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Chennai
Sie meldeten sich am Samstagmittag bei mir. Sie hatten meinen Namen in ihrer Kartei bei Hofmann Personal und fragten, ob ich kurzfristig einen Job bräuchte. Ich sagte zu. Im Gefängnis hatte ich mit Holz gearbeitet, ganz früher sogar mal eine Ausbildung zum Schreiner angefangen und eine Zeitlang in einer kleinen Tischlerei im Wedding gearbeitet, aber das war lange her und seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit.
Am Montag fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Die letzten dreihundert Meter ging ich über den Bahndamm und rauchte eine Zigarette. Ich fror und kalter Wind blies mir ins Gesicht.
In der Lagerhalle stand ich zusammen mit zweihundert anderen vor langen Tischen, die sie aufgebaut hatten. Darauf befanden sich Dutzende Behälter. Wir sollten die Briefe herausnehmen, die Schriftstücke und die Signatur kontrollieren und auf Schäden oder Verunreinigungen überprüfen. Die aussortierten Briefe kamen in eine rote Kiste, alle anderen in eine blaue, und so ging es den ganzen Tag. Ich hatte keine Ahnung, wofür das gut sein sollte, und es war mir auch egal. Ich ließ mir Zeit, aber für eine Sichtung brauchte ich kaum länger als zehn Sekunden. Die Arbeit war für anderthalb Wochen veranschlagt, und ich hatte schon nach einer Stunde genug von diesem Ort. Die vollen Kisten wurden mit Rollwagen abgeholt, um gescannt oder vielleicht auch verbrannt zu werden, wer wusste das schon? Als von einem der Wagen einmal mehrere Kisten herunterfielen und die Briefe überall auf dem Boden und zwischen den Tischen herumflogen, johlte die ganze Halle.
In der Pause stand ich in einer Ecke und sah mir an, mit wem ich zusammenarbeitete. Bis auf die Vorarbeiter-Arschlöcher, die man uns in die Halle gestellt hatte, damit uns wer auf die Finger schaute und kontrollieren konnte, ob wir auch wirklich arbeiteten, die herumschrien und uns zu einem schnelleren Pensum antreiben sollten, sprach kaum jemand Deutsch. Viele redeten Arabisch miteinander, ein paar Schwarze Männer unterhielten sich auf Französisch und an meinem Tisch arbeitete auch eine Gruppe indischer Frauen. Sie lachten, machten Scherze, und einmal sangen sie sogar, bis einer der Vorarbeiter in der Nähe vorbeiging und sie schnell damit aufhörten, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt. Eine der Frauen fiel mir auf. Wenn sie lachte, schloss sie ihre braunen Augen und es bildeten sich Fältchen auf ihren Wangen und auf der Nase.
Ich sprach sie in der Pause an. Sie stand im Flur und trank Kaffee. Sie ging mir vielleicht bis zur Schulter und hatte ihre schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden.
„Ist der Kaffee gut?“, fragte ich. Sie sah mich an. Ich deutete auf den Becher in ihrer Hand und sie lächelte. Dann zuckte sie mit den Achseln.
„Ist OK, denke ich.“ Sie sprach langsam, mit leichtem Akzent.
„OK, reicht mir“, sagte ich und suchte in meiner Hosentasche nach ein paar Münzen für den Automaten. Ich zahlte, drückte auf den Knopf und stellte einen Becher unter die Maschine.
„Wir arbeiten am selben Tisch“, sagte sie, und ich nickte.
„Stimmt.“ Ich hielt ihr die Hand hin. „Günther.“
Sie griff zu. Ich war überrascht, sie hatte einen sehr festen Händedruck.
„Lasala.“
Ich nahm den Becher, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Sie lachte und schloss dabei ihre Augen.
Am Abend saß ich in meiner Küche. Mein Rücken schmerzte vom langen Stehen und meine Knie konnte ich auch spüren. Sie hatten gesagt, dass sie uns Stühle hinstellen wollten, aber das glaubte ich erst, wenn ich welche sah.
Ich hatte meinen alten Atlas aus dem Regal geholt. Ein blaues stilisiertes Auge und rote Pfeile waren auf dem Umschlag abgebildet. Als ich einfuhr, hatte ein Freund meine paar Sachen in Kartons gepackt und in seiner Garage aufbewahrt, und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem Sofa schlafen lassen und mir geholfen, eine Wohnung zu finden. Später brach der Kontakt ab und das letzte Mal hab ich ihn vor fünf oder sechs Jahren gesehen, als er mit seiner Tochter unterwegs war. Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt und er sah mir dabei nicht mal richtig in die Augen.
