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Claire
Für Noel
Down by the Salley Gardens
Down by the salley gardens my love and I did meet
She passed the salley gardens with little snow-white feet
She bid me take love easy, as the leaves grow on the tree;
But I, being young and foolish, with her would not agree
In a field by the river my love and I did stand,
And on my leaning shoulder she laid her snow-white hand.
She bid me take life easy, as the grass grows on the weirs;
But I was young and foolish, and now am full of tears.
W.B. Yeats
Manchmal wache ich morgens auf und frage mich, wohin sie gegangen sind. Warum sie fort sind und all meine Träume mitgenommen haben.
Manchmal frage ich mich, was ich hätte tun müssen, damit sie mich mitnehmen. Was Claire dazu gebracht hätte, bei mir zu bleiben. Und dann muss ich weinen, heute noch. Ich sehe zum Wald hinüber und wünsche mir, sie hätten mich mitgenommen.
Die Winter sind hart, hier im Norden. Oft liegt viele Monate lang Schnee, und die Brunnen frieren zu. Dann ist die Schicht der Eisblumen auf den Fenstern so dick, dass man sie nicht mehr wegwischen kann. In diesen tiefen Wintern sind wir ganz fern von allen anderen Menschen, uns selber ganz nahe.
Doch der Winter vor sieben Jahren war der härteste, den der Landstrich je erlebt hatte. Wir saßen in unseren erbärmlichen Hütten und zitterten vor Kälte, während der Wind durch das Dorf pfiff und die Schafgatter umwarf. Wenn er dann endlich einmal nachließ, stapfte das ganze Dorf durch den Schnee, um die Tiere wieder einzufangen. Meist waren sie nicht weit entfernt, zusammengekuschelt unter einem Überhang oder im Schutz der Bäume. Manchmal hatten sie auch ihren Unterstand gar nicht verlassen. Aber immer verloren wir ein, zwei Tiere. Meistens Lämmer. Doch das war normal, in Wintern wie diesem. Wir waren nur froh, dass noch niemand von uns gestorben war. So hatten wir wenigstens noch uns.
Bis zu dem Tag, als Sarah krank wurde.
Meine kleine Schwester Sarah. Damals war sie zehn Jahre alt und der einzige Mensch im Dorf, der mich liebte, so, wie ich war.
Ich gebe es zu, ich war nie ein besonders guter Schäfer. Immer, wenn ich mit der Herde auf die Weide ging, machten sich meine Gedanken irgendwann selbstständig, flogen zum Himmel auf und kreisten um alles, nur nicht um die Schafe in meiner Obhut. Oft konnte mich der Anblick eines Vogels, eines Blattes oder einer Blüte so sehr gefangen nehmen, dass ich alles um mich herum vergaß. Ich versank im Geruch von frischem Heu im Sommer und jagte Schmetterlinge im Frühjahr, nur um sie dann wieder in die Freiheit zu entlassen.
Wenn ich dann schließlich aus meinen Träumereien erwachte, war oft die Herde über die gesamte Weide verteilt und die Schäferhunde waren in den Wald verschwunden, um Rehe zu jagen.
Ich konnte die missbilligenden Blicke der anderen Dorfbewohner in meinem Rücken spüren, wenn ich wieder einmal kleinlaut von den Weiden nach Hause schlich, mit ein oder zwei Schafen weniger, als ich hinaus getrieben hatte. Immer wieder schimpfte mein Vater mich, immer wieder lag dieser verzweifelte Blick in den Augen meiner Mutter, wenn sie mich ansah.
„Feenblut“, sagte mein Vater immer wieder. „Der Junge hat zu viel des kleinen Volkes abbekommen.“ Das war kein Kompliment. Feen sind unzuverlässig und leichtsinnig. Sie denken nicht an andere, leichtfüßig treten sie die Gefühle anderer zu Boden.
Sarah war immer für mich da, wenn ich nach einer Standpauke meines Vaters in unsere kleine Kammer geschlichen kam. Sie schüttelte ihren roten Schopf, lachte, so dass die Funken aus ihren hellen Augen sprangen und griff nach meiner Hand, um mich auf ihre Bettkante zu ziehen.
