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Claudia

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10.09.2001
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Claudia

Ich habe meine ersten Lebensjahre in einem Kinderheim verbracht. Und doch war ich kein Heimkind, denn ich lebte dort zusammen mit meinen Eltern. Als Erzieher hatten sie zwei kleine Zimmer für sich in der riesigen Wohnung, die wir mit 12 Heimkindern teilten. Diese Gemeinschaft aus Erziehern und Kindern bildete eine von 18 Gruppen in drei Häusern auf einem riesigen Gelände. Das Heim war ein ehrgeiziges Modellprojekt. Hier sollten Erzieher und Heimkinder als Familien zusammen leben. Lübke und Adenauer kamen, um sich vor den Kindern im Blitzlichtgewitter der Kameras zu präsentieren und so ihre Unterstützung für etwas zu zeigen, von dem sie vor dem Fototermin wahrscheinlich nichts gewusst hatten.

Doch das fortschrittliche Vorhaben scheiterte. Die kargen Jahre der Nachkriegszeit gingen vorbei und mit ihnen auch der Wille jeden Kompromiss zum Aufbau einer neuen Gesellschaft einzugehen. Nach und nach zogen die Erzieher aus. Kein eigenes Leben neben der Arbeit zu haben, war ein zu hoher Preis, den im aufkeimenden Wohlstand niemand mehr zu zahlen gewillt war. Die fünfziger Jahre kamen und gingen, die Sechziger brachen an und ich wurde geboren. Mit schlechtem Gewissen, aber auch unendlich erleichtert, fanden auch meine Eltern eine Wohnung fünf Minuten zu fuß vom Heim entfernt. Ich war sechs.

Claudia lebte als Heimkind in einer Nachbargruppe und war zwei Jahre älter als ich. Doch wann und wie ich sie kennen gelernt habe, kann ich nicht sagen, die Erinnerung an die Zeit im Heim ist nur noch ein Flickenteppich aus einzelnen Eindrücken, doch schien es mir, als wäre sie schon immer da gewesen.

Nachdem wir umgezogen waren, kam ich nicht mehr sehr oft ins Heim, doch wenn ich es tat, ging ich auf die andere Seite des Hausflurs; dahinter ein spiegelverkehrtes Abbild der Gruppenwohnung meiner Eltern.
Wenn ich dort auf Claudia traf, fühlte ich mich weniger als der Fremde zu dem ich geworden war. Sie begegnete mir nicht mit dem Misstrauen gegenüber dem "Erzieherkind", durch das mich die anderen Kinder von ihrer Gemeinschaft ausschlossen. Sie ließ sich auf mich ein, unbefangen und aufrichtig. Ich genoss die Zeit, die ich mit ihr zusammen verbringen konnte. Sie war eine Freundin, ohne dass ich dieses Wort jemals benötigt noch benutzt hatte, um unsere Beziehung zu benennen.

Ich kam in die Schule und das Leben wand sich und sprang hin und her und gab niemals Ruhe. Nur wenn man eine lange Nacht auf einen Zirkusbesuch warten musste oder wenn sich eine langweilige Familienfeier endlos hinzuziehen schien, existierte die Zeit, doch sonst gab es nur den Augenblick. So vergingen Monate und Jahre, sie zogen unbemerkt vorbei. Ich wurde acht.

-2-
Eines Tages lud Claudia mich ein, ein neues Spiel zu spielen, aufregender als jedes Andere zuvor.

"Komm, mein Kleiner", sagte sie, ihre Augen, schwarz und reglos, ihr Haar leuchte wie eine Kastanie, die man im Herbst frisch und rötlichbraun glänzend aus ihrer stachligen Hülle befreit. Ihr Mund lächelte, doch ihre Augen blieben ernst.

Sie nahm meinen Arm und zog mich -- keinen Widerstand erwartend -- hinaus in die flimmernde Hitze des Sommers.

