Was ist neu

Chill

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07.10.2015
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Chill

Jeanne wirkte ratlos. Sie saß auf der Holzbank, die Füße bis hoch auf die Sitzfläche gezogen, die Schienbeine an die Tischkante gedrückt. In beiden Händen hielt sie ihren Kaffee, um sich daran zu wärmen. Unser Küchenfenster, das nach Nordwesten rausging, lag noch im Schatten.
„Das ist doch kein Witz mehr,“ sagte Jeanne.
Auf dem Tisch vor sich hatte sie die Butterstücke aufgetürmt, alle, von allen von uns. Außen am Papier sammelte sich Kondenswasser, noch ganz fein, noch fast vereist.
„Schon zum zweiten Mal“, sagte sie.
Ich blieb im Türrahmen stehen.
So richtig wusste ich nicht, was ich sagen sollte, merkwürdig fand ich das auch, verunsichernd. Genau konnte ich nicht sagen warum, es war ja nichts kaputt, keine Teller zerschlagen, keine Zerstörungen angerichtet, aber normal war das nicht.
„Komisch“, sagte ich, mehr fiel mir nicht ein.
Jeanne sog die Unterlippe ein, hob die Augenbrauen und nickte, ohne mich anzuschauen.
Im Grunde war nichts geschehen. Jemand hatte über Nacht die Butter aus dem Kühlschrank ins Gefrierfach geräumt. Die ganze Butter, auch die kleinen Reste, die im zusammengeknüllten Papier verborgen waren.

Es konnte erst mal schon ein Witz sein. Ein paar, die betrunken nach Hause gekommen waren und einen großen Einfall hatten. Gestern konnte es noch ein Witz sein.
Ich fragte nicht, ob auch auf den anderen Stockwerken wieder dasselbe passiert war. Ich wusste die Antwort von selbst, und wenn nicht, sah ich sie in Jeannes Gesicht.
Sie stellte ihre Tasse ab.
„Unten im dritten Stock hat nicht alles reingepasst, da hatten sie Eis drin, im Gefrierfach, Vanilleeis und so. Das ist jetzt Matsch.“
„Wie die haben das rausgeholt!“
Jeanne nickte. „Irgendjemand hat hier im Haus ein Problem“, sagte sie.
So sah es aus. Das Lästige daran war, dass man nicht wissen konnte, was dahintersteckte, und dass es erst anfing. Wer wusste schon, wohin sich das noch auswuchs. Und wer immer das war, er wohnte jedenfalls auch hier, sie oder er, da konnte man nicht einfach weglaufen, ausweichen.
„Ich weiß nicht“, sagte Jeanne, „ich schließ ab jetzt jedenfalls mein Zimmer ab. Hat zwar nichts direkt damit zu tun, aber wer weiß, was als Nächstes kommt.“
Es war mitten im Semester, da gab es keinen großen Wechsel bei uns im Wohnheim. Wir überlegten, wer das sein konnte. Bei uns auf dem Stock war Carla neu. Natürlich musste mir das einfallen, dass bei uns Carla die Neue war, also diejenige, die in Frage kam, aber ich sprach es nicht aus.
Ich wollte nicht ablenken, indem ich den Verdacht auf jemand anderen führte, Elias zum Beispiel, vom anderen Flur, der auch neu war. Es war ja möglich, erst einmal damit zu beginnen, den Kreis einzugrenzen, statt sich auf jemanden einzuschießen.
„Vom dritten Stock war es dann ja wahrscheinlich keiner, bei der Sauerei mit dem Eis,“ sagte ich.
Ich schüttelte mich locker im Oberkörper und setzte Wasser für einen Tee auf.
„Carla ist schon in der Vorlesung“, sagte Jeanne.
Das wusste ich. Sie hatte heute Vorlesung um acht. Sie studierte Psychologie, jetzt gerade im ersten Semester. Wenn sie mittags nach Hause kam, erzählte sie jedes Mal sprudelnd, sie quoll geradezu über von dem, was sie am Morgen gelernt hatte. Ich mochte das, diese Neugier, diesen frischen Schwung.
„Sie sieht eigentlich ziemlich blass aus“, sagte Jeanne.
Das stimmte, Carla war blass, fast wächsern, das war mir beinahe unangenehm aufgefallen, anfangs, jetzt hatte ich mich daran gewöhnt und merkte es gar nicht mehr.
„Vielleicht ist die magersüchtig,“ sagte Jeanne.
„Nein“, sagte ich. „Glaub ich nicht.“
Ich goss den Tee auf, nahm einen Teller, legte eine Scheibe Brot darauf, holte mir aus dem Kühlschrank die Marmelade.
„Darf ich mal“, sagte ich, zog den Butterstapel auseinander und fischte mir mein Stück heraus. Ich drehte es zwischen den Fingern. „Ist doch meins?“ Jeanne grinste und zuckte mit den Schultern.
„Magersüchtig brauch ich hier jetzt nicht unbedingt“, sagte sie.
Das machte vielleicht schon Sinn, wenn man magersüchtig war, eine Art Feldzug gegen die Butter, die Butter verschwinden lassen, weil Fett der Feind war. Das Böse unsichtbar machen. Bloß wie passte dann dazu das Eis, das im dritten Stock auf dem Küchentisch schmolz?