„Mach dir nichts draus!“, sagte sie dann. „Komm, erzähl mir was. Oder soll ich dir etwas erzählen? Von den Werwölfen im Wald?“
„Erzähl mir vom Kleinen Volk!“, forderte ich sie meistens auf. Und dann erzählte sie. Von Connla und Deirdre, vom Schäfer von Myddvai, von Etain und von Rhiannon. Niemand konnte besser erzählen, als Sarah. Wenn sie sprach, dann wichen die Wände unserer Kammer zurück und wird standen draußen, im Wald oder bei den Hügeln, und ich sah sie vorbei ziehen, die Helden und Heldinnen, die schönen Frauen und edlen Recken, auf schneeweißen Pferden in Gewändern aus Silber und Gold. Dann verspürte ich eine wilde Sehnsucht in meinem Herzen und wünschte mir bisweilen, mein Vater habe recht mit dem Feenblut.
In jener Winternacht vor sieben Jahren jedoch, erwachte ich von Sarahs Husten. Es hörte sich an, als wolle sie nie wieder aufhören. Schon den ganzen letzten Tag hatte sie sich krank gefühlt, hatte über Halsschmerzen geklagt. Doch das hatte sie nicht davon abgehalten, mir vor dem Schlafengehen nochmals eine Geschichte zu erzählen.
Jetzt lag sie in ihrem Bett, die Augen fast geschlossen, und ich konnte sehen, wie ihre Stirn glühte. Und sie hustete, immer wieder. Ihr ganzer kleiner Körper schüttelte sich, als kämpfe sie mit unsichtbaren Dämonen. Ich setzte mich an ihr Bett und nahm ihre Hand. Sie war heiß und trocken und fühlte sich gar nicht lebendig an. Gar nicht wie etwas, das zu Sarah gehörte. Doch ich ließ sie nicht los und wich auch nicht von ihrem Bett, bis zum Morgen, während draußen der Wind fauchte.
Sarahs Husten wurde nicht besser, immer nur schlimmer. Und ihr Fieber stieg immer weiter. Ich kühlte ihre Stirn mit einem feuchten Tuch und rieb ihr eine Kräutersalbe unter die Nase. Es half nichts. Sobald es draußen hell wurde, holte Mutter die Kräuterfrau, aber die schüttelte nur traurig den Kopf.
„Ein schlimmes Fieber. Der Arzt in der Stadt könnte ein Mittel dagegen haben, aber ich kann da nichts tun. Und wer macht sich schon bei dem Schnee auf den Weg durch den Wald? Nein nein, wir können nur hoffen, dass sie es auch so schafft.“ Aber sie sah nicht so aus, als glaubte sie, was sie sagte.
Als sich der Vormittag dem Ende zuneigte, ließ Mutter den Priester kommen. Und da wusste ich, dass sie Sarah aufgegeben hatte. Meine ältere Schwester brach in Tränen aus und sogar die Augen meines Vaters waren feucht. Doch ich saß nur an Sarahs Bett, hielt ihre Hand und zitterte. Als der Priester begann, seine Gebete zu sprechen und der Geruch von Weihrauch sich in der Stube ausbreitete hielt ich es nicht mehr aus. Ich sprang auf die Füße, streifte meinen wärmsten Pullover über, darüber den Wollmantel. Ich zog drei Paar Socken übereinender und griff nach den alten Stiefeln meines Vaters, die hinter dem Kamin standen.
Meine Mutter wurde blass. „Wohin willst du?“ Sie trat zu mir und packte meinen Arm. „Was willst du tun?“
Ich schüttelte ihre Hand ab, griff nach unserer Laterne und einem Rest Öl. „Ich gehe in die Stadt, Medizin kaufen, für Sarah.“
„Nein, bitte, geh nicht. Es ist zu weit, du wirst draußen übernachten müssen, und denk an die Wölfe.“
Ich packte zwei Fackeln, Feuerstein und Zunder in eine Tasche, dazu etwas Proviant und einen kleinen Beutel mit Geld. „Ich werde aufpassen. Ich bleibe auf dem Weg. Und Sarah braucht Hilfe.“ Meine Entschlossenheit überraschte mich selber. Ich war schließlich kein Kämpfer, nur ein Träumer. Aber die Angst um Sarah gab mir Kraft. Nachdrücklich wandte ich mich meine Mutter zu. „Mir wird nichts passieren. Und Sarah wird gesund“, damit nahm ich noch den stabilen Knüppel zur Hand, den mein Vater immer zu längeren Wanderungen mitnahm.