Was wir taten, war für mich viel zu ernst und zu großartig um als Spiel bezeichnet zu werden. Und doch sagten wir meinen Eltern immer, wir würden spielen gehen, wenn wir uns hinter den Wohntrakten auf dem Abenteuerspielplatz in die dunkle Einsamkeit einer aus ungleichen Bretten ungelenk zusammengenagelten Hütte zurückzogen um uns zu berühren, zu küssen und um uns nie wieder loslassen zu wollen. Vor Claudia hatte ich manchmal in der Ecke eines Spielplatzes oder in einem mit Bauklötzen und Puppen übersäten Kinderzimmer einen kurzen Blick unter einen Rock erhaschen dürfen, begleitet von viel Gekicher, Verlegenheit und Flucht. Doch Claudia kicherte nicht, sie wollte berührt werden, entzog sich mir nicht und ließ mich alles machen, was ihr gefiel.

Noch Jahre später blieb ich vor jedem reifen Kornfeld stehen, das auf meinem Weg lag und lauschte dem trockenen Rascheln der schweren Ähren und sah dem Wind zu, wie er suchend durch die goldgelbe Weite strich. Lange Zeit wusste ich nicht, dass es eine verlorene Erinnerung war, die mich verweilen ließ. Ich hatte den niedergetretenen Kreis in Mitten des Feldes vergessen, ausgelegt mit Ähren; ein hartes und stacheliges Lager, in dessen Mitte Claudia und ich dem Blau des Himmels zusahen, der langsam den dunkler werdenden Rottönen des Sonnuntergangs Platz machte. Nur was ich damals gefühlt hatte, war noch da, wenn auch nur noch als schwaches Echo.

Wir sahen uns nicht oft; nach der Schule ging ich manchmal in das Heim, wenn meine Eltern sich bei der Arbeit ablösten; der eine erschöpft von einem Tag und einer Nacht voller Arbeit, der Andere angespannt und in Erwartung von 24 arbeitsreichen Stunden. Ich war froh, sie beide zusammen zu sehen, denn das kam damals nicht oft vor. Doch immer ging ich auf die andere Seite des Treppenhauses und hoffte Claudia dort anzutreffen. Oft blieb ich dann bis zum Abend mit ihr zusammen, sagte meinen Eltern, dass ich alleine nach Hause käme und eilte davon, ohne zurückzusehen.

Unsere Treffen waren für mich nicht das Wichtigste im Leben, denn als Kind bringt jeder Tage neue Eindrücke, neue Wünsche, neue Perspektiven. Nichts ist in dieser Zeit von Dauer oder so viel wichtiger, als alles andere. Doch Claudia war für mich eine Konstante, eine Selbstverständlichkeit, sie war einfach da. Ich war 'ihr Kleiner', und der Gedanke, dass sich daran etwas ändern könnte, kam mir nie.

Und doch geschah es. Aus den geraden Linien ihres kindlichen Körpers wurden jene geschwungenen Bögen, die die Blicke der Männer anzogen, auch wenn sie sich meist irritiert und beschämt abwandten, wenn erkannten, dass in dem Körper der Frau , den sie da anstarrten, noch ein Kind steckte.

Sie war nicht gewillt, mich an der Veränderung ihres Körpers Teil haben zu lassen. Selbst erstaunt und verwirrt über ihre Reifung zur Frau, veränderte sich auch ihr Verhalten. Sie entwickelte eine Scham, die ich an ihr nicht kannte, die ich nicht begriff und die ich nicht akzeptieren konnte. Nachdem ich das erste Mal die zarte Wölbung ihrer Brust bemerkte, die nicht mehr war, als eine Andeutung, ein Versprechen für die Zukunft, entzog sie sich mir, und ich habe sie danach nie wieder berühren dürfen.

Ich kam weiter zu ihr, in der Hoffnung, es gebe einen Weg zurück zu den Tagen unserer Kindheit.