Ich suchte im Inhaltsverzeichnis nach dem indischen Subkontinent, schlug die angegebene Seite auf und fuhr mit dem Finger über die Karte. Meine Fingerspitzen waren dunkel verfärbt, von der Druckertinte der Briefe. Ich wanderte über Mumbai und betrachtete den Golf von Bengalen. Weiter als bis Stettin war ich in meinem Leben nie gekommen. Auf der PVC-Tischdecke war ein Kaffeefleck und ich kratzte mit meinem Daumennagel daran herum. Indien, dachte ich. Was wusste ich eigentlich über Indien? Elefanten gab es da. Und Tiger. Den Ganges, Hindus und Vishnu. Und warm war es, viel wärmer als hier. Im Radio lief Sport, aber ich hörte nicht hin.
„Wo kommst du her?“, fragte ich. Sie strich mit ihren Fingern die Maserung ihres Bechers entlang. Ich lehnte an der Wand und beobachtete sie.
„Aus Chennai. Aber das ist lange her. In Deutschland bin ich seit über zehn Jahren.“
„Liegt am Meer, oder? Chennai, mein ich.“
Sie hob die Augenbrauen. „Du kennst die Stadt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wollte nur ein bisschen angeben. Ich war nie weiter als in Polen.“
Wir lachten. Als die Pause vorbei war, warfen wir unsere leeren Becher in den Mülleimer neben dem Kaffeeautomaten.
Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Zwei Sitzreihen vor mir saßen eine junge Frau und ihr Sohn. Zwischen ihnen standen Taschen voller Einkäufe. Ich sah Toilettenpapier, Milchpackungen und eingeschweißtes Weißbrot. Der Junge beobachtete mich durch den Schlitz zwischen den Sitzen hindurch. Ich tat, als bemerkte ich es nicht, und sah eine Weile aus dem Fenster. Dann drehte ich mich zu ihm und streckte die Zunge heraus. Er sah mich mit großen Augen an. Ich machte ein Spiel daraus und hielt seinem Blick stand. Langsam schob sich sein Gesicht hinter den Sitz und ich sah nur noch einen Schopf dunkler Haare. An der nächsten Station stiegen sie aus. Ich sah ihnen durch die Scheibe nach. Sie, mit den schweren Tüten in den Händen, ihr Junge durch dunkle Pfützen stapfend voran, durch den Regen in Richtung der Siedlungen. Wir fuhren weiter. Tropfen schlugen gegen die Scheibe und liefen in langen Schlieren daran herab. Die Augen fielen mir zu. Während ich dämmerte, immer wieder hochschreckte, wenn der Bus hielt und sich die Türen zischend öffneten, dachte ich an Lasala, die an meinem Tisch arbeitete und Briefe sortierte, viel schneller, als ich es konnte, die lachte und indische Lieder sang.
„Warum arbeitest du eigentlich hier?“, fragte sie. Wir standen vor der Halle auf dem Parkplatz. Die Sonne war zwischen den Wolken herausgekommen und es war etwas wärmer als die letzten Tage.
„Muss irgendwie meine Miete bezahlen“, sagte ich. „Und bisschen was essen will man ja auch. Früher stand ich jahrelang schwarz aufm Bau und schleppte Zement, aber die Knie machen das nicht mehr mit. Jetzt eben so was hier. Ab und an, da putz ich sogar Flure und Büros, das ist mir egal. Hauptsache, die vom Amt steigen mir nicht aufs Dach.“
„Dachte zuerst, du gehörst zu denen, so wie du aussiehst.“ Sie deutete auf die Vorarbeiter.
„Es gibt Grenzen“, sagte ich. „Aber viel Auswahl habe ich nicht, stimmt schon.“
Sie nickte und ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragte. Wir lehnten an der Wand, ich rauchte und eine Weile schwiegen wir.
„Hast du eine Frau?“, fragte sie irgendwann. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Ich schüttelte den Kopf. „Auch keine Kinder. Was ist mit dir?“
„Zwei Kinder. Mein Sohn wird bald eingeschult und meine Tochter geht schon in die fünfte Klasse. Kleine Monster!“
Wir lachten. Sie erzählte, wie sie mit ihrem Mann im Winter vor Jahren nach Berlin gekommen war. Sie hatten einige Monate zusammen mit der Tochter in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Hellersdorf gelebt. Die Heizung fiel nach zwei Wochen aus und als der Hausmeister nichts dagegen unternehmen wollte, war ihr Mann drauf und dran gewesen, dem Kerl an den Hals zu gehen.
