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Cave canem
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass die Stille der Nacht mir Angst macht. Ihre Augen sind geschlossen und wenn man nur in ihr schönes Gesicht sieht, dann wirkt sie so, als würde sie schlafen. Doch ich kann ihren Atem nicht mehr hören. Der einzige, der in diesem Raum atmet, bin ich selbst.
Ich streife mit meinen Fingern über ihre Wangen.
Ich spüre, wie die Wärme langsam ihren Körper verlässt, wie sie neben mir liegt und langsam kalt wird. So möchte ich sie nicht in Erinnerung behalten. Diese Kälte passt nicht zu ihr.
Ich muss jemanden töten. Jemand wird ganz sicher zahlen müssen, für das, was er mir angetan hat.
Ihre Haare sind verfilzt, ihre Kleider voller Schmutz. Ich habe mit etwas Wasser ihre Haut sauber gewaschen. Wertvolles Trinkwasser habe ich verwendet, ohne jeden Sinn für Rationierung, eigentlich ein grober Fehler, aber was zählt das noch?
Das Leben ist plötzlich wertlos geworden. So wertlos wie es schon vorher war. Ohne sie.
Ich habe nicht geweint, ich weiß nicht einmal, ob ich dazu fähig bin. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals so etwas wie Trauer gespürt habe. Ich kenne den Schmerz, ich kenne die Wut, aber ich kenne keine Trauer. Dazu bin ich nicht geschaffen.
Man sagt über uns, dass wir keine Gefühle kennen. Aber man irrt sich: wir sind fähig zu hassen.
Ich kann mich nicht von ihr losreißen. Ich liege nun schon mehrere Stunden einfach nur neben ihr und streiche immer wieder über ihre Wangen.
Draußen ist es noch immer dunkel. Und unglaublich still. Früher - so sagt man in Legenden - waren Städte voller Leben und Menschen. Und man sagt, dass die Menschen anders waren, anders lebten. Dass es überall Wasser gab, überall Essen, dass man sich um einen Unterschlupf kümmern musste, dass man nicht umherzog auf der Suche nach Sicherheit, Wasser und anderen Menschen, denen man trauen konnte. Man sagt, dass es viele Sprachen gab, dass es Möglichkeiten gab, schnell große Distanzen zurückzulegen, dass Menschen fliegen konnten wie Vögel, dass sie unter Wasser atmen konnten, dass sie sich um ihre Verletzten und Kranken kümmerten, dass sie lange lebten.
Ich glaube nicht an Märchen, aber ich habe diese Gebäude gesehen, die höher waren als Berge und ich zolle den Erbauern Respekt. Doch ich glaube nicht, dass es Menschen waren.
Endlich kann ich mich von ihr losreißen. Ich stehe auf und nehme das Messer zur Hand. Blut klebt an der Klinge. Es ist ihr Blut. Ich wische es an meiner Hose sauber. Das Blut fällt gar nicht auf. Es ist eine lange Klinge und sie schimmert silbern im Mondlicht, das durch die offenen Fenster dringt.
Ich werfe einen Blick nach draußen auf die riesigen Schutthalden, die auf den Straßen liegen, ich höre, wie der Wind sein einsames Lied in den verlassenen Gassen pfeift, sehe vereinzelte Feuer in der Ferne und schließe die Augen. Die Kälte ist schrecklich, aber ich habe mich daran gewöhnt.
Wenn die Sonne aufgeht, werde ich ein Grab für sie finden. Und ich werde einen anderen getötet haben und unbegraben liegen lassen.
Ich gehe noch ein letztes Mal zur der Stelle zurück, wo sie liegt, auf ihrer Decke, in ihre Kleider gehüllt. Ich fahre ein letztes Mal durch ihr Haar und betrachte ihr Gesicht, das nun so regungslos aussieht. Ich erinnere mich an ihr Lachen und wieder spüre ich keine Trauer, sondern nur Wut. Unglaubliche, schreckliche Wut.
Man sagt über uns, dass unser Zorn ewig sein kann. Vielleicht ist das wirklich so.
Ich schlage die Decke über ihr Gesicht und lasse sie zurück, verlasse den Raum, in dem sie liegt und schleiche die Treppen nach unten. Unter meinen Stiefeln knirscht Glas. Ich trete nach draußen in die kalte Nacht hinein. Die Klinge in meiner Hand sieht aus wie reines Mondlicht.
