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Charlotte
So schönes Haar wie du hätte ich auch gerne. Charlotte streicht Lara über die langen blonden Locken. Lara hat braune Augen mit einem leichten Grünstich, schwer zu definieren. Das knallgelbe Kleid mit den roten Blümchen umspielt ihren zierlichen Körper. Sie ist hübsch. Charlotte wünscht sich oft auch so schön zu sein. Vielleicht ginge es ihr dann besser. Ob Lara nicht mal wieder einen französischen Zopf wolle, der stehe ihr doch besonders gut. Charlotte beginnt, die langen Haare zu flechten. Strähne für Strähne, sie ist eine Meisterin im Frisieren. Sie übt es schließlich jeden Tag mehrmals. Nach der Schule, wenn Papa allein sein möchte. In den letzten Wochen ist das fast jeden Tag der Fall. Er ist so laut, Charlotte weiß gar nicht, warum. Sie findet außerdem, dass er komisch riecht. Seine Augen sehen aus wie Glaskugeln, glänzen wie poliert. Er deutet dann nur zur Türe und Charlotte geht sofort in ihr Zimmer.
Einmal tat sie das nicht. Sie sagte, sie habe Hunger, ob es denn nichts zu Mittag gäbe. Papa rührte sich nicht, starrte nur in die Luft. Als Mama noch da war sei alles anders gewesen, besser. Da wurde er wütend, sein Blick tat Charlotte weh, als ob er ihr Nadeln in ihr kleines Herz bohrte. Er stürzte auf sie. Ein Schlag ins Gesicht, ein fester Griff am Oberarm und sie stolperte in ihr Zimmer. Türe zu, der Schlüssel drehte sich laut im Schloss. Damals weinte Charlotte noch, sie klopfte gegen die Türe, jammerte, bettelte. Ihr Vater hörte sie aber schon lange nicht mehr. Er ertränkte seine Wut, seine Trauer, seine Verzweiflung. Am Abend sperrte er wortlos die Türe wieder auf und legte sich sofort in sein Bett. Seitdem sprechen sie nicht mehr miteinander. Papa versucht es noch manchmal, aber Charlotte scheint die Worte für ihn verloren zu haben. Das macht ihn kurz traurig, aber dieses Gefühl ertränkt er weiter.
Charlotte spricht nur noch mit Lara, der hübschen kleinen Lara. Wenn die Türe zu ist, sind sie zwei Prinzessinnen im Turm. Aber bis jetzt hat sie noch keiner gerettet. Manchmal ist Lara für Charlotte auch ein Engel, den Mama geschickt hat, um ihre Charlotte zu beschützen. Die blonden Haare sind so schön, man kann tausende Frisuren machen. Nein, es sind noch viel mehr. Charlotte muss sie alle noch entdecken. Sie erzählt Lara alles. Am Abend, wenn Papa die Türe aufschließt, gehen die beiden hinaus, sie essen, räumen auf, machen die Wäsche. Auch für Papa. Der Müll kommt in den Keller. Es gibt extra Behälter für Braun- , Weiß- , Grünglas und Dosen. Die Behälter quellen über. Papa bringt den Müll nicht mehr weg, schon lange nicht mehr.
Am Morgen schläft er lange und wenn er doch einmal schon wach ist, bevor Charlotte in die Schule geht, geht es ihm schlecht. Ein Presslufthammer ist in seinem Kopf, sein Magen rebelliert. Er ist weiß im Gesicht, um die Augen schwarz. Dünn, grau, wie der Tod. Er nimmt dann Tabletten. Alles werde gut, er sei nur momentan ein wenig krank. Wenn er sich gleich ins Bett lege, sei er aber bald wieder fit.
Papa weint viel, das hört Charlotte auch von ihrem Turm aus. Sie weiß, es ist wegen Mama und sie weiß, dass er deswegen auch so gemein zu ihr ist. Er möchte das nicht, er kann bloß nicht anders. Sie muss das verstehen.
Tränen drängen aus Charlottes Augen und rennen ihre Wangen hinab. Was ist denn los, Lotte? Lara sitzt auf dem Bett. Was los ist, willst du wissen? Warum mein Gesicht so rot ist und glüht? Papa ist wütend auf mich. Ich müsse doch mit ihm sprechen, er liebe mich schließlich. Und trotzdem flog seine Hand in mein Gesicht, und noch mal, noch mal. Ein Schubs. Die Türe ist zu. Die Tränen brennen Charlotte regelrecht im Gesicht, ihre Lippen sind salzig. Flaschengeklirr aus der Küche ist zu hören. Papa möchte seinen Kummer wieder einmal ersaufen. Aber er kommt immer wieder, wahrscheinlich ist er ein zu guter Schwimmer, er geht nicht unter.
Kannst du mir nicht helfen, Lara? Was soll ich nur tun? Lara bewegt sich nicht, keine Regung. Hilf mir doch, hilf mir doch endlich! - Nichts. Charlotte wird wütend. Eine Schere, wo ist eine Schere? Sie packt die Schere mit der einen Hand, Lara mit der anderen. Die Locken sind ab. Sie ist kein Engel mehr. Charlotte packt Lara an den Schultern und schüttelt sie. Ihre Augen klappern. Sie sitzen nicht mehr fest in den Augenhöhlen, Mama wollte sie schon lange kleben. Es scheint, als sei der Moment gekommen, in dem Lara Charlotte nicht mehr helfen kann.