„Bleib, ich … ich möchte nicht noch ein Kind verlieren!“
„Du wirst gar kein Kind verlieren.“ Ich drängte den Ärger darüber zurück, dass sie meine kleine Schwester schon aufgegeben hatte und trat an Sarahs Bett. Ihre Augen waren jetzt ganz geschlossen und Schweiß rann über ihre Stirn. Trotzdem beugte ich mich hinab, um ihre Wange zu küssen. „Mach’s gut Sarah, ich werde Hilfe für dich holen.“
Für einen Moment lang schienen ihre Sinne zurück zu kommen. Sie öffnete die Augen, nicht weit, aber ich glaubte, dass sie mich erkannte. „Nimm … nimm dich vor den Werwölfen in Acht!“, flüsterte sie, aber ich war mir nicht scher, ob sie mich tatsächlich warnen wollte, oder ob sie phantasierte. Mit einem Ruck drehte ich mich um und verließ das Haus.
Ich war vielleicht ein Träumer, aber ich würde für Sarah kämpfen, bis zu meinem letzten Atemzug.
Der Weg durch den Wald war tief verschneit. Oft gelang es mir nur mit Mühe, meine Füße aus dem Schnee zu ziehen und voran zu setzen. Um mich herum ragten die Bäume finster und drohend in den Winterhimmel. Unablässig fiel der Schnee, leise, unbarmherzig, ein lautloser Tod. Wenigstens der Wind hatte nachgelassen, sobald ich zwischen die Bäume getreten war. Der ganze Wald war erfüllt von einer schweren, drohenden Stille, wie ein riesiges Grab. Das einzige Geräusch war das leise Rieseln der Flocken auf den Bäumen, das Knirschen meiner Stiefel im Schnee und das Keuchen meines Atems. Es war, als sei ich ganz alleine auf der Welt.
Dann erklang das Heulen. Weit entfernt zwar, fast verschluckt vom Schnee, aber eindeutig. An- und abschwellend, ein Gesang des Hungers und des Todes. Ich fragte mich, ob es einfache Wölfe waren, die ich hörte, oder Werwölfe. Ich zog eine Fackel aus meiner Umhängetasche und schlug Feuer. Wenn es Wölfe wären, würde offenes Feuer sie abhalten. Wenn nicht, würde es sie anlocken. Doch das wollte ich in Kauf nehmen. Die Fackel versprach mir immerhin eine trügerische Sicherheit.
Weiter ging es, durch den Schnee und die schneidende Kälte. Die Wölfe waren verstummt, nur manchmal glaubte ich, ein leichtes Trappeln zwischen den Bäumen zu vernehmen, oder einen Schatten zu sehen, der durch das Unterholz huschte. Ich packte meinen Knüppel fester, richtete meinen Blick fest auf den Weg vor mir, und stapfte entschlossen weiter.
Ich weiß nicht, wie weit ich gekommen war, als die Schatten länger wurden, die Bäume dichter rückten und der Winterhimmel sich auf mich zu senken schien. Es erschien mir, als wäre ich bereits eine Ewigkeit gelaufen und hätte die Stadt schon längst erreichen müssen, doch in Wahrheit hatte ich wohl kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt. Das Gehen fiel mir schwer und es half auch nicht, dass ich alle paar Schritte stehen blieb und mich umsah. Lange schon war die Fackel erloschen und jetzt steckte ich meine Laterne an. Ich würde sicher nicht Rast halten, in diesem verwunschenen Wald. Wenn nötig würde ich drei Tage lang durchwandern.
Dann kam das Heulen wieder. Dieses Mal war es nahe bei mir, sehr nahe. So nahe, dass ich zusammenfuhr. Erschrocken hielt ich inne und sah mich um. Es war nun so dunkel geworden, dass ich außerhalb des Scheines meiner Laterne nichts mehr zu sehen vermochte, außer hastenden Schatten. Aber ich hörte sie, vernahm das Hecheln, Japsen, Kläffen, spürte ihre Gegenwart gerade außerhalb des Lichtkreises. Ich schrie, schwenkte die Laterne und drohte mit dem Knüppel. Doch die Schatten wichen dem Schein aus. Nicht weit, gerade so, dass ich sie noch immer nicht sehen konnte. Aus dem sicheren Dunkel heraus verhöhnten sie mich.