„Er wollte draußen auf ihn warten, mit einem Besen in der Hand, verstehst du?“ Sie lachte und ich lachte auch, aber ich verstand, dass es nicht einfach gewesen war. Ihr Mann hieß Bharat. Er arbeitete als Pflegehelfer in einem Altenheim. Ich versuchte, mir vorzustellen, was er dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mit seiner Frau in der Mittagspause Kaffee aus kleinen Plastikbechern trank und meinen Blick nicht von ihr nehmen konnte. Vielleicht wusste er es? Vielleicht hatte Lasala von mir erzählt. Von dem großen Deutschen, der nicht zu den Vorarbeiterschweinen gehörte.
„Du würdest ihn mögen“, sagte sie.
„Ganz bestimmt! Ich könnte euch beiden ja mal ein paar Ecken in Berlin zeigen, das glaubt ihr gar nicht! Und danach gehen wir zusammen zu Eisern-Union!“
Es hatte zu regnen begonnen, und weil ich einen Schirm mitgenommen hatte, bot ich an, sie zu ihrer Haltestelle zu begleiten. Wir standen unter dem Wartehäuschen, eng gedrängt mit anderen, die wie wir auf den Bus warteten. Die Tropfen schlugen hart auf das Pflaster der Straße, so dass sich ein diesiger Nebel bildete, und das Prasseln der Tropfen war so laut, dass wir kaum verstanden, wenn wir etwas zueinander sagten. Ich begann, mir eine Zigarette zu drehen. Als ich fertig war, machte Lasala eine Handbewegung und nickte mir zu. Überrascht gab ich ihr meine Zigarette, holte mein Drehzeug erneut hervor, nahm ein neues Papier und krümelte etwas Tabak darauf. Ich zündete unsere Zigaretten an, erst ihre, dann meine, und dann rauchten wir und sahen staunend dem Wasser zu, das sintflutartig die abschüssige Straße entlangfloss, das Prasseln der Regentropfen auf dem Dach über uns so seltsam laut, beinahe wie in einem Traum.
Als der Bus kam und schnaufend neben uns hielt, warf Lasala die halbfertige Zigarette weg. Sie drehte sich zu mir und wir umarmten uns hastig, so wie es zwei Bekannte tun, die sich voneinander verabschieden. Sie stieg ein, ihre Kapuze über dem Kopf, und ich verlor sie aus den Augen, weil wegen der Feuchtigkeit im Bus die Scheiben beschlagen waren. Ich stand noch zwei oder drei Minuten unter dem Wartehäuschen und wartete, obwohl der Bus längst davongefahren und der Regen mittlerweile in ein harmloses Nieseln übergegangen war. Ich dachte an unsere Umarmung und daran, wie sie sich angefühlt hatte, trotz der dicken Jacken, die wir trugen, und trotz des Regens, und obwohl wir uns ja nur voneinander verabschiedet hatten, wie zwei Bekannte es tun würden.
Am späten Freitagnachmittag gingen wir aus der Halle und unterhielten uns über das anstehende Wochenende. Sie erzählte, dass Freunde zu Besuch kommen und sie gemeinsam etwas kochen würden. Auf dem Parkplatz wartete ihr Mann. Als er auf uns zukam, versuchte ich, irgendeine Art angemessenen Blickkontakts zu ihm aufzunehmen, aber er beachtete mich kaum, warf mir nur einen flüchtigen Blick zu. Lasala und er umarmten sich. Ich stand daneben und kam mir mit einem Mal vor wie ein Idiot. Peinlich berührt vergrub ich die Hände in den Hosentaschen. Ich hatte das Gefühl, dass alle, die aus der Halle an uns vorbeikamen, herübersahen und Bescheid wussten. Lasala löste sich. Sie sagte etwas zu ihrem Mann und ich meinte, meinen Namen herauszuhören. Er streckte seinen Arm aus und wir gaben uns die Hand. Er hatte ein freundliches Gesicht und einen dunklen, buschigen Schnurrbart. Er sah sehr müde aus, hatte Schatten unter den Augen, aber er lächelte, als er meine Hand schüttelte, und ich glaube, dass es ein aufrichtiges Lächeln war. Er stellte sich vor. Dann standen wir nebeneinander und einen Moment lang sagte niemand etwas. Lasala fragte, ob ich nicht auch zum Essen kommen wolle, und ich dachte zunächst, dass ich mich verhört haben musste. Bharat verzog keine Miene, aber sein freundliches Gesicht wirkte eingefroren. Ich zögerte.
