen

Carmen

„Du hörst mir nichtmal zu! Was vergeude ich meine Zeit mit dir? Warum? Sags mir!“, schrie sie.
Die Schuhe folgten dem Bücherregal. Die Bücher selbst hatten fast freiwillig und mutig den Gang beziehungsweise Flug in die Gosse angetreten. Nun folgten schnell aufeinander Hemden, Hosen, Stuhl, Fernseher und Schuhe.
„Warum tust du mir das an? Ich hab dir vertraut oder etwa nicht? Hab ich dir nicht vertraut?“, schluchzte sie. „Aber jetzt wirst du dafür büßen!“
Sie schnappte sich die Platten.
„Halt, nicht die Platten“, sagte er, „nicht die Platten.“
Sie lief auf den Balkon zu, mehrere Platten im Arm. Ein wildes Lachen entrang sich ihrer Brust. Die Augen blitzten wie wahnsinnig.
„Ja, deine Platten“, schrie sie, „die liebst du wohl mehr als mich, deine scheiß Platten?!“
Aber er war schneller, verstellte ihr den Weg. Sie wich seinen ausgebreiteten Armen aus, lief zum Fenster. Einige Platten fielen zu Boden und zerbrachen. Sie riss ein Fenster auf. Er warf sich auf sie, beide stürzten mit den Platten im Arm zu Boden. Als sie versuchte sich aufzurappeln, hielt er sie fest. Wie wild trommelte sie auf ihn ein. Eine Furie, die Haarsträhnen im Gesicht, Tränen auf den Wangen:
„Schlag mich, schlag mich doch.“
Aber er hielt sie weiter fest. Irgendwann hörte sie auf ihn zu schlagen, setzte sich trotzig auf den Boden und hielt sich die Hände vors Gesicht. Einige Schluchzer erschütterten ihren Körper. Ruhig stand er vom Boden auf und begann die Platten zurückzustellen.
Nach einiger Zeit blickte sie auf und sah ihn wie er scheinbar seelenruhig die Platten zurückräumte. Da sprang sie auf, entriss ihm die Platten und blieb vor ihm stehen.
„Hör mir zu: Wenn du mich liebst, dann schmeiß jetzt die Platten da runter.“
„Oder?“
„Oder behalt die Platten und ich hau ab.“
Er wandte den Blick ab. Sie schrie:
„Schau mir in die Augen, du sollst mir in die Augen sehen!“
Sie packte ihn am Kinn und wollte seinen Kopf drehen. Doch er wehrte sich. Ihre Fingernägel gruben sich tief in seine Wangen. Ruckartig wendete er den Kopf und schaute ihr in die Augen. Seine Augen waren wild, sie brannten. Als er ihr in die Augen sah, wich sie ein paar Schritte zurück.
„Dann geh doch.“, zischte er. Seine Stimme wurde lauter.
„Verschwinde, hau doch ab.“ Schließlich schrie er ihr ins Gesicht:
„Geh, du Schlampe, geh weg, lass mich in Ruhe.“
Abrupt wendete er sich ab und wandte ihr den Rücken zu. Er fing wieder an scheinbar seelenruhig die Platten zurückzustellen. Wie Babys hob er die zerbrochenen Platten auf, steckte sie in ihre Hüllen und stellte sie zu den heilen.
Ihr sackten die Beine unterm Körper weg. Wie eine Leiche, im Gesicht weiß wie Alabaster, fiel sie auf die Knie und auf den Boden. Ihr Gesicht war grotesk anzuschauen, die übermäßig aufgetragene Schminke hatte sich mit den Tränen vermischt und hatte sich wie ein schwarzer Trauerschleier über ihre Wangen gelegt.
„Schick mich nicht fort, bitte schick mich nicht fort.“, schluchzte sie.
Aber er schwieg und beschäftigte sich weiter mit den Platten. Sie stand auf, schluchzend, nahm sich Mantel und Handtasche und wankte aus der Wohnung. Vom Balkon aus beobachtete er sie, wie sie auf dem Mittelstreifen die Straße verfolgte und langsam hinter einem Haus entschwand. Langsam drehte er sich zum Plattenspieler und legte eine Platte auf. „Nothing will go wrong“ von Slut. Ebenso langsam, nicht träge, sondern wie in Zeitlupe, legte er die Nadel auf eine bestimmte Stelle und die Stimme aus den Lautsprechern klagte und jaulte:“You‘re so easy to love, smile away my pain, you‘re so easy to love, make it right again and again and again, easy to love, always been too late, you‘re so easy to love, you can make me wait and wait and wait.“
Langsam stand er auf ging zu den Platten, nahm eine in die Hand, wog sie ab, ging zum Balkon und ließ sie runter segeln. Schneller schritt er zurück, packte mehrere Platten zugleich, jagte zum Balkon zurück und schmiss sie von sich. Er raste. Erst als alle Platten zerbrochen auf der Straße lag und der Plattenspieler dazu, hielt er inne. Dann jagte er aus der Wohnung, ging in den nächsten Laden und kaufte sich eine Flasche Whiskey. Zurück auf der Straße nahm er einen tiefen Schluck. Dann rannte er los, rannte durch Straßen und vor Autos, ohne auf sie oder die Ampeln zu achten. Aber keines der Autos erlöste ihn. Irgendwie, irgendwo, irgendwann brach er einfach zusammen. Auf dem Rücken liegend, irgendwo in der Stadt, erinnerte er sich der Whiskeyflasche in seiner Hand. Er schraubte den Verschlussdeckel auf und soff nach und nach die Flasche leer. Dann rappelte er sich auf die Beine. Als er die Sterne am Himmel anschauen wollte, knallte er wieder hin.
Nach langer Zeit raffte er sich auf und torkelte nach Hause, auf den Lippen „Easy to love“. Als er dort ankam, hockte eine Gestalt auf den Stufen und schlief. Langsam, aber immer schneller und zugleich sehr leise begannen ihm die Tränen über die Wangen zu kullern. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sein ganzer Körper zitterte wie der eines Todeskandidaten auf dem Stuhl. Dann entlud sich die Spannung in einem Aufschluchzen, dem aus tiefster Kehle ein Aufschrei folgte:
„Carmen.“
Die Gestalt auf den Stufen öffnete die Augen. Er stürzte, doch sie fing ihn auf.
„Ich... ich habe alle Platten...“, er machte ein Zeichen mit der Hand. Sie nickte:
„Ich weiß.“
Arm in Arm schliefen sie auf den Treppenstufen zu ihrer Wohnung ein. Morgen würden sie sich daran machen, all die Sachen wieder hochzubringen und er würde sich ein paar neue Platten zulegen.