„Fort mit euch, Dämonen!“ Selbst für mich klang meine Stimme ängstlich und zittrig. „Hinweg, oder ich muss euch das Fürchten lehren!“
Dann erklang der Jagdruf. Ich hatte ihn noch nie gehört, und doch erkannte ich ihn sofort. Das freudige Japsen, Heulen, Kläffen, die Aufregung, die von der Lust nach Blut und Fleisch sprach. Ich wirbelte herum und begann, zu rennen.
Der Schnee saugte an meinen Füßen, als wolle er mich am Fortkommen hindern. Ranken und Zweige warfen sich mir entgegen, griffen beinahe spielerisch nach meinen Knöcheln, um mich zum Stolpern zu bringen. Die Dunkelheit schloss sich zusammen und tauchte den Weg in so vollkommene Schwärze, dass ich oft nicht mehr sehen konnte, wohin ich lief. Meine Laterne schwankte hektisch und war mir mehr ein Hindernis, als eine Hilfe. Und die ganze Zeit begleiteten mich die Schatten.
Ich spürte genau, wie sie mich verspotteten, aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sie leichtfüßig durch den Schnee stoben, schwerelos in der Stille. Kein Zweig knackte unter ihren Füßen, sie gaben nach diesem ersten Kampfesruf keinen Laut mehr von sich, sondern hetzten mich mit stummem Vergnügen. Doch ich wusste, dass sie da waren.
Ich war kein besonders guter Läufer. Ziemlich rasch geriet ich außer Atem. Ein Zweig stieß mir die Laterne aus der Hand. Ich strauchelte, fing mich wieder und hetzte weiter. Ich wusste, die Schatten hätten mich jederzeit spielend einholen können, doch noch waren sie nicht soweit. Sie spielten mit mir. Sie waren sich sicher, dass ich nicht entkommen konnte. Und das war ich auch. Jetzt, wo ich kein Licht mehr hatte und mehr oder weniger blind durch die Finsternis stolperte, wagten sie sich immer näher heran, schnappten nach meinen Fersen, stießen ab und zu direkt neben mir einen Kläffer aus, der mich erschrocken zusammen fahren ließ, zogen sich dann wieder zurück und ließen mich weiter stolpern.
Ich wusste nicht mehr, wo ich war, oder wo ich hinlief. Ich spürte Tränen auf meinen Wangen, gefrierend in der Kälte der Nacht. Ich weinte um Sarah, die nun auch sterben musste, wie ich. Nie wieder würde ich sie lachen sehen.
Ein dicker Baum sprang mir entgegen, ich konnte gerade noch ausweichen, stolperte über eine Ranke und fiel in den weichen Schnee. Ich stand nicht mehr auf. Ich wollte nicht mehr weiter laufen. Ich würde sterben, und es war mir gleich. Wenn nur dieses ewige Laufen ein Ende hatte. Ich vernahm das rasche Tapsen über den Schnee, dann landete etwas schwer auf meinem Rücken. Ich schrie auf, wollte es abschütteln, doch es war zu schwer. Warmer Atem schlug mir in den Nacken. Ich vergrub das Gesicht in meiner Armbeuge und wartete auf den Biss.
Ein helles Sirren zerriss die Winterluft, und das Biest auf meinem Rücken jaulte auf. Gleich darauf spürte ich, wie das Gewicht von meinem Rücken genommen wurde. Wieder ein Sirren, und noch eines. Ich spürte, wie die Schatten mich verließen. Leise, wie sie gekommen waren, zogen sie sich in den Wald zurück. Ich stemmte mich mühevoll auf meine Knie und Hände, kam taumelnd auf die Füße und blickte genau in das Gesicht der schönsten Frau, die ich je gesehen hatte.
Sie war nicht schön im eigentlichen Sinn. Nicht wie die dralle Evelyn aus dem Dorf, die mit den prallen Brüsten und dem verheißungsvollen Hüftschwung. Sie war schlank und ziemlich groß für eine Frau. Ihr langes schwarzes Haar floss ihr um Gesicht und Schultern, wie ein dunkler Schleier. Ihre Augen waren katzengrün und tief, ihre Haut so weiß wie der frische Schnee. Sie trug weiße Pelzhosen und eine weiße Jacke mit Pelzbesatz. In ihren Händen ruhte ein mannshoher Bogen aus weißem Holz. Über der Schulter trug sie einen Köcher mit rotgefiederten Pfeilen. Als sie in einer einzigen fließenden Bewegung den Bogen entspannte, wusste ich, dass sie eine des Kleinen Volkes war.