Ich schleiche langsam voran, seine Spur ist nicht zu übersehen, getrocknetes Blut klebt am Boden, sein Gestank dringt in meine geblähten Nasenflügel. Ich werde ihn finden. Und wenn es heller wird, ist er tot.
Ich höre plötzlich ein lautes Heulen. Es fährt mir durch Mark und Bein. Und wieder diese Wut, diese unbeschreibliche Wut. Ich werde seine Fratze mit meinen bloßen Händen zerquetschen. Seine Schreie werden in meinen Ohren klingen wie Musik.
Er macht es mir wirklich einfach. Ich folge seinem Heulen, ich muss nicht einmal mehr auf die Spuren achten, die er in den dreckigen Straßen hinterlassen hat, nicht auf das Blut achten, das am Boden klebt.
Ich komme an einem Kadaver vorbei. Ein toter Hund mit offenem Bauch, der Darm wie ein langer, matschiger Schlauch auf dem sandigen Boden. Hier sind sie aufeinandergetroffen. Es war ein ungleicher, kurzer Kampf. Unser beider Kampf wird auch ungleich sein. Aber kurz sicher nicht.
Ich sehe in der Ferne die Sonne dämmern. Ja. Endlich. Meine Hände zittern in Vorfreude auf die Schlacht.
Man sagt über uns, dass wir es genießen zu töten. Manchmal ist das so.
Ich bin zu konzentriert auf meine Jagd, dass ich die Gestalten übersehe, die plötzlich aus dem Schatten tauchen. Erst als sie beinahe vor mir stehen, bemerke ich sie.
"Halt, hombre", sagt eine raue Stimme, irgendwo hinter mir.
Ich bin nicht in der Stimmung für Gespräche. "Lasst mich gehen und euch wird nichts geschehen", sage ich.
Es herrscht eine Weile lang Stille, doch niemand bewegt sich. Ich höre, wie der Bogen einer Armbrust gespannt wird. Sie sollten keinen Fehler machen.
"No" sagt die raue Stimme von vorhin. Ein alter Mann tritt näher an mich heran. Er trägt eine weite Robe, seine Gestalt ist hager, aber sehnig. Seine Haare sind weiß wie Silber. Er sieht mich lange und eindringlich an. "Ich kenne dein Gesicht", sagt er schließlich. "Männer wie dich gibt es nicht viele. Aber ihr Ruf eilt ihnen voraus. Du trägst das Zeichen der rosa negra, no?"
"Dann weißt du auch, wozu ich fähig bin, alter Mann", sage ich.
Er nickt. "Si", sagt er. "Yo sé. Aber er war einer von unseren Leuten."
"Das spielt keine Rolle", sage ich.
"Wir werden Ihn einsperren", sagt der alte Mann. "Wegsperren, damit er keine Gefahr mehr ist."
"So wie ihr ihn heute Nacht weggesperrt habt?" frage ich, mit Zorn in der Stimme.
Wieder zerreißt dieses Heulen die Nacht. Dieses Mal klingt es menschlicher.
Der alte Mann starrt auf den Boden. "Jesus", murmelt er.
"Lass es mich zu Ende bringen", sage ich. Ich berühre seine Schulter mit meiner freien Hand. Die andere umklammert noch immer das Messer.
Dann sieht der alte Mann mich an und ich sehe in seine tiefen, blauen Augen. "Este animal", sagt er dann, "ist mein Bruder."
Ich wende meinen Blick ab und gehe an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Niemand hält mich auf. Es wird Zeit. Langsam wird es hell.
Aber es wird ein kalter Morgen.
Ich finde ihn, als er mitten auf einem großen Platz am Boden liegt. Er windet sich und schreit vor Schmerzen. Man sagt, die Verwandlung ist sehr schmerzhaft. Aber heute noch wird er eine ganz neue Dimension von Schmerz kennen lernen.
Als die ersten Sonnestrahlen auf sein Fell treffen, schreit er auf, er windet sich am Boden, krümmt sich zusammen und schlägt wild um sich. Sein Fell ändert die Farbe, aus dem tiefen Schwarz wird ein helles Braun. Ihre kann sehen wie seine Haare kürzer werden und schließlich ganz verschwinden, alles begleitet von seinen ohrenbetäubenden Schreien. Seine spitzen Ohren flachen sich ab, werden wieder kleiner und runder. Seine Zähne schrumpfen, seine
Finger wachsen und seine Kehle wird wieder menschlich. Er schreit nun wie zahlreiche andere, die ich schreien hörte. Er wird noch viel mehr schreien.