Vielleicht hörte es einfach wieder auf. Vielleicht blieb es dabei und es konnte uns egal sein, wer es am Ende war. Das wäre so einfach, wenn das einfach aufhörte. Ich wünscht es mir und stellte mir vor, wie die Sache in ein paar Tagen nur noch eine Anekdote war, und dann bald so vorgestrig, dass man sich nicht einmal mehr davon erzählte.
Jeanne ordnete die Butterstücke vor sich auf dem Tisch der Größe nach. Ich schob ihr auch meins wieder zu.
„Wenn das mit dem Eis nicht wäre, könnte es immer noch ein blöder Joke sein“, sagte ich. „Manche besaufen sich ja auch zweimal hintereinander.“
Jeanne lachte. Sie grinste nicht nur, sondern fand es richtig lustig. Sie lachte leise und prustend. Offenbar hatte ich einen Witz gemacht. Ich schaute sie fragend an. „Egal“, sagte sie, „egal“, wedelte mit einer Hand und kämpfte gegen das Lachen, biss sich auf den Finger und wedelte weiter mit der Hand, um sich Luft zu verschaffen.

Vielleicht hatte Carla wirklich ein Problem. Ich spürte auf einmal deutlich, wie wenig ich sie noch kannte. Plötzlich fühlte ich mich unglaublich naiv.
„Es muss ja nicht Carla sein,“ sagte Jeanne.
Nein, es musste nicht Carla sein. Trotzdem sah ich sie vor mir, gerade sie. Wächsern und blass wie sie war, sah ich sie vor mir, im Nachthemd barfuß durch die Gänge schleichend, irgendetwas im Kopf, irgendetwas, das sie belastete, das sie mit sich schleppte, das unaussprechlich war, und wofür sie ein Ventil brauchte.
Carla, dachte ich, Carla, die jetzt in der Vorlesung saß und das aufsog, was sie uns nachher fröhlich erzählen würde, die dabei nicht ahnte, dass sie uns erst eine Frage beantworten musste, denn damit konnte ich Jeanne nicht allein lassen, sie musste uns antworten, Carla, die ich mochte, die mich gewonnen hatte mit ihrer Begeisterung, während sie von ihren Vorlesungen erzählte, die ganzen letzten Tage schon, und dann hatten wir uns geküsst, gestern, auf meinem Bett, und gestreichelt und noch nicht ganz miteinander geschlafen. Sie hatte nur kurz geklopft heute früh, bevor sie ging, hat sich zu mir hinuntergebeugt und mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt und gelächelt, ohne ein Wort zu sagen, ich schlief ja um die Zeit eigentlich noch, und ich war sicher, heute wenn sie wiederkäme, würde sie meine Freundin sein. Das hatte mich gefreut, ich hatte gejubelt innerlich, über Carla und mich, und auch darüber, dass es so schnell gegangen ist, dass wir so zielsicher aufeinander zusteuerten in der kurzen Zeit, und dass es diesmal kein Missverständnis war, keine bloße Einbildung.
Wenn sie nach Hause kam, würde sie mich umarmen und küssen wollen, und als ich vorhin aufstand und in die Küche ging, war ich ganz erfüllt davon, mich darauf zu freuen.
Ich begann, die Butterstücke wieder in den Kühlschrank einzuräumen. Jeanne saß dabei und schaute mir zu.