„Was tust du um diese Jahreszeit im Wald, Gefährte?“ Ihre Stimme war warm und vibrierend. Das Geheimnis der Welt schien in ihr zu liegen.
„Ich … ich wollte in die Stadt. Medizin kaufen für meine kleine Schwester. Sie ist sehr krank … sie wird sterben, wenn ihr niemand hilft.“ Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihr sofort vertraute. Vielleicht, weil sie so schön war und so kühl. Und weil ich sie liebte, in dem Augenblick, in dem mein Blick auf sie gefallen war.
Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte. Spott lag in ihrem Lachen und Unverständnis, aber ich nahm ihr das nicht übel. Ich konnte ihr gar nichts übel nehmen.
„Und du dachtest, du könntest einfach so den Wald durchqueren. Du alleine, ohne Hilfe?“
Ich schluckte. Jetzt, wo sie es sagte, kam mir das auch ziemlich unvorsichtig vor. Doch ich nickte nur betreten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Du bist mutig.“ Bildete ich mir das nur ein, oder lag da Bewunderung in ihrer Stimme? „Komm mit mir!“ Und damit nahm sie meine Hand und führte mich weiter in den Wald.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange wir gingen, nur an das angenehme Gefühl ihrer kühlen Hand in der meinen, und dass der Schnee plötzlich nicht mehr ganz so tief und der Wald nicht mehr ganz so dunkel schien. Ich weiß auch nicht, wie die anderen von uns erfahren hatten, doch während wir gingen, schlossen sie sich uns an, Männer und Frauen, in Weiß, Gold, Grün und Blau, ihre Schritte so leicht, dass sie auf dem Schnee zu wandeln schienen, ihre Stimmen in der Nacht so rein wie Glockenklang. Sie sprachen nicht mit mir, nur miteinander und bisweilen kam es mir so vor, als sprächen sie gar nicht wirklich. Vielleicht sangen sie. Oder vielleicht waren dies einfach die Geräusche, die sie beim Gehen machten? Ich wagte nicht, sie anzusehen, aus Angst, ihre Schönheit und Kälte könne mein Gesicht verzehren, meine Augen ausbrennen. Vielleicht wäre ich auch ihnen allen so verfallen, wie der Frau in Weiß, vielleicht war das ihr Geheimnis.
Plötzlich standen wir wieder am Waldrand. In der Senke unter mir sah ich das Dorf liegen, tief verschneit und verschlafen, wie ich es verlassen hatte. Nichts rührte sich zwischen den windschiefen Hütten, die mir umso trostloser vorkamen, jetzt, da ich die wahre Schönheit kannte. Die Frau in Weiß ließ meine Hand fahren und lächelte mich an.
„Gefährte, dein Mut ehrt dich. Bisher hat sich niemand im Winter durch den Wald gewagt. Kehre sicher zurück in dein Dorf, aber du darfst niemandem von uns erzählen. Dafür werden wir dir ein Geschenk machen.“ Damit wandte sie sich zu den anderen und sprach mit ihnen in dieser singenden klingenden Sprache. Ich stand einfach nur da und lauschte ihr, verzückt.
Dann begann sie zu singen und es zerriss mir das Herz. Tränen schossen mir in die Augen, als die hohen, klaren Töne die kalte Nachtluft erfüllten, hinaufstiegen zu der Wolkendecke und sie aufrissen, als sei sie ein dünnes Tuch. Nach und nach fielen die anderen in ihren Gesang ein. Nie im Leben hatte ich etwas Derartiges gehört. Die Welt lag in dem Klang ihrer Stimmen. Aller Schmerz, der je verspürt wurde, jedes Lachen der Erde, alle Schönheit, alle Kälte. Hass und Liebe. Zärtlichkeit und Grausamkeit. Sonnenaufgänge und Stürme. Leben und Tod. Ich fiel auf die Knie und weinte. Weinte, bis ich nicht mehr konnte, und selbst dann schluchzte ich haltlos weiter, bis sie endeten. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein. Eine Ewigkeit wie eine Sekunde. Nur mühsam kam ich wieder zu mir. Über mir glänzte der klare Sternenhimmel.