"Hallo Kleiner", begrüßte sie mich nun meist, doch nicht nur das 'mein' war verschwunden, auch das 'Kleiner' bedeutete nun das, wofür es eigentlich stand. Früher hatte sie dieses Wort zärtlich und warm ausgesprochen, war es eine Brücke, die verband, was uns an Jahren trennte. Doch jetzt, kalt und gefühllos hingeworfen, ließ es mich allein und verletzt vor einem unüberwindlichen Abgrund zurück.

Bei jedem Treffen wurden ihre Worte und ihre Augen kälter. Aus anfänglichem Unbehagen wurde Ärger, schließlich Wut, weil ich nicht abließ von ihr, sie bloßstellte vor den anderen Kindern. Ich war für sie nur noch eine Erinnerung aus längst vergangenen Tagen.

Schließlich fügte ich mich. Ich tat es weder aus Einsicht noch aus Stolz. Ich ließ mich einfach wieder auf mein Leben ein und gab mich der rauschhaften Schnelligkeit hin, mit der es mich, als nunmehr zehnjährigen, in unerwarteten Wendungen, an neue, unbekannte Orte trug. Ich vergaß Claudia nicht, doch bestand auch nicht die Notwendigkeit, an sie zu denken.

Sie und das, was wir getan hatten, war ein Teil von mir geworden. Sie war aus meinem Leben verschwunden, doch blieb Vieles in mir zurück.

So hätte es auch bleiben sollen und doch es kam anders, denn Claudia kehrte in mein Leben zurück und beging ein Verbrechen, das alles veränderte.


-3-

Eines Tages, nach der Schule, betrat ich das Treppenhaus aus einfachen Steinfliesen und einem Handlauf aus unverwüstlichem Plastik, das dem Ansturm von Hunderten von Kindern stand gehalten hatte und noch viele Jahre und weiteren Hunderten Kindern stand halten würde. Ich kam, um meinen Vater von der Arbeit abzuholen. Meine Mutter arbeitete zu dieser Zeit nicht, so gab es keine Wachablösungen mehr.

Ich dachte nicht an das Mädchen, das mich verraten hatte, doch wie immer wurden meine Schritte schneller, als ich die Tür, hinter der sie lebte, erreicht hatte. In der Gruppenwohnung angekommen, lag der lange Flur dunkel und leer vor mir, das Linoleum roch frisch gewachst. Kein Kind war zu sehen, es war Mittagsruhe. Die erste Tür auf der rechten Seite war das Erzieherzimmer. Ich betrat es ohne zu zögern, was nur mir gestattet war. Kein Heimkind durfte es ohne Aufforderung und ohne guten Grund betreten. Ich genoss dieses Privileg und ging am Liebsten hinein, wenn andere Kinder da waren, die bemerken konnten, dass ich es tat.

Claudia saß auf einem Stuhl neben meinem Vater, der Quittungen aufklebte und abheftete. Der 'Papierkram', wie es mein Vater abfällig nannte, war eine unangenehme Tätigkeit, die leider zum Alltag eines Erziehers gehört. Die Mittagsruhe war die geeignete Zeit, sie zu erledigen. Er sah kurz auf, begrüßte mich und arbeitete weiter, als wäre nichts. Ich blieb mitten im Zimmer stehen, unfähig zu reagieren. Ich hörte sogar auf zu atmen, bis mein Körper sein Recht auf frischen Sauerstoff einforderte und ich die Luft scharf einsog. Die gefüllte Lunge war bereit Empörung hinauszuschreien, Fragen und Anwürfe zu formulieren, wäre da auch nur ein Wort in meinem Kopf gewesen, das den Weg auf meine Lippen gefunden hätte.
Claudia stand auf, kam auf mich zu, lächelte, ging an mir vorbei und verließ wortlos das Zimmer. Mein Vater arbeitete weiter, blickte nicht einmal auf, als sie ging, als wäre sie nur ein Geist gewesen, den nur ich hatte sehen können. Warum gab es keine Worte des Abschieds, warum fühlte ich diese Vertrautheit zwischen ihr und meinem Vater? Es war, als gäbe es ein stummes Einvernehmen, eine Übereinkunft, die keiner Worte bedurfte.

