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Cinquenta e uma oder wie ein weißer Stier
In der Rua Boavista gab es eine spärliche Kneipe mit einem schwulen Barkeeper und einer übel riechenden Toilette. Drückte man die Tür zum Klo auf, wurde man von einer sonderbar zugerichteten Seemannsfigur mit Holzbein, Kompass und Papagei auf der Schulter begrüßt, die irgendwelche Piratengeschichten auf Portuguisisch erzählte und Fados trällerte, sobald man die Spülung zog. Ich verweilte neuerdings da, weil das Bier günstig war und Dida auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Restaurant ihres Vaters bediente. So konnte ich sie ungestört verabscheuen und anhimmeln.
Mit Dida und mir verhielt es sich wie bei Sid Vicious und Nancy Spungen. Es war ein ewiges Hin- und Her. Mal putzte sie sich fein raus, beim nächsten Treffen kam sie in Lumpen oder mit langem Wintermantel, mitten im Hochsommer. Mal wollte sie übernachten, ein andermal fuhr sie gleich wieder nach Hause; sie fiel mir um den Hals und im gleichen Moment stieß sie mich fort, kauerte sich trotzig wie ein Kleinkind auf eine Parkbank und rief ein Taxi. In das Restaurant ihres Vaters sollte ich bloß keinen Fuß setzen! Sie meinte, sie fühle sich in meiner Gegenwart unwohl und schließlich komme ihr Vater öfter. Ihr Vater war Katholik. Und ich sei Heide, sagte sie. “Komm einfach nicht”, bat sie mich. Das tat ich. Dann herrschte Funkstille.
Ich saß also auf der Pirsch in der Bar mit meinem schwulen Barkeeper, trank 0,2er Sagres und guckte aus dem Fenster, wie sie ein Tablett mit Pommes frites auf die Terrasse trug, als mir Martim einen Schnaps hin stellte. “Cinquenta e uma”, sagte er und prostete mir zu. “Vertreibt den Kummer.”
Ich nickte und trank. Das Zeug schmeckte wie Seife, die man zuvor zwei Tage in Kardamom hatte einweichen lassen. Ich verzog mein Gesicht und zeigte Martim einen Daumen hoch.
“Schmeckt gut, was?”
“Erinnert mich an Underberg”, sagte ich.
“Was ist das?”
“Schnaps aus Deutschland. Kriegste in jedem Laden vorne an der Kasse.”
“Muss gut sein.”
“Ja”, sagte ich. Aber das meinte ich nicht so. Vom Schnapsbrennen hatten weder die Portugiesen noch die Underberg AG eine Ahnung. Martim hatte sogar behauptet, dass es eine Sorte gab, von der man neongrün pinkeln musste …
“Willst du noch?”, fragte er.
“Warum nicht”, sagte ich und zuckte mit den Achseln.
Er schob einen zweiten über die Theke und fing an, irgendetwas von Vasco da Gama zu faseln. Dass da Gama zweihundert Frauen und Kinder an Bord eines arabischen Handelsschiffes bei lebendigem Leibe verbrannt hatte. Samt Schiff natürlich. Es läge jetzt irgendwo auf dem Grund des Indischen Ozeans, vor der Küste von Calicut.
“Vasco da Gama war ein dreckiger Hurensohn”, schimpfte er. “Was hat Portugal jetzt? Nix große Seeflotte! Nein, Kabeljau und billige Kondome.”
“Gibt schlimmeres”, sagte ich.
“Mhm, deutsches Wetter.”
“Zum Beispiel!”
Wenn Martim getrunken hatte, wurde er zunehmend ausfällig. Ich fand das nicht schlecht. Dann begleiteten seine abgehackten, deutschen Sätze gerne portugiesische Flüche und Schimpfwörter, von denen ich immer mal wieder einige aufschnappte und selbst davon Gebrauch machte. Ständig hörte man ihn Scheiße und Dreck sagen. Alles war dann maluco. Politiker waren Marionetten irgendwelcher Aristokraten. Ich solle mich doch einmal schlau machen, sagte er. "Über den ersten Weltkrieg beispielsweise.” Die Warburgs seien zwei gerissene Brüder gewesen, die die Banken kontrollierten und während der eine in Deutschland in der Reichsbank gesessen habe und die Kriegstrommel schlug, habe der andere in den USA das gleiche getan. “Max und Moritz, hießen sie oder so”, sagte er. “Max und Paul Warburg!”