Ich halte mich im Hintergrund, versteckt hinter einer großen Schutthalde und schließe die Augen. Ich erinnere mich an gestern Nacht. Ich erinnere mich daran, wie sie noch lebendig war. Wie sie noch atmete. Wie sie noch lachte. Wie sich ihre Augen bewegten, ihre Hand, wie ihre Lippen sprachen.
"Wir könnten doch unser Nachtquartier in einem dieser Gebäude aufschlagen", sagte sie. "Dann können wir vielleicht sogar ein Feuer machen. Und etwas kochen. Etwas Warmes."
Ich nickte. "Gut", sagte ich. "Suchen wir uns einen Unterschlupf für die Nacht."
Wir bezogen einen Raum im zweiten Stock eines großen Gebäudes. Die Steinmauern waren fest und boten einen guten Schutz vor dem kalten, schneidenden Wind. Bald würde es Schnee geben.
Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen. "Ich hole Holz für etwas Feuer", sagte ich.
Ich fand Holz und kehrte zurück zu unserem Unterschlupf. Da roch ich seinen Gestank zum ersten Mal, ich roch den scharfen Geruch seines Urins, der sein Revier markierte. Ich ließ das Holz fallen und begann zu laufen. Wieder und wieder schrie ich ihren Namen.
Und als sie antwortete, da war ihr Schrei voller Panik und Entsetzen. Und voller Schmerz. So habe ich ihre Stimme nie gehört.
Ich zog meine Schrotflinte.
Ich nahm die Treppenstufen nach oben, zwei, drei auf einmal. Und ich hörte sein Knurren, ich hörte sein Bellen und als ich ihn sah, war es zu spät. Sie schrie auf, als er in ihren Arm biss. Er schleuderte sie herum, so als hätte sie kein Gewicht. Und zum ersten Mal in meinem Leben, war ich starr vor Schreck, unfähig mich zu bewegen. Ich wusste, ich war zu spät.
Der Knall meiner Schrotflinte explodierte in seiner haarigen Brust. Er riss ihn zurück, Blut spritze durch den ganzen Raum. Es war auch ihr Blut dabei. Er wurde gegen die Wand geschleudert. Doch einen Menschenwolf kann man nicht töten. Nicht, wenn er ein Wolf ist. Doch der Schuss in die Brust hatte ihm zugesetzt. Ich stürzte mich auf ihn. Ich stieß mein Messer wieder und wieder in seinen Körper, ich durchdrang sein Fleisch, seine Muskeln, seine lederne Haut, ich schnitt seine Kehle, ich durchbohrte seinen Bauch. Er heulte und schrie, geiferte und feuchte, versuchte mit aller Kraft, mich zurückzudrängen, doch wir sind nicht wie normale Menschen.
Man sagt, im Zorn hält uns niemand auf.
Schließlich entkam er, er hechtete sich aus dem Fenster und floh, mit eingezogenem Schwanz, blutend und winselnd wie ein Gossenhund.
Und ich blieb zurück. Mit ihr.
Sie weinte und schrie wie ein kleines Kind. Ich brachte es nicht übers Herz, sie so zu sehen.
"Er hat dich gebissen", sagte ich. Meine Stimme war kalt und leer.
"Der Arm", sagte sie nur. "Trenn ihn ab. Es ist nicht zu spät. Du musst ihn abtrenen. Schnell. Trenn ihn ab!" Wie sie schrie. Ich kann nicht vergessen, wie sie schrie.
Ich beugte mich über sie. "Es ist zu spät", sagte ich.
"Nein", sagte sie, die Augen voller Tränen. Sie schüttelte den Kopf, wieder und wieder. "Nein", sagte sie. "Nein, nein, nein."
Ich umschloss mein Messer mit beiden Händen.
"Nein", sagte sie. "Nein, nein, nein." Sie flehte und bettelte.
Ich stach zu. Tief bohrte ich die Klinge in ihre Brust. Ich spürte, wie sie sich wehrte, wie sie sich aufbäumte, wie Blut aus ihrem Mund schoss und mir ins Gesicht spritzte, wie ihr Griff um meinen Hals langsam schwächer wurde und ihre Hand schließlich zu Boden glitt.
Ich setzte mich neben sie und war unfähig, mich zu bewegen. Eine volle Stunde lang waren ihre Augen geöffnet und erst als eine einsame Träne auf ihrer Wange getrocknet war, schaffte ich es, ihre Lider zu schließen.
Ich öffne die Augen.