Was schockierte mich mehr, Claudias Verhalten oder das meines Vaters? Ich war wie betäubt und blieb es den Tag über. Mein Vater, leise und freundlich wie immer, schien meine Wortkargheit nicht zu bemerken. Mir wurde klar, dass ich mit ihm nie ein persönliches Wort gewechselt hatte. Zwischen uns gab es keine Vertrautheit, keine Vater-Sohn-Gespräche. Und es war auch nicht die Zeit damit zu beginnen. Und sie würde auch bis zu seinem Tod, dreißig Jahre später, nicht mehr kommen.

Ich hoffte, dass es ein einmaliges Erlebnis gewesen war, ein zufälliges Zusammentreffen, in das ich nur hineininterpretiert hatte, was mein verletzter Stolz mir leise zugeflüsterte. Doch meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Schon beim nächsten Besuch im Heim saß sie wieder dort, und das Schauspiel wiederholte sich: Meine Wortlosigkeit, die meines Vaters, ihr kaltes Lächeln und der stumme Abgang. Und es geschah wieder und wieder. Was mochten die beiden tun, bevor ich kam? Redeten sie miteinander? Wenn ich das Zimmer betrat, spürte ich die Vertrautheit der beiden, sah das Recht auf Anwesenheit in ihren kalten Augen. Sie schien, obwohl sie nur regungslos neben meinen Vater saß, ihm so unendlich viel näher zu sein, als es mir je vergönnt gewesen war.

Ich beschloss Claudia zu hassen. Erst hatte sie mir ihre Zuneigung entzogen, dann nahm sie mir den Vater.

Es war eine kindliche wenn nicht gar kindische Reaktion. Doch ich war zehn und hatte jedes Recht so zu fühlen. Ich nannte sie insgeheim meine Feindin, redete schlecht über sie, spann undurchdachte und unwirksame Intrigen. Ich steigerte mich in meinen Hass hinein, nutzte jede Gelegenheit, sie anzuschwärzen, doch niemanden schien zu interessieren, was ich zu sagen hatte. Ich war verzweifelt und versuchte wieder zu mir zu kommen, von ihr abzulassen. Sie saß doch nur neben meinem Vater, das hatte doch nichts zu bedeuten.

Doch war das wirklich so? Saß sie dort wirklich nur, zwölf Jahre alt und so wunderschön, neben meinem Vater, der Berichte schrieb, oder Taschengeldlisten durchging? Wie erklärte sich sein Schweigen? Nie redete er über sie, erwähnte nicht einmal ihren Namen. Als ich ihm erzählte, ich hätte sie in der Mittagsruhe das Heimgelände verlassen sehen -- was frei erfunden war --, sah er mich nur an und schien wiederum keine Worte zu finden, um auf meine Lüge zu reagieren. Woher kam diese Sprachlosigkeit? Wieso leugnete er die Existenz des Mädchens, das doch andauernd in seiner Nähe zu finden war? Damals wagte ich nicht, diese Gedanken zu Ende zu denken, und auch heute noch kann ich den schrecklichen Verdacht nicht aussprechen. Mein Vater ist tot und niemand hätte etwas davon, wenn ich in der Vergangenheit wühlte und etwas zu Tage fördern würde, das niemand wissen will.

Doch auch was dann geschah, ist rückblickend ein Puzzelteilchen, das ich bis heute nicht in das Gesamtbild einzufügen wage: Claudia verschwand. Sie wurde in ein anderes Heim versetzt, ein ungewöhnlicher Vorgang, der ohne guten Grund niemals vorkam. Hatte schon zuvor niemand über sie reden wollen, war das Schweigen danach vollkommen. Es war, als hätte sie nie existiert.

