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Chill
Jeanne wirkte ratlos. Sie saß auf der Holzbank, die Füße bis hoch auf die Sitzfläche gezogen, die Schienbeine an die Tischkante gedrückt. In beiden Händen hielt sie ihren Kaffee, um sich daran zu wärmen. Unser Küchenfenster, das nach Nordwesten rausging, lag noch im Schatten.
„Das ist doch kein Witz mehr,“ sagte Jeanne.
Auf dem Tisch vor sich hatte sie die Butterstücke aufgetürmt, alle, von allen von uns. Außen am Papier sammelte sich Kondenswasser, noch ganz fein, noch fast vereist.
„Schon zum zweiten Mal“, sagte sie.
Ich blieb im Türrahmen stehen.
So richtig wusste ich nicht, was ich sagen sollte, merkwürdig fand ich das auch, verunsichernd. Genau konnte ich nicht sagen warum, es war ja nichts kaputt, keine Teller zerschlagen, keine Zerstörungen angerichtet, aber normal war das nicht.
„Komisch“, sagte ich, mehr fiel mir nicht ein.
Jeanne sog die Unterlippe ein, hob die Augenbrauen und nickte, ohne mich anzuschauen.
Im Grunde war nichts geschehen. Jemand hatte über Nacht die Butter aus dem Kühlschrank ins Gefrierfach geräumt. Die ganze Butter, auch die kleinen Reste, die im zusammengeknüllten Papier verborgen waren.
Es konnte erst mal schon ein Witz sein. Ein paar, die betrunken nach Hause gekommen waren und einen großen Einfall hatten. Gestern konnte es noch ein Witz sein.
Ich fragte nicht, ob auch auf den anderen Stockwerken wieder dasselbe passiert war. Ich wusste die Antwort von selbst, und wenn nicht, sah ich sie in Jeannes Gesicht.
Sie stellte ihre Tasse ab.
„Unten im dritten Stock hat nicht alles reingepasst, da hatten sie Eis drin, im Gefrierfach, Vanilleeis und so. Das ist jetzt Matsch.“
„Wie die haben das rausgeholt!“
Jeanne nickte. „Irgendjemand hat hier im Haus ein Problem“, sagte sie.
So sah es aus. Das Lästige daran war, dass man nicht wissen konnte, was dahintersteckte, und dass es erst anfing. Wer wusste schon, wohin sich das noch auswuchs. Und wer immer das war, er wohnte jedenfalls auch hier, sie oder er, da konnte man nicht einfach weglaufen, ausweichen.
„Ich weiß nicht“, sagte Jeanne, „ich schließ ab jetzt jedenfalls mein Zimmer ab. Hat zwar nichts direkt damit zu tun, aber wer weiß, was als Nächstes kommt.“
Es war mitten im Semester, da gab es keinen großen Wechsel bei uns im Wohnheim. Wir überlegten, wer das sein konnte. Bei uns auf dem Stock war Carla neu. Natürlich musste mir das einfallen, dass bei uns Carla die Neue war, also diejenige, die in Frage kam, aber ich sprach es nicht aus.
Ich wollte nicht ablenken, indem ich den Verdacht auf jemand anderen führte, Elias zum Beispiel, vom anderen Flur, der auch neu war. Es war ja möglich, erst einmal damit zu beginnen, den Kreis einzugrenzen, statt sich auf jemanden einzuschießen.
„Vom dritten Stock war es dann ja wahrscheinlich keiner, bei der Sauerei mit dem Eis,“ sagte ich.
Ich schüttelte mich locker im Oberkörper und setzte Wasser für einen Tee auf.
„Carla ist schon in der Vorlesung“, sagte Jeanne.
Das wusste ich. Sie hatte heute Vorlesung um acht. Sie studierte Psychologie, jetzt gerade im ersten Semester. Wenn sie mittags nach Hause kam, erzählte sie jedes Mal sprudelnd, sie quoll geradezu über von dem, was sie am Morgen gelernt hatte. Ich mochte das, diese Neugier, diesen frischen Schwung.
„Sie sieht eigentlich ziemlich blass aus“, sagte Jeanne.
Das stimmte, Carla war blass, fast wächsern, das war mir beinahe unangenehm aufgefallen, anfangs, jetzt hatte ich mich daran gewöhnt und merkte es gar nicht mehr.