 
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Hey @erdbeerschorsch

Ich mag den Text, die Thematik gefällt mir, da hängt viel in der Luft und so wirkt der Text gut nach. Zunächst etwas Manöverkritik:

In beiden Händen hielt sie ihren Kaffee, um sich daran zu wärmen.
Kurz gestolpert, das klingt fast so, als hätte sie in jeder Hand eine Tasse. Weshalb nicht einfach "in den Händen"? Es ist ja auch eher so, dass die Tasse von beiden Händen umschlossen wird, nicht gehalten.
alle, von allen von uns.
Ich habe nur in einer 2er-WG gelebt und kenne die Gepflogenheiten grösserer WGs nicht. Besitzt in "deiner" WG wirklich jeder sein eigenes Stück Butter? Mit einer kleinen Flagge drauf? Ich musste auf alle Fälle lachen, als ich das gelesen habe.
„Schon zum zweiten Mal“, sagte sie.
Im Folgenden widmest du dich ausführlich der Frage, wer es gewesen sein könnte. Ich fand das irritierend, weil ich sehr überzeugt davon bin, dass sich die beiden diese Frage schon beim ersten Mal gestellt haben. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass sie da noch gedacht haben, es handle sich um ein Versehen?

So richtig wusste ich nicht, was ich sagen sollte, merkwürdig fand ich das auch, verunsichernd. Genau konnte ich nicht sagen warum, es war ja nichts kaputt, keine Teller zerschlagen, keine Zerstörungen angerichtet, aber normal war das nicht.
Komisch“, sagte ich, mehr fiel mir nicht ein.
Könnte es sein, dass er das etwas seltsam findet? Ich würde auf alle Fälle das "verunsichernd" streichen, das sollte gezeigt werden, nicht gesagt. Und "nicht normal" kann meines Erachtens ebenfalls gut weg.
Ich wusste die Antwort von selbst, und wenn nicht, sah ich sie in Jeannes Gesicht.
Zu krasse Abkürzung von "und wenn ich sie nicht gewusst hätte, ..." Auch die Formulierung "von selbst" statt "selbst" irrtiert. Ich würde wohl einfach nur schreiben: Ich sah die Antwort in Jeannes Gesicht.
Unten im dritten Stock hat nicht alles reingepasst, da hatten sie Eis drin, im Gefrierfach
Du lässt deine Figuren im selben Stil reden, wie du deine Sätze drechselst. Da du dabei kleine Manierismen bzgl. Satzstellung entwickelt hast, fällt das auf. Die meisten WG-Mitbewohnerinnen würden da doch einfach sagen: "die hatten Eis im Gefrierfach."
„Wie die haben das rausgeholt!“
Fragezeichen, oder? Oder dann das "wie" weg.
Wer wusste schon, wohin sich das noch auswuchs. Und wer immer das war, er wohnte jedenfalls auch hier, sie oder er, da konnte man nicht einfach weglaufen, ausweichen.
„Ich weiß nicht“, sagte Jeanne, „ich schließ ab jetzt jedenfalls mein Zimmer ab. Hat zwar nichts direkt damit zu tun, aber wer weiß, was als Nächstes kommt.“
Etwas redundant, zu viel der Erklärung. Das "hat zwar nichts direkt damit zu tun" würde ich streichen, das wirkt, als würde der Autor dem Leser sagen: "Ich weiss, dass das nicht zwingend folgt, und meine Figur weiss das auch, keine Sorge."
Es war mitten im Semester, da gab es keinen großen Wechsel bei uns im Wohnheim. Wir überlegten, wer das sein konnte. Bei uns auf dem Stock war Carla neu.
Durcheinander. Am besten dadurch gelöst, indem man den fettmarkierten Satz streicht. Das ist sonnenklar, das tun sie und der Leser kriegt das auch mit.
Ich wollte nicht ablenken, indem ich den Verdacht auf jemand anderen führte
Hehe, ein Klassiker. Du wolltest die Verdoppelung von "lenken" vermeiden und hast deshalb das unnatürliche "führen" gewählt. Laziness Stufe 1 ist überwunden, aber es wirkt immer noch lazy.