 

Hallo Hermes,

herzlich Willkommen auf KG.de!

Ich bin ob deiner Geschichte etwas zwiegespalten. Grundsätzlich gefällt sie mir, aber es sind noch zu viele Dinge drin, die ich unlogisch finde, so dass ich nicht sagen kann, dass ich sie gut finde.

Die Eingangszene halte ich für übertrieben. Es mag sicherlich vorkommen, dass Leute Sachen aus Fenstern und Balkonen werfen, aber ich denke, dass es doch eher Szenen aus Filmen sind.

Für mich wäre es auch interessant gewesen, was das Mädchen oder die Frau dazu getrieben hat, so zu reagieren. Natürlich funktioniert die Geschichte auch ohne dieses Wissen, aber mir persönlich hätte das besser gefallen.

Den Platten werden meiner Meinung nach zu viel Wert beigemessen. Das ist doch ziemlich unlogisch die Liebe anhand der Platten zu messen oder zu beenden. Natürlich neigt man in solchen Situationen dazu überzureagieren und sagt und tut Dinge, die nicht wirklich rational sind... aber trotzdem.

Und warum um Himmels Willen lässt der Typ das Mädchen gehen, wenn er danach total fertig deswegen ist. Kannst du mir das erklären?

LG
Bella

 

Also, eigentlich hatte ich beschlossen zu meinen Geschichten keine Kommentare zu schreiben, damit sie nicht von den Geschichten ablenken. Aber ich glaube, ich muss etwas erklären: Es gibt einen Film ("Baal") mit Matthias Schweighöfer angelehnt an ein Werk von Bertold Brecht namens "Baal". Als er mit seinem Freund Eckart unterwegs ist, kommen sie in ein seltsames Haus, voll mit kranken Leuten und einer erzählt ihnen eine Geschichte. Er schließt die Geschichte mit den Worten:"Eine Geschichte muss man fühlen, man darf sie nicht verstehen. Wenn man sie versteht, ist sie nur schlecht erzählt." Das ist zwar sehr extrem, aber sehe es ähnlich. Die Menschen sollen beginnen zu reflektieren, das heißt, sie sollen meine Geschichten lesen und danach darüber nachdenken was und warum sie es so empfunden haben. Sie sollen die Geschichten fühlen, nicht verstehen. Deswegen erzähle ich nicht, warum die Frau so ausrastet, deshalb provoziere ich mit der starken Neigung des Mannes zu den Platten, deswegen ist die Eingangsszene übertrieben. Menschen handeln nicht rational, deswegen lässt er die Frau gehen, obwohl er sie liebt. Ich möchte keine vollkommenen Geschichten erzählen, denn Menschen sind nicht vollkommen. Ich will meine Geschichten nicht erklären, die Leser sollen sich die Geschichten selber erklären, denn dann fangen sie an nachzudenken und das ist der Sinn. Nicht der Konsum, sondern die Reflektion. Und weil jeder sich die Geschichten selbst erklären soll, werde ich ab jetzt auch keine weiteren Kommentare verfassen!

Hermes

 

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