„Vielleicht ist die magersüchtig,“ sagte Jeanne.
„Nein“, sagte ich. „Glaub ich nicht.“
Ich goss den Tee auf, nahm einen Teller, legte eine Scheibe Brot darauf, holte mir aus dem Kühlschrank die Marmelade.
„Darf ich mal“, sagte ich, zog den Butterstapel auseinander und fischte mir mein Stück heraus. Ich drehte es zwischen den Fingern. „Ist doch meins?“ Jeanne grinste und zuckte mit den Schultern.
„Magersüchtig brauch ich hier jetzt nicht unbedingt“, sagte sie.
Das machte vielleicht schon Sinn, wenn man magersüchtig war, eine Art Feldzug gegen die Butter, die Butter verschwinden lassen, weil Fett der Feind war. Das Böse unsichtbar machen. Bloß wie passte dann dazu das Eis, das im dritten Stock auf dem Küchentisch schmolz?
Vielleicht hörte es einfach wieder auf. Vielleicht blieb es dabei und es konnte uns egal sein, wer es am Ende war. Das wäre so einfach, wenn das einfach aufhörte. Ich wünscht es mir und stellte mir vor, wie die Sache in ein paar Tagen nur noch eine Anekdote war, und dann bald so vorgestrig, dass man sich nicht einmal mehr davon erzählte.
Jeanne ordnete die Butterstücke vor sich auf dem Tisch der Größe nach. Ich schob ihr auch meins wieder zu.
„Wenn das mit dem Eis nicht wäre, könnte es immer noch ein blöder Joke sein“, sagte ich. „Manche besaufen sich ja auch zweimal hintereinander.“
Jeanne lachte. Sie grinste nicht nur, sondern fand es richtig lustig. Sie lachte leise und prustend. Offenbar hatte ich einen Witz gemacht. Ich schaute sie fragend an. „Egal“, sagte sie, „egal“, wedelte mit einer Hand und kämpfte gegen das Lachen, biss sich auf den Finger und wedelte weiter mit der Hand, um sich Luft zu verschaffen.
Vielleicht hatte Carla wirklich ein Problem. Ich spürte auf einmal deutlich, wie wenig ich sie noch kannte. Plötzlich fühlte ich mich unglaublich naiv.
„Es muss ja nicht Carla sein,“ sagte Jeanne.
Nein, es musste nicht Carla sein. Trotzdem sah ich sie vor mir, gerade sie. Wächsern und blass wie sie war, sah ich sie vor mir, im Nachthemd barfuß durch die Gänge schleichend, irgendetwas im Kopf, irgendetwas, das sie belastete, das sie mit sich schleppte, das unaussprechlich war, und wofür sie ein Ventil brauchte.
Carla, dachte ich, Carla, die jetzt in der Vorlesung saß und das aufsog, was sie uns nachher fröhlich erzählen würde, die dabei nicht ahnte, dass sie uns erst eine Frage beantworten musste, denn damit konnte ich Jeanne nicht allein lassen, sie musste uns antworten, Carla, die ich mochte, die mich gewonnen hatte mit ihrer Begeisterung, während sie von ihren Vorlesungen erzählte, die ganzen letzten Tage schon, und dann hatten wir uns geküsst, gestern, auf meinem Bett, und gestreichelt und noch nicht ganz miteinander geschlafen. Sie hatte nur kurz geklopft heute früh, bevor sie ging, hat sich zu mir hinuntergebeugt und mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt und gelächelt, ohne ein Wort zu sagen, ich schlief ja um die Zeit eigentlich noch, und ich war sicher, heute wenn sie wiederkäme, würde sie meine Freundin sein. Das hatte mich gefreut, ich hatte gejubelt innerlich, über Carla und mich, und auch darüber, dass es so schnell gegangen ist, dass wir so zielsicher aufeinander zusteuerten in der kurzen Zeit, und dass es diesmal kein Missverständnis war, keine bloße Einbildung.
Wenn sie nach Hause kam, würde sie mich umarmen und küssen wollen, und als ich vorhin aufstand und in die Küche ging, war ich ganz erfüllt davon, mich darauf zu freuen.
Ich begann, die Butterstücke wieder in den Kühlschrank einzuräumen. Jeanne saß dabei und schaute mir zu.