-4-
Das Leben ging weiter, ich vergaß Claudia, doch nicht, was sie mir angetan hatte. Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr hatte ich es nicht mehr gewagt, mich auf ein Mädchen einzulassen. Wann immer mich eines mit Blicken oder Worten einlud sich ihr zu nähern, zog ich mich zurück, voller Angst vor möglicher Enttäuschung, sicheren Verrat vorausahnend.

Dann traf ich meine spätere Frau. Sie war ein Mensch, der im Mittelpunkt stehen wollte, und das auch mit Selbstverständlichkeit tat. Sie war älter als ich, sie schien so erfahren und selbstsicher zu sein und riss mich ? ohne Widerspruch zu dulden ? an sich. Sie ignorierte meinen Widerstand, meine Vorbehalte und Ängste.

Es schien, als würde ihre Energie, ihre pure Lebenslust für uns beide reichen und so ließ ich mich gerne von ihr mitreißen, badete in ihrem Glanz, staunte über das unerwartete Glück, von ihr erwählt worden zu sein. Sie musste die Richtige sein. Meine Freunde verrieten mich aus Eifersucht, meine Eltern waren bezaubert von ihr, ihre Mutter akzeptierte mich schon nach der ersten Begegnung.

Wir zogen nach der Schule zusammen, studierten und heirateten schließlich.
Viele gute Jahre vergingen, Jahre in denen wir nicht bemerkten, dass wir nicht füreinander bestimmt waren, dass es nicht reicht, wenn alle mit unserer Beziehung zufrieden waren, alle, nur wir selbst nicht.

Auf einem Geburtstag meines Vater kehrte die Erinnerung an Claudia zurück. Es waren immer einige ehemalige Heimkinder da, die Wenigen, zu denen der Kontakt nach ihrer Zeit im Heim nicht abgerissen war, die in meinen Eltern mehr sahen, als nur ihre Erzieher.

Wie immer plauderten wir schon nach wenigen Minuten über alte Zeiten, waren sie doch das einzige, was uns, fremd geworden über die Jahre, noch verband. Ich folgte nur mäßig interessiert dem Gespräch über gemeinsame Reisen, längst vergessene Gefährten und immer wiederholte Anekdoten aus der Zeit im Heim. Ich war nie ein vollwertiges Mitglied dieser verschworenen Gemeinschaft gewesen, so war der Teil, den ich hätte beitragen können, gering.

Doch dann fiel der Name, den ich längst vergessen hatte, und ich merkte auf.
Die 'Ehemaligen' wussten viel über einander, auch wenn sie auseinander gegangen waren, in andere Heime versetzt wurden, nach Hause zurückkehrten, oder einfach erwachsen geworden waren und nun ihr eigenes Leben führten. Irgendwer kannte immer noch jemand Anderen, der wieder einen Anderen kannte, und so gab es ein Netzwerk aus Informationen, das alles zusammenhielt.

So erfuhr ich, was aus Claudia geworden war: Sie hatte es nach ihrer Zeit im Heim nicht geschafft, in der Gesellschaft fuß zu fassen. Ein Schicksal, das sie mit den meisten anderen Heimkindern teilte. Sie hatte die falschen Leute kennen gelernt, war drogenabhängig geworden und musste sich prostituieren. Ich hörte den Anderen zu, beteiligte mich nicht am Gespräch und sog doch jede Einzelheit in mich auf.

Ich fühlte in mich hinein und versuchte mir klar zu machen, was ich empfand. Es war Genugtuung. Ich schämte mich dieses Gefühls nicht, was auch unmöglich gewesen wäre, denn man kann nicht Genugtuung und gleichzeitig Scham empfinden.

Sie war gescheitert. Meine 'Feindin' hatte bezahlt für das an mir begangene Verbrechen, das möglicherweise nur in meiner Vorstellung existierte.

-5-

Erst starb meine Ehe, dann mein Vater. So kurz kann man das lange Siechtum, sowohl meiner Ehe, als auch das meines Vaters zusammen fassen. Ich bin noch nicht soweit, diese Zeit gebührend beschreiben zu können und vielleicht werde ich es nie sein.