Die Dame in Weiß stand vor mir und lächelte auf mich hinab. „Was du gehört hast, hat noch kein Sterblicher vernommen“, sagte sie. „Dein Dorf steht nun unter unserem Schutz. Deine Schwester wird gesund werden. Nichts soll euch geschehen, so lange du am Leben bist.“
Ich kam langsam auf die Füße. Mein Hals war eng, ich wollte etwas sagen, doch ich konnte nicht. Meine Wangen waren immer noch nass vor Tränen. Die Frau lächelte, sie schien zu verstehen.
„Komm“, sprach sie, „ich werde dich nach Hause bringen.“
Die anderen blieben im Schutz der Bäume stehen, als sie mit mir über die Felder zum Dorf hinunter ging. Wieder spürte ich ihre Hand, so kühl, so weich, zart und kräftig. Sie ging bis zu der alten Linde am Rande des Friedhofes.
„Weiter werde ich dich nicht begleiten. Leb wohl, Gefährte.“
Sie hatte sich schon umgedreht und war einige Schritte gegangen, bevor es mir gelang, einen Ton hervor zu bringen.
„Warte!“ Meine Stimme glich einem Schluchzen. Ich hatte nicht gewusst, was ich für eine Sehnsucht empfinden konnte. Sie wandte sich um und lächelte. Dieses Lächeln fraß sich direkt in mein Herz.
„Sag mir deinen Namen!“, brachte ich hervor. „Bitte, sag ihn mir!“
Ihr Lachen glich einem Vogel, der in meinem Herzen flatterte. „Mein Name ist Claire.“ Damit wollte sie sich wieder umdrehen.
„Nimm mich mit!“ Es brach aus mir hervor, wie ein Hilfeschrei. „Bitte, lass mich nicht alleine. Ich gehöre zu euch. Ich bin von eurem Blut. Bitte. Ich liebe dich!“
Ihr Blick wurde weich. Sie kam wieder zu mir, mit leichten Füßen über den verharschten Schnee. Sie strich mir mit zarten weißen Fingern über die Wange, ihre Berührung war wie die einer Schneeflocke, so weich und kühl. Dann ließ sie ihre weiße Hand auf meiner Schulter ruhen.
„Du kannst nicht mit mir gehen“, hauchte sie. Ihr Atem roch nach Schnee. „Es ist nichts von uns in dir. Und Liebe. Ich weiß nicht, was das ist.“ Fassungslos starrte ich sie an. Sie lachte leise. „Nimm es nicht so schwer. Du bist ein Mensch, ich nicht. Wozu braucht ihr Liebe? Es macht euch nur das Leben schwer. Ihr solltet das Leben nicht so ernst nehmen. Und auch die Liebe nicht.“ Sie beugte sich zu mir und küsste meine Wange. Mein Herz setzte für eine Sekunde lang aus. Dann ließ sie mich los. „Trotzdem, schade. Ich hätte gerne gewusst, wie das ist, Liebe.“ Sehnsucht lag in ihrem Blick und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass ihr Unglück unendlich viel größer war, als meines. Doch dann lächelte sie wieder, berührte nochmals meine Wange, wandte sich ab und ging über den Schnee davon. Ihre Gefährten erwarteten sie, nahmen sie in die Mitte und verschwanden mit ihr im Wald. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Der schwere Winter wich von unserem Dorf und wir verloren nicht ein einziges Schaf mehr. Sarah gesundete und war bald wieder fröhlich, doch den Schmerz in meinem Herzen konnte sie nie vertreiben. Letztes Jahr hat sie geheiratet. Ich saß auf der Hochzeit in der Ecke und betrachtete sie mit verweinten Augen. Da tanzte sie und dachte, sie hätte die große Liebe gefunden. Doch alleine ich weiß, was wirklich große Liebe ist.
Ich werde nie ihre Augen vergessen, ihre Bewegungen, den Schleier ihrer Haare. Und die Sehnsucht in ihrem Blick, als sie von der Liebe sprach. In diesen Momenten wird mein schweres Herz etwas leichter und dann bin ich froh, ein Mensch zu sein und keiner von ihnen. Immerhin weiß ich, was Liebe ist.