Er liegt auf der Mitte der Platzes und ist völlig erschöpft. Gerade eben hat er sich übergeben. Rohes Fleisch hat er ausgekotzt. Fleisch, das sein menschlicher Magen nicht verdauen kann.
Ich trete auf den Platz und er sieht mich.
Er streckt die Hand aus.
"Ayudame" sagt er. Seine Stimme ist kraftlos.
Aber ich komme nicht, um zu helfen.
Dann sieht er mein Messer.
"No", schreit er. "No!"
"Weißt du, was du getan hast?" frage ich ihn, als ich ihn an den Haaren packe.
"No, no sé. Ich weiß nichts. Bitte, bitte."
Ich schleudere ihn auf den Boden zurück. Er bleibt winselnd liegen. Er riecht nach Urin und Exkrementen. Er ist völlig nackt. Wer weiß, wo seine Kleidung ist.
"Bitte", sagt er wieder. "Soy maldito. Ich kann nichts dafür."
Dann beuge ich mich über ihn. "Es ist zu spät", sage ich.
"No", sagt er, die Augen voller Tränen. Er schüttelte den Kopf, wieder und
wieder. "No", sagt er. "No, no, no."
Ich umschließe mein Messer mit beiden Händen.
"No", sagt er. "No, no, no." Er fleht und bettelt.
Ich steche zu. Tief bohre ich die Klinge in seine Brust. Ich spüre, wie er sich wehrt, wie er sich aufbäumt, wie Blut aus seinem Mund schießt und mir ins Gesicht spritzt, wie sein Griff um meinen Hals langsam schwächer wird und seine Hand schließlich zu Boden gleitet.
Als ich aufstehe, ist er tot. Und es ist vorbei.
Die Wut ist verschwunden, der Zorn ist weg. Ich spüre wieder Leere in mir.
Wie vorher. Bevor ich sie kennen lernte.
Ich trete einen Schritt zur Seite. Zwischen den Schutthalden steht der alte Mann in der Robe mit den weißen Haaren. Er starrt mich lange an, ohne ein Wort zu sagen.
Ich gehe auf ihn zu und lasse ihn nicht aus den Augen.
Er sieht mich traurig an und seufzt. "El animal", sagt er, "bist du."
Ich bleibe stehen und weiche seinem Blick aus.
"Se dicen", sagt er, "dass ihr keine Namen habt. Ist das wahr? Denn ich möchte wenigstens den Namen kennen, von dem Mann, der meinen Bruder tötete."
Ich hatte einen Namen. Sie nannte mich so. Sie gab ihn mir. Jetzt, wo sie weg ist, da ist auch mein Name wieder verschwunden.
Ich streife meinen Mantel über die rechte Schulter zurück und zeige dem alten Mann die Tätowierung, die auf meinem Deltoideus prangt.
"Catorce", liest er.
Vierzehn.
Die Stille der Nacht umfängt mich, als ich wie ein Schatten durch die Einsamkeit streife.
Ich habe sie beerdigt, habe ihr alle Riten der Alten zukommen lassen. Möge sie glücklicher sein, da wo sie jetzt ist. Und möge sie mich verfluchen, für das, was ich ihr antat.
Ich bewege mich schnell, mein Schritt federt über den harten Boden. Ich habe das Blut aus meinem Gesicht gewaschen. Und mein Leben, wenn auch leer und ohne Sinn, wird weitergehen.
Man sagt über uns, dass wir nicht sterben. Vielleicht ist das so. Vielleicht können wir nicht sterben.
Plötzlich höre ich ein Knurren hinter mir. Ich verharre im Schritt und drehe mich herum.
Ihr blicke in zwei funkelnde, zornige Augen, die mich wütend fixieren. Ich kenne diese Art von Wut. Ich kenne sie gut.
Ein großer, dreckiger Hund tritt näher auf mich zu und sein Knurren wird lauter.
Ich betrachte ihn mitleidig. Ich habe größere Monster gesehen als dich, mein kleiner, armer Freund und heute Nacht habe ich höhere Dämonen zu bezwingen als dich.
Ich gehe weiter und ignoriere das Tier. Es ist so verdutzt, das es nicht weiß, wie es reagieren soll. Schließlich folgt es mir. Ich höre seinen leisen Schritt.
Und nach einer Weile, als wir schweigend nebeneinander her laufen, da hält es plötzlich an, reißt seinen Kopf in die Höhe und beginnt zu heulen. Auch ich strecke meinem Kopf nach oben und sehe den hellen, milchigen Vollmond am dunklen Himmel.
Und das Heulen des Hundes mischt sich mit meinem Schrei.