Auf der Beerdigung kamen wir alle ein letztes Mal zusammen. Wir, die wir uns sonst auf dem Geburtstag meines Vaters gesehen hatten. Wahrscheinlich hätte niemand Claudia an diesem Tag erwähnt, so war ich es, der nach ihr fragte. Sie kam mir einfach in den Sinn, so redete ich mir ein, doch das ist nicht wahr. Der Tod meines Vaters brachte viele Erinnerungen zurück. Ich dachte in dieser Zeit viel über ihn nach, und so kehrte auch Claudia in meine Gedanken zurück.
Doch ich dachte nicht daran, wie sie mich zurückgewiesen hatte, nicht daran, wie sie auf dem Stuhl neben meinen Vater gesessen hatte. Ich sah sie, wie sie meinen Arm fest und doch zärtlich umfasste und die Worte sagte, die ich Unfasslicherweise so lange Zeit vergessen hatte: "Komm, mein Kleiner". Ich sah uns durch den kaputten Zaun klettern, um für uns einen Platz in den Feldern hinter dem Heim zu suchen, weit weg von den anderen Kindern.

Ich hoffte ihr Schicksal hätte einen anderen Weg genommen, sie an einen besseren Ort geführt, sah sie in Gedanken in einem großen Haus -- eins ihrer Kinder auf dem Arm -- ungeduldig auf die Rückkehr ihres geliebten Mannes wartend.

Doch ich erfuhr, das sie gestorben war, schon Jahre zuvor. Das Schicksal war ungnädig mit ihr geblieben, es hatte sie an Aids sterben lassen.

Als ich von der Beerdigung nach Hause kam, weinte ich um sie. Ich hätte es vielleicht nicht getan, wäre damals nicht ohnehin die Zeit für Tränen gewesen, doch allein in meiner leeren Wohnung, gab es keinen Grund sie zurückzuhalten.

Ich dachte an jenen Abend im Kornfeld zurück, als Claudia und ich Arm in Arm auf dem Rücken liegend, die ersten Sterne im dunkler werdenden Abendhimmel suchten.
"Glaubst du, dass man da oben hinkommt, wenn man stirbt?", fragte sie, ohne mich anzusehen.
Ich war entspannt und verschlafen, fühlte ihren warmen Körper neben mir. Statt zu antworten, schloss ich sie nur noch fester in den Arm. Über den Tod wollte und konnte ich als Zehnjähriger nicht reden. Da die Zeit damals nur aus Augenblicken bestand, existierte so etwas wie der Tod nicht.

Über all die Jahre bin ich ihr die Antwort schuldig geblieben, erst jetzt kann ich sie geben:
"Ich hoffe es, Claudia. Ich wünsche es mir so sehr für dich".

 
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Hallo, lerato,

gibt’s Dich noch unter KG.de? Nach Deinem Profil war deine letzte Aktivität im März d. J. Wenn’s Dich hier noch geben sollte, so will ich mich an Deinem Text „versuchen“ und ihn so etwas wie „auferstehen“ lassen. Aber zuvor muss ich eine lange Einleitung loslassen:

Ich begreif’s nicht: seit dem 22. Mai 2002 (!), - das sind, wenn ich noch einigermaßen rechnen kann, 1.775 Tage, also seit mehr als fünf Jahren wartet dieser Text darauf, besprochen zu werden, gleich in welcher Weise, doch Hauptsache überhaupt erstmal besprochen. Denn durchs (vielleicht bewusste) Ignorieren degradiert man den Verfasser des Textes zum Hund, der nicht gehorsam gewesen ist, oder durchs (vielleicht unbewusste) Übersehen, was ja durchaus vorkommen kann, wirft man ihn ins Archiv, doch in Wirklichkeit ins Verlies, indem man den Verfasser allein lässt mit seinem Text, indem man ihn „verließ“. Text und Verfasser werden zur Karteileiche.