“Na, in Ordnung”, sagte ich. Ich hatte deutlich schwerwiegendere Probleme, als zwei Brüder, die einmal die Welt beherrschten. Genau genommen liefen meine Probleme da drüben vor der Theke auf und ab und hin und her und wirbelten von einem Tisch zum nächsten, drehten Pirouetten mit der schwungvollen Eleganz einer Eiskunstläuferin in Tellerrock und ägyptischen Sandalen. Wie ein zarter Vogel, pickte sie in dem klumpigen, schwarzen Portemonnaie nach Wechselgeld und reichte es dem Kunden, während ihre goldenen Haare vors Gesicht fielen und eine Strähne den Herrn am Arm kitzelten. Was für ein Glückspilz dieser alte Mann mit seinem Gehstock und seinem Fedora doch war! Wie gerne säße ich an seiner Stelle! Ihre Haare würden meinen Arm streichen und sie wäre so nah, dass ich die Schweißperlen auf ihrer Haut sehen könnte, und sie würde nach Orange und Bergamotte und Zedernholz und Patchouli riechen.
Ich stand auf und drückte mich durch den engen Gang zur Toilette. Der beißende Gestank ließ mich den Atem anhalten, während ich dem Seemann zu nickte und mir einen seiner Sprüche einprägte. Ich pinkelte. Dann zog ich die Spülung, wusch meine Hände und spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht. Der Figur schüttelte ich die knochigen Finger, die an dem Körper herunterhingen wie vertrocknete Äste an einer Trauerweide. Damit musste ich mich zufriedengeben. Ein Spielzeug, das mit dem Gebiss auf und nieder klapperte und vor sich hin sang.
Minha Guitarra é vaidosa
Mas vaidosa com encanto
“Na, komm, trink noch einen verdammten Schnaps”, hörte ich Martim sagen und er zog erneut die Flasche Beirão 51 aus dem Barschrank. Ich setzte mich wieder hin, schluckte die bittere Pille und träumte weiter davon, hinüber zu gehen und ihr gehörig meine Meinung zu sagen. Dass man so etwas nicht mache, dass wir keine Affen waren, oder Menschen, die in Pariser Vororten wohnten und unter sich blieben. Dass man miteinander kommunizierte. Sich vergab. Gerade wenn der Vater ein anständiger Katholik war. Wo bitte blieben ihre Manieren? Ein katholisches Mädchen müsse wohl der heiligen Kommunion beigewohnt haben. Ihr Vater habe ihr doch sicherlich beigebracht, höflich, zuvorkommend und ohne Sünde zu leben.
“Weißt du, bei uns läuft das anders", unterbrach Martim meine Gedanken. “Homos treffen sich und dann machen sie’s! Wir gucken nicht vorher stundenlang aus dem Fenster und hoffen, erkannt zu werden.”
“Was bleibt mir anderes übrig?”
“Könntest schwul werden.”
“Danke, aber ich verzichte. Glaube, das ist nichts für mich”, sagte ich. “Gib mir doch lieber noch so einen Schnaps.”
Er goss einen weiteren ein.
“Warum gehst du nicht einfach hinüber und sagst ihr, was du willst?”
“Sie könnte mich hassen”, sagte ich.
“Offensichtlich tut sie das ohnehin schon.”
“Ach, da kennst du dich nicht aus, Martim. Es geht hier um Frauen. Manchmal sind sie so. Wie Ebbe und Flut, wie eine Welle, die dich zuerst an den Strand spült, um dich kurz darauf wieder mit ihren Wogen in die Tiefen des Meeres zu ziehen.”
“Na hab ich ein Glück.”
“Natürlich hast du das, Martim.”
“Wir Männer sind dann eher wie Gummibänder”, meinte er. “Man zieht uns langsam auf und irgendwann ist der Bogen überspannt und wir fliegen fort.”
“Und landen irgendwo in einer Kneipe mit einem Homo als Barkeeper.”
“Exakt”, lachte er.
Martim und ich tranken an dem Abend die ganze Flasche. Der letzte Tropfen klebte am Boden der Schnapsgläser. Man hätte mit der Zunge nachhelfen müssen, um ihn zu erreichen.