„Carla ist schon in der Vorlesung“, sagte Jeanne.
Das wusste ich. Sie hatte heute Vorlesung um acht. Sie studierte Psychologie, jetzt gerade im ersten Semester.
"Carla ist schon weg."
Ich fand den Übergang hier etwas abrupt. Ein sehr schneller Fokus auf Carla und nicht etwa auf den Umstand, dass sie es hätte sein können, sondern darauf, dass sie weg ist.
Wenn sie mittags nach Hause kam, erzählte sie jedes Mal sprudelnd, sie quoll geradezu über von dem, was sie am Morgen gelernt hatte. Ich mochte das, diese Neugier, diesen frischen Schwung.
Das fand ich an dieser Stelle etwas deplatziert, ich habe mich gefragt, weshalb der Erzähler mir das sagt (später wird dann deutlicher, weshalb).
„Magersüchtig brauch ich hier jetzt nicht unbedingt“, sagte sie.
Schöner Satz. Das ist ja in gewisser Hinsicht der Kern des angedeuteten inneren Konflikts des Erzählers, nur von einer anderen Figur ausgesprochen. Das ist gut gemacht.
Offenbar hatte ich einen Witz gemacht.
Das fand ich meh.
Ich spürte auf einmal deutlich, wie wenig ich sie noch kannte. Plötzlich fühlte ich mich unglaublich naiv.
Das Wort "plötzlich" gehört aus literarischen Texten verbannt, finde ich. Hier besonders störend.
Carla, dachte ich, Carla, die jetzt in der Vorlesung saß und das aufsog, was sie uns nachher fröhlich erzählen würde, die dabei nicht ahnte, dass sie uns erst eine Frage beantworten musste
Das kann er nicht wissen. Denn wenn sie es gewesen ist, dann ahnt sie ganz bestimmt, dass sie dazu Fragen beantworten muss.
dann hatten wir uns geküsst, gestern, auf meinem Bett, und gestreichelt und noch nicht ganz miteinander geschlafen
Würde ich streichen.
Das hatte mich gefreut, ich hatte gejubelt innerlich
Das war eine der Stellen, wo mir der Stil dann doch etwas zu manieriert vorkam, einfach weil es sich häuft und hier auch besonders seltsam klingt. Macht es den Rhythmus wirklich besser? (Ich musste an den Witz über die Frankfurter Schule denken, die einen internen Wettbewerb veranstalten, mit der Aufgabe, das Wort "sich" möglichst weit hinten im Satz zu platzieren. Einer fand es eine gute Idee, sagte: "Das hört sich gut an" und schied sogleich aus.

Der Hauptgrund, weshalb ich diese Geschichte überhaupt kommentiere (ich bin inzwischen ja eher ein inaktives Mitglied hier) liegt in folgender Überlegung: Der Text hat mich beim ersten Mal gut mitgenommen, beim zweiten Mal hat sich dann der Gedanke eingestellt, dass das ja eigentlich völlig verkehrt erzählt ist. Du beginnst mit dem rätselhaften Ereignis, führst dann Carla als mögliche Täterin ein und erzählst erst ganz am Schluss und in einer zusammenfassenden Rückblende, in welchem Verhältnis der Erzähler zu Carla steht. Erst da wird also der Konflikt des Erzählers sichtbar. Das aber verhindert, dass die Leser miterleben können, wie es dem Erzähler geht, während er mit Jeanne über Carla spricht, das wird nachgeschoben und färbt die Szene erst im Nachhinein ein. Müsste man nicht mit der Nacht mit Carla beginnen und dann in die Frühstücksszene reingehen? In gewisser Hinsicht auf alle Fälle. Aber dadurch würde der Text auch an Überraschung und Spannung verlieren. In deiner Version entlässt er den Leser mit dem Konflikt, das hat schon auch seinen Reiz. Also, das treibt mich ein wenig um und ich frage mich, welche Gedanken du dir dazu gemacht hast.

Gern gelesen!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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