Chiyo, Pan, Luna, Julien und Gupf
An einem warmen Frühlingstag spazierte Chiyo durch die Tokioter Börse. Es war ihre Aufgabe, in einem Laugenbrezelkostüm für „Gupf’ s Brezeln“, eine in Japan enorm populäre deutsche Fastfood-Kette, zu werben. Hauptberuflich studierte sie Biologie und schrieb gerade ihre Doktorarbeit über endoplasmatische Prozesse. Doch inzwischen war ihr das Kostüm so vertraut, dass sie es selbst an der Universität nicht ablegte. Chiyo war sui generis sehr schüchtern, und so war es ihr nur recht, dass niemand ihr Gesicht sah.
„Eigentlich mag ich diesen Ort nicht“, dachte sie.
„Die Leute hier sprechen nur über den Internationalen Währungsfonds. Als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe. Die Liebe, zum Beispiel.“
Doch diese war Chiyo noch nie begegnet. So konnte sie nur hoffen, eines Tages einen Mann in einem Hühnchen- oder Muffinkostüm zu treffen und sich auf der Stelle in ihn zu verlieben.
Während sie ihren träumerischen Gedanken nachhing, vernahm sie plötzlich eine Stimme.
„Sie sind meine Rettung!“, rief ein seltsamer, verwirrt aussehender Mann, der sich seinen Weg durch die Menschenmassen bahnte.
Chiyo wich erschrocken zurück, doch sie wollte nicht unhöflich sein und fragte mit leiser Stimme: „Wie meinen Sie das?“
„Nun“, erklärte der Mann, „ich heiße Julien, mein Onkel ist der Direktor des Louvre. Ich soll in seinem Auftrag eine bolivianische Folkloregruppe und eine menschliche Laugenbrezel für die Ausstellung ‚Absurd’ finden. Gelingt mir dies nicht, so wirft er mich hinaus!“
„Ist es so schlimm?“, fragte Chiyo mitfühlend.
„Nun, die Folkloregruppe habe ich bereits unter Vertrag. Doch ich musste um die ganze Welt reisen, um endlich auf eine menschliche Brezel zu stoßen. Kommen Sie, wir haben nicht mehr viel Zeit!“
„Einen Moment nur“, unterbrach ihn Chiyo.
„Ich kann doch nicht einfach meinem Arbeitsvertrag entfliehen und ein Kostüm stehlen. Das widerspricht meiner Religion. Ich bin Buddhistin, wissen Sie.“
„Aber entspricht es denn nicht ihrer Religion, einem Menschen in Not zu helfen?“, flehte Julien.
„Und außerdem, das Kostüm borgen Sie doch nur.“
Chiyo fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits wollte sie ihren Arbeitgeber nicht betrügen, andererseits rührte sie das Elend des Mannes. So beschloss sie, ihm zu folgen. Und wenig später saßen sie im Flugzeug und reisten mit Überschallgeschwindigkeit nach Paris.
Nachdem sie im Louvre angekommen waren, wurde Chiyo der bolivianischen Folkloregruppe vorgestellt. Allerdings hatte sie weder ihr Kostüm noch ihre Schüchternheit seither abgelegt.
„Das ist Pan, der Bandleader“, erklärte Julien.
„Er trägt diesen Namen, weil er die Panflöte wie kein Zweiter spielt!“
„Ach, so gut bin ich doch gar nicht“, meinte Pan bescheiden, woraufhin Chiyo ihn sofort in ihr Herz schloss.
„Darf ich vorstellen“, rief Pan aus.
„Das ist meine Stute Luna. Sie ist mein Glücksbringer, ich nehme sie überallhin mit. Auch, wenn es in Flugzeugen, Hotelzimmern oder Ausstellungshallen sehr eng werden kann.“
„Bist ein braves Mädchen“, sagte Chiyo und streichelte die Mähne des grauen, schon etwas klapprigen Pferdes.
Pan lächelte beglückt.
Die Ausstellung wurde ein voller Erfolg. In Massen strömten die Menschen in den Louvre, um Chiyo, Pan und seine Gruppe zu sehen. Chiyo spazierte in ihrer zweiten Haut umher, während Pan seine riesengroße Panflöte in atemberaubender Geschwindigkeit und mit unvergleichlicher Meisterschaft spielte. Auch Luna mischte sich unter das Volk und ließ sich von den Kindern streicheln.
Abends saßen sie gemeinsam mit Julien unter einer Laube, führten Gespräche und genossen die lauschige Frühlingsluft. Die Menschen tranken Wein, während Luna stets einen Becher von ihrem Lieblingsgetränk, Kamillentee, erhielt. Chiyo und Pan kamen sich – bedingt durch ihre Leidenschaft für Kabuki-Theater und bolivianische Volksmusik – immer näher. Und doch trug Chiyo in Gesellschaft anderer noch immer ihr Kostüm. Pan grämte dies, obgleich er froh war, eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Diese glücklichen Stunden hätten ewig fortwähren können, hätte sich nicht ein bedeutsamer Vorfall zugetragen.
Chiyo legte ihr Kostüm immer dann ab, wenn sie allein in ihrem Hotelzimmer war. Eines Tages zog sie es wiederum aus, um sich mit Schmierseife zu waschen. Doch als sie in ihrem Morgenmantel aus dem Bad zurückkehrte, stand ein fremder Mann vor ihr.
„Was… was wollen Sie?“, stammelte Chiyo, zutiefst erschrocken.
„Gestatten, Peter Gupf“, erklärte der Fremde.
„Ich bin der Neffe des Firmeninhabers von Gupf’ s Brezeln. Ich soll in seinem Auftrag das Kostüm zurückholen. Gelingt mir dies nicht, so wirft er mich hinaus.“
„Hören Sie“, begann Chiyo, die sich wieder etwas gefasst hatte.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich das Kostüm gest… - geborgt habe. Aber ich muss hier bleiben, bis die Ausstellung zu Ende ist. Ich habe jemandem ein Versprechen gegeben!“
„Nun, wenn das so ist…“
Gupf zog nonchalant eine Pistole und richtete sie auf Chiyo.
„Sie geben mir jetzt das Kostüm, auf der Stelle!“
Chiyo dachte an die Hilfe, die sie Julien geleistet hatte. Sie dachte auch an Pan und die aufkeimende Liebe, die sie zu ihm empfand. Sollte sie beide verraten? Nein! Mit dem Mut der Verzweiflung ergriff sie das Kostüm und riss es in die Höhe.
„Nur über meine Leiche!“, rief sie aus.
Gupf lächelte sein bewährtes Schurkenlächeln.
„Sein oder Nichtsein“, deklamierte er.
„Nichtsein, keine Frage.“
In diesem Augenblick schlug eine riesige Panflöte auf seinen Kopf nieder. Gupf stürzte bewusstlos zu Boden und gab die Sicht auf Pan frei.
„Chiyo!“, rief dieser besorgt.
„Geht es dir gut? Ich wollte dich besuchen und… mein Gott, was bist du schön!“
Chiyo war so erstaunt, dass sie den überstandenen Schrecken vergaß. Noch nie hatte jemand sie schön genannt. Vorsichtig schritt sie auf Pan zu und ließ sich in seine starken Arme fallen.
Nachdem die Polizei den Bösewicht Gupf abgeführt und Julien dem Panflötenspieler überschwänglich für die Rettung Chiyos gedankt hatte, meinte dieser:
„Weißt du was, Chiyo? Wir machen einen kleinen Ausritt!“
Chiyo nickte begeistert, und so ritten sie auf Pans Stute Luna in den Sonnenuntergang.