“Weißt du, Martim, das Zeug schmeckt wirklich scheußlich”, gestand ich.
“Natürlich schmeckt es scheußlich! Aber es macht betrunken.”
Der Schnaps und der abendliche Atlantik-Wind, der langsam durch die Straßen schlüpfte, hauchte mir neuen Mut ein. Selbst der Seemann fing an zu plappern, weil die Tür zur Toilette auf und zu stieß. Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, sprang auf und erklärte Martim, dass ich hinübergehen und Dida gehörig die Leviten lesen würde.
Ich sagte: “Scheiße, was soll’s. Dida ist maluco und sie kann mir gar nichts befehlen!”
Martim hielt das für eine gute Idee. Ich zahlte also meine Biere und lief schnurstracks auf das Restaurant zu. Stampfte los wie ein junger Zeus in der Gestalt eines weißen Stieres auf der Suche nach Europa. Von der Straße hatte man einen besseren Überblick als aus dem mit Farblack verschmierten Kneipenfenster. Ich hatte sie auf der Terrasse ausgemacht. Sie stand unter einem Sonnenschirm, rauchte eine Zigarette und zählte Trinkgeld. Ihr Rock flippte von einer Böe nach oben und Geldstücke fielen auf den Boden. Ich sah diese Schenkel. Prächtige Schenkel, deren Haut noch ganz blass war im Vergleich zu ihren Armen und Beinen. Ihren nackten Hintern konnte ich sehen und ihren String. Sie bückte sich, um die Münzen aufzuheben, petzte die Beine zusammen und richtete sich auf, zupfte den Stoff zurecht. Ich schüttelte die Erinnerung unserer gemeinsamen Nächte ab. Nein, dieses Mal würde ich nicht darauf reinfallen.
Dann hupte ein Auto und ein anderes raste an mir vorbei und kam am Bürgersteig zum Halt. Ein roter Porsche ohne Verdeck. Ich erkannte ihn sofort. Es war ihr Vater. Ich hatte ihn hier schon einige Male zuvor nach dem Rechten schauen gesehen. Er war ein mächtiger Mann, der den Fahrersitz in all seiner Gänze füllte. Ein Samson von Mann, mit lockigen, schwarzen Haaren, der mit seinen bloßen Händen einen Löwen erdrosseln könnte. Er warf mir einen abtrünnigen Blick zu. Hatte sie’s ihm erzählt? In meiner Vorstellung zog er den Autoschlüssel ab und fuchtelte damit vor meiner Nase herum. Es war ein gewaltiges Schwert, damit er mir meinen Kopf von den Schultern schlagen konnte. Und sein Gefährt war kein Porsche, sondern ein gepanzertes Schlachtross in blutverschmiertem Harnisch. Mir stockte der Atem. Ich rührte keinen Fuß mehr. Sah bloß, wie Dida unter dem Schirm hervortrat und auf die Beifahrerseite hüpfte. Für einen kurzen Augenblick drehte sie ihren Kopf zu mir und unsere Blicke trafen sich. Natürlich hatte sie mich erkannt. Ich Vollidiot stand mitten auf der Straße und die anderen Autos umfuhren mich, als sei ich eine Verkehrsinsel. Fahrer schrien mich an. Hupten. Reifen queitschten.
“Wer ist der Kerl?", fragte ihr Vater auf Portugiesisch.
“Ach, bloß ein Verrückter.”
Die Autotür schlug zu. Der Wagen brauste die Boavista runter Richtung Pink Street.
Ich trat den Rückzug an. Martim stand fragend vor der Bar. Ich sagte nichts und schlenderte an ihm vorbei nach Hause. Ein Verrückter. Ein Heide. So hatte sie mich genannt. Verleugnet hatte sie mich, noch ehe der Hahn krähte. Immerhin hatte mir ihr Vater nicht den Kopf abgeschlagen. Die Sonne war bereits hinter den Hochhäusern verschwunden, als ich in meinem Apartment ankam und mich aufs Bett warf. In den Straßen wurden die Laternen eingeschaltet. Ich zog eine Camel aus der Schachtel und dachte nach. Ich beschloss, ich würde nie wieder zu Martim gehen.