„Danke, das ist wirklich sehr nett“, sagte ich leise. „Aber ich kann heute Abend leider nicht kommen. Tut mir leid.“
Natürlich stimmte das nicht. Ich hatte nichts vor und wäre Bharat nicht hier gestanden, wer weiß? Vielleicht hätte ich mir die ganze Sache überlegt. Aber ich wollte es nicht übertreiben. Außerdem wollte ich nicht zwischen den Freunden von Lasala und Bharat sitzen und erklären, wer ich war und was mich zu ihnen an den Tisch gebracht hatte. Lasala nickte, als wüsste sie Bescheid. Sie lächelte, aber ich meinte, in ihrem Blick so etwas wie Enttäuschung zu sehen. Sie nahm meine Hand und ich erschrak. Aber nur ein wenig, denn es war auch schön, die warme, weiche Haut ihrer Finger zu spüren.
„Nächstes Mal!“, sagte sie bestimmt. Nächste Woche, ja?“ Sie ließ meine Hand los.
„Nächste Woche“, sagte ich. „Abgemacht.“
Zum Abschied winkte ich. An einer Straßenecke blieb ich stehen. Andere aus der Halle, die wie ich zum Busbahnhof unterwegs waren, überholten mich. Ich drehte mich noch einmal um, ging ein paar Schritte zurück und sah um die Ecke, aber da waren die beiden schon nicht mehr da. Später im Bus dachte ich an den kommenden Montag und rieb die Finger der Hand, die Lasala ergriffen hatte, sachte aneinander.
Am Abend bekam ich einen Anruf von Hofmann Personal. Sie sagten, dass der Auftrag früher als geplant abgeschlossen wäre, und sie meinten, ich bräuchte am Montag nicht mehr zu kommen. Ich schloss die Augen. Natürlich, die wurden pauschal für jeden Auftrag bezahlt. Wenn wir früher fertig waren, umso besser. Dann zahlten sie uns die Stunden, die wir dagewesen waren, strichen die Differenz ein und machten einen Schnitt. Und jedem von uns fehlten am Ende ein paar hundert Euro. Sie fragten, ob sie mich bei Bedarf wieder anrufen könnten. Ich legte auf.
Ich ging zu einem Kiosk drei Straßen weiter. Der Mann hinter dem Verkaufstresen gab mir ein Bier. Ich bezahlte und trank die Hälfte davon in einem Zug, dann den Rest und dann noch eine zweite Dose. Am Ende meinte der Mann in seinem Kabuff, der kein Wort gesagt hatte, jedes Mal, wenn ich eine neue Dose von ihm wollte, ob ich nicht gleich zehn Biere kaufen wolle, dann könnten wir uns einen Teil des Aufwands sparen. Ich nickte und ging. Er rief mir hinterher, wo ich denn jetzt so plötzlich hinwolle
„Am liebsten nach Chennai“, antwortete ich leise und wankte weiter. „Das ist in Indien.“
Noch lange saß ich an meinem Küchentisch und dachte an Lasala. An ihren Nachnamen, den ich nicht kannte, und an die Adresse, die ich nirgendwo finden würde.
Am Montagmorgen fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Bevor ich meine Wohnung verließ, riss ich vorsichtig mit beiden Händen die Seite des indischen Subkontinents aus dem Atlas heraus. Es war nicht schwer, die Leimbindung löste sich bereits. Ich faltete das Papier in der Mitte zusammen und steckte es in meine Jackentasche.
Ich lief die dreihundert Meter über den Bahndamm, rauchte eine Zigarette und fror. Ich ging über den Parkplatz. Er war beinahe leer, nur ein paar wenige Autos trotzten dem eiskalten Wind.
Die Halle war abgeschlossen, kein Mensch da und der ganze Ort sah mit einem Mal so anders aus, als wäre ich niemals vorher hier gewesen. Ich lehnte mich gegen die Eingangstür und blickte über den verwaisten Parkplatz und auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ich wartete. Eine Frau kam den Gehweg entlang. Einen Moment lang dachte ich, sie wäre es, aber dann ging die Frau weiter. Ich blickte in den Nieselregen, der wieder eingesetzt hatte. Noch zehn Minuten, sagte ich mir. So lange warte ich noch. Ich befühlte das Papier in meiner Tasche, während ich fror und der kalte Wind gegen meine Jacke schlug.