Von diesen Vorwürfen bin ich sicherlich auch nicht freizusprechen und
so will ich Mal:

Auf gerade einmal fünf Seiten wird ruhig und in schlichten Worten die Geschichte einer lebenslangen Beziehung erzählt. Dabei enthält sich der Schreiber jeglicher Ironie und sucht auch nicht unbedingt sprachliche Originalität. Ungewöhnliches findet sich im geschilderten Geschehen.

Ohne selber „Heimkind“ zu sein verbrachte der Ich-Erzähler die ersten Jahre des Lebens im Kinderheim, in dem seine Eltern als Erzieher tätig waren und auch eine Wohnung hatten. Die Eltern fanden eine neue Wohnung außerhalb des Heimes, da war der Junge sechs. Eine denkwürdige Beziehung zu einem zwei Jahre älteren Mädchen aus dem Heim wird aber zeitlebens bestehen bleiben. Doch das Wort „Freundschaft“ wird nie zwischen dem Paar fallen, denn die Beziehung zwischen dem Erzähler und der Titelheldin kühlte ab, seitdem das Mädchen erste frauliche Formen angenommen hat.
Jahre später, der Erzähler will seinen Vater von der Arbeit abholen, - die ist immer noch in dem Heim, - sitzt das junge Mädchen im Büro des Vaters. Obwohl die Titelheldin den Raum verlässt, hat der Erzähler kein gutes Gefühl bis hin zum Hass. Was will oder was tut sie hier? Oder was will oder tut der Vater mit ihr?
Aber Vater und Sohn sprechen nicht darüber, werden nie darüber sprechen, denn die Szene wiederholt sich, bis Claudia in ein anderes Heim kommt.
Die spätere Frau des Erzählers ist auch etwas älter als er. Sie will immer im Mittelpunkt stehen und, - weil er auch darauf eingeht, - wird so sein Leben beherrschen. Die Beziehung ist gestört, so sehr auch der Schein nach Außen gewahrt bleibt. Die Ehe scheitert.
Dann stirbt der Vater und auf der Beerdigung erfährt der Erzähler, dass Claudia auch gestorben ist. Durch ehemalige Heimbewohner hatte er gewusst, dass die Titelheldin an die falschen Leute und in den Sumpf geraten war. Damals empfand der Erzähler Genugtuung, dass Claudia, seiner erste (kindliche) Liebe im Leben scheiterte… Aber die Kindheit holt ihn ein.

Die Beziehung zwischen dem Vater des Ich-Erzählers und der Titelheldin bleibt bis zuletzt offen und ein Geheimnis. Und das lässt Raum zur Interpretation.

Am Text selber sind mir nur wenige zu korrigierende Stellen aufgefallen:

„Die kargen Jahre der Nachkriegszeit gingen vorbei und mit ihnen auch der Wille KOMMA jeden Kompromiss zum Aufbau einer neuen Gesellschaft einzugehen.“

„Doch immer ging ich auf die andere Seite des Treppenhauses und hoffte KOMMA Claudia dort anzutreffen.“

„…beschämt abwandten, wenn erkannten, dass in dem Körper …“ zwischen „wenn“ und „erkannten“ fehlt wahrscheinlich ein „sie“.

„… ihr Haar leuchte wie eine Kastanie, …“ leuchtete

„ …und riss mich ? ohne Widerspruch zu dulden ? an sich.“ Was ist mit den Fragezeichen?

Schaun wir mal, was draus wird!

FRD

 

Wenn auch spät, von meiner Seite ein riesen Lob.
Die Darstellung des Kindes,wie es altersgerecht und Fragen stellt, die unbeantwortet bleiben, weil das Hintergrundwissen fehlt- sehr gelungen.
Sehr schön kommt auch der Wandel zum Erwachsenen rüber! Wie sehr der Tod im Endeffekt verbindet und alte Wunden aufreißt, hat mir sehr gut gefallen, ebenso wie die Beschreibung der "Beziehung" zwischen dem Vater und Claudia. Ohne etwas direkt auszusprechen, die Atmosphäre prima getroffen!

 

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